Zu „locker“ oder zu „streng“?

Wie Christen miteinander umgehen sollen, wenn sie anderer Meinung sind

Artikel von Emil Grundmann
5. April 2024
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Wenn du das Gespräch beim Kaffee nach dem Gottesdienst etwas anregen willst, schlage ich vor, folgende Themen anzusprechen: Alkohol, Filme und Popmusik, Sonntagsheiligung, Harry Potter, Homöopathie, Make-up und Kleidung, Halloween und Tattoos. Um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, darfst du auf keinen Fall Politik und Corona vergessen. Ich rate dir, dabei einen starken Kaffee zu trinken. Dieser sollte selbstverständlich fair gehandelt sein, denn auch das ist ein spannendes Gesprächsthema. Ich bin sicher, dass ein solches Gespräch selbst in einer noch so heterogenen Gemeinde zu Streit oder zumindest Unverständnis führt. Deswegen warne ich explizit davor, meinen scherzhaften Vorschlag auszuprobieren. Selbst ohne solch ein Gespräch zu erzwingen, kommen ganz von selbst Themen auf, bei denen wir andere Christen gedanklich in die Schublade „zu streng“ oder „zu locker“ stecken (oder sie dasselbe mit uns machen). Doch wie können Christen besser miteinander umgehen, wenn das Gewissen des einen ihm die Freiheit für eine bestimmte Entscheidung gibt, und das Gewissen des anderen ihm diese Freiheit nimmt?

Genau diese Frage beantwortet Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom in Kapitel 14,1–15,13. Da wir nicht detailliert auf alle Verse eingehen können, empfehle ich, zunächst den Bibelabschnitt zu lesen, bevor du den Artikel weiterliest. Wir möchten vier praktische Prinzipien daraus ableiten, die uns helfen, mit Christen umzugehen, die andere Ansichten als wir selbst haben.[1]

1. Denk daran, dass nicht alle Meinungsverschiedenheiten gleich wichtig sind

In einer multikulturellen Großstadt wie Rom kamen Menschen mit ganz unterschiedlicher Prägung zusammen. Was sie verband, war der gemeinsame Glaube an Jesus, doch das bedeutete nicht, dass sie automatisch bei allen Themen einer Meinung waren. Ganz im Gegenteil: Die „Schwachen“, wie Paulus sie nennt, hatten ein enges Gewissen, das stark von jüdischen Traditionen geprägt war. Die „Starken“ genossen hingegen mehr Freiheiten und waren hauptsächlich Nichtjuden. Die Christen mit einem schwachen Gewissen meinten, man solle als guter Christ bestimmtes Fleisch nicht verzehren (vgl. Röm 14,2), gewisse Feiertage halten (vgl. Vers 5) und keinen Wein trinken (vgl. Verse 17.21). Ihr enges Gewissen rührte von einer Betonung der alttestamentlichen Reinheitsgebote her.

Für viele Menschen wäre eine solche Meinungsverschiedenheit Anlass genug, um in eine hitzige Diskussion einzusteigen, doch bei Paulus war das nicht der Fall. Er betont, dass es sich nicht lohnt, über Meinungen zu streiten (vgl. Vers 1). Das klingt gar nicht nach Paulus, der sich wie kein Zweiter für klare Theologie einsetzte. Doch er hält den Meinungsunterschied hier für nicht entscheidend, da er eine Frage des Gewissens ist. Bei ethischen Fragen (wie in diesem Abschnitt) ist es von Nutzen, drei Stufen zu unterscheiden: 1. Gebot, 2. Weisheitsfrage und 3. Gewissensfrage. Wenn die Bibel uns zu einem Thema ein sehr klares Gebot gibt, sollten wir andere damit konfrontieren. Wenn es eine Frage der Weisheit ist, dann dürfen wir in Liebe beraten. Bei Gewissensfragen sollten wir jedoch vorsichtig sein. In der Praxis ist es oft schwer, zweit- von drittrangigen Fragen zu unterscheiden, doch wenn Meinungsunterschiede aufkommen, sollten wir uns zunächst die Frage stellen: Wie wichtig ist das Thema? Im Fall von drittrangigen Fragen sollten wir dann Folgendes tun:

2. Nimm den Andersdenkenden an, weil Jesus ihn angenommen hat

Das ist die Hauptaussage von Paulus. Er beginnt den Abschnitt mit: „Nehmt den Schwachen im Glauben an“ (Röm 14,1) und wenige Zeilen darunter in Vers 3 folgt die Begründung, „denn Gott hat ihn angenommen.“ In Römer 15,7 umrahmt er den gesamten Abschnitt mit demselben Befehl, der zugleich eine Schlussfolgerung für den gesamten Römerbrief ist: „Darum nehmt einander an, gleichwie auch Christus uns angenommen hat.“ In der Gemeinde kommen Menschen mit ganz unterschiedlich geprägtem Gewissen zusammen – in Rom insbesondere Juden und Heiden – und man muss lernen, den Andersdenkenden anzunehmen. Was gibt uns die Motivation dazu? Wenn Gott meinen Bruder und meine Schwester mit offen Armen angenommen hat, wie kann ich dann Gedanken der Ablehnung ihnen gegenüber haben?

„Wenn Gott meinen Bruder und meine Schwester mit offen Armen angenommen hat, wie kann ich dann Gedanken der Ablehnung ihnen gegenüber haben?“
 

Paulus ergänzt, „ohne über Gewissensfragen zu streiten“ (Röm 14,1). Es ist, als ob Paulus folgenden Einwand erahnt: „Ich nehme ihn ja auf, wenn er bereit ist, seine Ansicht zu ändern.“ Unter Christen wird es immer unterschiedliche Ansichten geben. Gerade deswegen ist es so wichtig, dass wir Jesu Beispiel folgen (vgl. Röm 15,5.7) und nicht vergessen, wie Christus mit uns selbst umgeht. Wie kann diese Annahme praktisch aussehen?

3. Verurteile und verachte ihn nicht, weil er zu Gottes Ehre lebt

Es gibt zwei zerstörerische Tendenzen im Umgang mit unterschiedlichen Ansichten, vor denen Paulus warnt: „Wer isst, verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, richte den nicht, der isst“ (Röm 14,3). Die Person, die das Fleisch und den Wein genoss, schaute verächtlich herab auf den Schwachen. Dieser wiederum reagierte mit Verurteilung: „So jemand nennt sich Christ!“ Jeder von uns kennt diese Tendenzen. Vielleicht tendierst du mehr zum einen oder anderen dieser Extreme, aber wahrscheinlich hast du dich schon ertappt, wie du jemanden als „zu streng“ verachtet und einen anderen als „zu locker“ verurteilt hast.

„Paulus ermutigt uns dazu, Andersdenkenden einen Vertrauensvorschuss zu geben und nicht gleich das Schlimmste zu unterstellen. Geh davon aus, dass der andere, genau wie du, zu Gottes Ehre leben will.“
 

Während meines Studiums in den USA habe ich beide Tendenzen in meinem eigenen Herzen beobachtet. Das absolute Alkoholverbot kam mir engstirnig vor, doch zugleich musste ich mich vor verurteilenden Gedanken hüten, als es für Christen weitgehend normal war, Halloween zu feiern. Unser Gewissen wird immer entweder strenger oder lockerer im Vergleich zu einer anderen Person sein, deswegen müssen wir unseren Mitchristen viel Großzügigkeit entgegenbringen:

„Wer auf den Tag achtet, der achtet darauf für den Herrn, und wer nicht auf den Tag achtet, der achtet nicht darauf für den Herrn. Wer isst, der isst für den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der enthält sich der Speise für den Herrn und dankt Gott auch. Denn keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst.“ (Röm 14,6–7)

Paulus ermutigt uns dazu, Andersdenkenden einen Vertrauensvorschuss zu geben und nicht gleich das Schlimmste zu unterstellen. Geh davon aus, dass der andere, genau wie du, zu Gottes Ehre leben will. Wie kannst du ihm dabei helfen?

4. Strebe danach, ihn im Glauben zu fördern und nicht von deiner Ansicht zu überzeugen

Zu schnell denken wir, dass unser Hauptziel sein sollte, den anderen von der Wahrheit zu überzeugen. Paulus zeigt starke Überzeugungen zu den Streitpunkten in der Gemeinde. Er macht kein Geheimnis daraus, dass er sich zu den Starken zählt (vgl. Röm 15,1) und damit die Freiheit genießt, das (wahrscheinlich) nicht koschere Fleisch zu essen, Wein zu trinken und die Feiertage nicht einzuhalten. Meine persönliche Tendenz wäre in so einem Fall, dem Andersdenkenden mit der Bibel zu beweisen, dass er in Jesus die Freiheit hat, all diese Dinge zu tun. Vielleicht würde ich am Ende die Diskussion sogar gewinnen, doch Paulus formuliert ein ganz anderes Ziel im Umgang mit dem Andersdenkenden: „So lasst uns nun nach dem streben, was zum Frieden und zur gegenseitigen Erbauung dient. Zerstöre nicht wegen einer Speise das Werk Gottes!“ (Röm 14,19–20).

„Die Leitfrage ist nicht länger: Wie kann ich meine Freiheit noch mehr genießen?, sondern: Wie kann ich den Glauben meines Nächsten fördern? Was hilft ihm jetzt gerade?“
 

Womöglich könnte es dem Andersdenkenden schaden, wenn er mit meiner Freiheit überfordert wird und ich ihm aufzwinge, gegen sein Gewissen zu handeln. In der Praxis ist es nicht so leicht, sensibel damit umzugehen, da Paulus uns hier nicht auffordert, unsere Freiheit heuchlerisch zu verstecken, frei nach dem Motto: „Jedes Mal wenn Familie Müller kommt, verstecke ich den Alkohol und den Fernseher im Keller.“ Doch sicherlich bedeutet es, seinen eigenen Komfort nicht an erste Stelle zu setzen, sondern das Wohl meines Bruders und meiner Schwester. Die Leitfrage ist nicht länger: Wie kann ich meine Freiheit noch mehr genießen?, sondern: Wie kann ich den Glauben meines Nächsten fördern? Was hilft ihm jetzt gerade? Ich gehe sensibel mit dem Gewissen des anderen um, wenngleich ich von der Schrift klar überzeugt bin, dass ich die Freiheit zu etwas habe. Vielleicht kommen die schwierigen Themen dann auch mal ins Gespräch und möglicherweise verändert sich das Gewissen auch mit der Zeit, doch vergiss nicht, was dein primäres Ziel ist: Du willst den Glauben des Anderen fördern und nicht sein Gewissen dehnen!


1 Ganz sicher gibt es noch viele andere Prinzipien, die sich ableiten lassen. Wegen der Kürze des Artikels muss ich mich auf einige Wesentliche beschränken. Andrew Naselli nennt in seinem hilfreichen Buch Das Gewissen (S. 102–124) insgesamt zwölf Prinzipien.