Worum es eigentlich in Römer 7 geht

Vom Wesen des Gesetzes und des Menschen

Artikel von Will Timmins
7. Juli 2018 — 10 Min Lesedauer

Vor einigen Jahren führte eine britische Zeitung eine Umfrage unter berühmten Autoren durch. Ihre Frage lautete: „Was stimmt nicht mit der Welt?“ Der Schriftsteller G. K. Chesterton antwortete:

                Sehr geehrte Damen und Herren,

                Das bin ich.

                Liebe Grüße, G. K. Chesterton

In Römer 7 macht Paulus etwas Ähnliches. Er nimmt die Anschuldigung vorweg, dass er Gottes heiliges Gesetz herabwürdigt (Verse 7 und 12), indem er sagt, dass Christen „dem Gesetz getötet worden sind“ (Vers 4) und Gott nicht mehr „im alten Wesen des Buchstabens dienen“ (Vers 6). In der Tat antwortet der Apostel wie folgt: „Willst du wissen, was das Problem ist? Es ist nicht meine Sicht auf das Gesetz. Diese ist tadellos. Es liegt an mir. Ich bin das Problem. Meine Lehre über das Gesetz spiegelt nicht wider, wie das Gesetz ist. Das Gesetz ist ein Spiegelbild dessen, wie  ich bin“.

Paulus' doppelte Absicht

Wieso ist Römer 7 so schwer zu verstehen? Wieso wird so viel darüber debattiert? Wieso scheint die Beweislast in unterschiedliche Richtungen zu drücken? Weil Paulus zwei Absichten in dieser Bibelstelle verfolgt.

Das Leben eines fruchtbaren Gehorsams gegenüber Gott, so erklärt er, kann nur entstehen, wenn wir für unseren alten Ehemann, das Gesetz, sterben, den ehemals über uns drohenden Herrscher, und indem wir einen neuen Ehemann, den Herrn Jesus Christus, heiraten (Verse 1-4). Das Gesetz dient nur dazu unsere Sünde aufzudecken und anzuregen (Verse 7-13). Obwohl das Gesetz „geistlich“ ist (Vers 14) – weil es göttlichen Ursprung und Wesen hat – sind wir „fleischlich“ (Vers 14), von Natur aus unfähig, das gute Gesetz Gottes zu halten. Deshalb muss Gott in Christus den externen niedergeschriebenen Kodex – das Gesetzbuch – aus unseren Händen nehmen und durch seinen Geist in unsere Herzen legen. Dieser Geist befähigt die Kraftlosen dazu, ein fruchtbares Leben der Liebe zu führen, auf welches das Gesetz verweist (Verse 5-6).

Das ist der Hauptpunkt von Paulus in Römer 7. Er will gleichzeitig 1.) sich gegen die falsche Vorstellung wehren, dass er das Gesetz Gottes ablehnt und absetzt und 2.) den Gläubigen in Rom helfen zu erkennen, dass sie dem Wesen nach fleischlich sind und deshalb Gott nicht erfolgreich „im alten Wesen des Buchstabens dienen“ können (Vers 6). Aber sich selbst zu verteidigen, während man mit dem Finger auf andere zeigt, endet selten gut (siehe Römer 2!), deshalb verteidigt sich Paulus, indem er mit dem Finger auf sich selbst zeigt.

Paulus verteidigt sich gegen eine falsche Anschuldigung und bekennt gleichzeitig seine absolute Unfähigkeit, dem Gesetz Gottes zu gehorchen. Das erklärt größtenteils, warum Römer 7 eine Mischung aus positiven und negativen Aussagen ist.

Das Element der Selbstverteidigung setzt sich auch in den Versen 14-25 fort. Nimm zum Beispiel Vers 22, wo Paulus ein Verb gebraucht, das nirgendwo sonst im biblischen Griechisch auftaucht (synedomai). Unsere erste Frage sollte nicht sein: „Ist dies die Erfahrung eines Christen oder eines Nichtchristen", sondern "Wieso dieses Verb in diesem Kontext?“ Es ergibt Sinn, wenn wir verstehen, dass Paulus sich hier selbst verteidigt (wie auch in den Versen 7, 11, 14, 16), da es ein Verb war, um eine starke gemeinsame Perspektive mit einer anderen Person auszudrücken: „Denn ich habe Lust an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen“. Diese Formulierung personifiziert das Gesetz Gottes als jemanden, mit dem Paulus völlig übereinstimmt. Das Gesetz ist schließlich die persönliche Stimme Gottes (Vers 7). Paulus sagt: „Ich wende mich nicht gegen das Gesetz. Ich stimme dem Gesetz vollkommen und gern zu“.

Zwei Schlüssel, um Vers 14 zu verstehen

Die Verse 14-25 stehen unter dem Banner von Vers 14: „Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft“. Paulus bekennt, wie er intrinsisch beschaffen ist, im Gegensatz zu dem, wie das Gesetz intrinsisch beschaffen ist.

Es gibt zwei Punkte, die man beachten sollte, um den Vers zu erschließen. Der erste Schlüssel ist, dass die Aussage „ich aber bin fleischlich“ zeitlich gebunden ist an die Aussage „wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist“. Dass wird deutlich, wenn wir es so umformulieren: „Wir (ihr Christen in Rom und ich, der Apostel Paulus) wissen, dass das Gesetz geistlich ist, aber ich (Paulus) bin fleischlich“. Welcher Paulus spricht in dem zweiten Satzteil? Ist es Paulus der Pharisäer oder Paulus der Apostel? Die Antwort ist offensichtlich – es ist Paulus der Apostel – es sei denn man möchte hier einen Taschenspielertrick anwenden. Das „Ich“ des zweiten Satzteils ist zweifellos ein Teil des „Wir“ aus dem ersten Satzteil.

Es stimmt, dass die griechische Gegenwartsform auf eine „dramatische“ Weise verwendet werden kann, um die Vergangenheit zu beschreiben. Aber diesen Aspekt in Römer 7 anzuführen, wäre ein Ablenkungsmanöver. Denn die Aussage von Vers 14a verortet die Zeitform des Verses 14b in der Zeit, in der Paulus an die Christen in Rom schreibt. Paulus, der Verfasser des Römerbriefs, bezieht sich auf sich selbst, wenn er von „Ich“ redet.

Aber wie machen wir den Sinn der Aussage des Christen Paulus aus, wenn er sagt: „Ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft“? Das führt uns zu dem zweiten Schlüssel, der darin besteht, dass wir realisieren, dass „unter die Sünde verkauft“ nicht Paulus beschreibt, sondern seinen Zustand der Fleischlichkeit. Paulus sagt wörtlich: „Ich aber bin fleischlich, ich war unter die Sünde verkauft“. Er sagt nicht: „Ich bin fleischlich und unter die Sünde verkauft“. Bibelausleger lesen typischerweise ein „und“ in diesen Vers hinein, das gar nicht da ist. Da wir unter die Sünde verkauft wurden (durch die Übertretung Adams), sind wir fleischliche Menschen geworden.

Es gibt hier einen grundlegenden Unterschied. Ein Sklave zu sein ist grundsätzlich eine Frage der persönlichen Identität – „Wer bin ich?“ (oder besser „Wem gehöre ich?“). Fleischlich zu sein ist grundsätzlich eine Frage der persönlichen Fähigkeit – „Was bin ich?“ (oder „Wie bin ich?“). Paulus sagt nicht, dass er ein Sklave der Sünde ist und widerspricht somit dem, was er gerade erst in Kapitel 6 über die Freiheit des Gläubigen gesagt hat. Wir haben jetzt Freiheit durch die Einheit mit Christus in seinem Tod und seiner Auferstehung (6,1-10), aber unsere Leiber haben noch keinen Anteil am Auferstehungsleben Christi (6,11). Es gibt also immer noch eine Knechtschaft in unseren Gliedern (7,23), während wir auf die Erlösung unseres Leibes warten (8,23). Das bedeutet es, fleischlich zu sein.

Das ist eine schmerzhafte Wirklichkeit – unser leiblicher Zustand hat noch nicht erreicht, was wir jetzt schon in Christus sind. Wir sind nicht länger „im Fleisch“, in welchem wir dem Sklaventreiber der Sünde verpflichtet waren (7,5). Aber jetzt, da wir König Jesus unterstellt sind, tun wir dies immer noch als „fleischliche“ Menschen (7,14). Wir haben neue Identitäten, aber keine neuen innewohnenden Fähigkeiten! Wir bleiben unvollkommene (aber nicht unerlösbare) beeinträchtigte Menschen.

Die radikale Verdorbenheit des Menschen

Wie ein Computervirus hat die Sünde unser System befallen („die in mir wohnt“, Verse 17 und 20), wo sie sämtliche Vorgänge beeinträchtigt (meine „Glieder“, Vers 23), so dass sie nicht entsprechend ihres ursprünglichen Plans ausgeführt werden (indem sie Gottes gutes Gesetz befolgen, Verse 16, 18, 19, 21). Diese radikale, systemische Beeinträchtigung führt zu einer Unfähigkeit, das Gute zu vollbringen (Verse 15, 18, 19). Das bedeutet, dass wir eine radikale moralische Unfähigkeit haben. Wir sind nicht imstande dazu (Verse 18, 23). Die reine, heilige Güte des Gesetzes ist außerhalb unserer Reichweite. Weil er fleischlich ist, vollbringt Paulus das Gute nicht, dass er tun will.

Drei kurze Anmerkungen. Erstens: Dies ist das Bekenntnis eines Christen über den Zustand des Menschen. Der Christ nimmt ihn wahr (beachte die Verben der Erkenntnis in den Versen 14, 18, 21, 23), aber wir alle weisen ihn auf.

Zweitens: Es gibt eine Verbindung zwischen Kap. 6,12 („die Begierden des Leibes“), 6,19 („die Schwachheit des Fleisches“), 7,7 („du sollst nicht begehren“) und der fleischlichen/leiblichen Sünde in 7,14-25. Mit anderen Worten, Paulus gibt uns keine Schlagzeilen über schändliches Verfehlungen, sondern teilt uns sein persönliches Bewusstsein über die innewohnende Sünde mit, die er als sündhafte Begierde erlebt. Diese sündhafte Begierde begleitet uns bis zum Tag unseres Todes.

Drittens: Paulus dramatisiert die Dynamik der innewohnenden Sünde, um seine intrinsische Machtlosigkeit ihr gegenüber zu unterstreichen. Paulus fasst an dieser Stelle noch nicht die Befähigung des Geistes ins Auge, weil er möchte, dass wir zunächst unsere eigene tiefgreifende Unfähigkeit begreifen. Das hilft uns dabei, Gottes Kraft in Christus (8,1-4) wertzuschätzen und in Abhängigkeit von ihr zu leben. Und es bedeutet, dass ich niemals geistliches Leben, wie eine Eigenschaft oder ein Merkmal besitze, das ich mir selbst zuschreiben kann. Stattdessen habe ich durch den Geist Anteil am Auferstehungsleben Christi, dessen Geist die Frucht Christi in mir bewirkt: Die Liebe, die mir Gott gestern für meinen unliebsamen Nächsten geschenkt hat? Das war das Werk der Liebe Christi in und durch mich.

Drei Schlussfolgerungen

1. Römer 7 und Glaube

Glaube heißt, aus uns selbst herauszutreten (da nichts Gutes in uns wohnt, 7,18) und zu Christus zu fliehen, nicht nur wegen der Rechtfertigung, sondern wegen jedes Segens der Gnade Gottes. Es gibt getrennt von ihm keine Frucht (7,4). Wie Martin Luther es formulierte: „All unser Gutes steht außerhalb von uns, und dieses Gute ist Christus“. Oder, wie Johannes Calvin schrieb: „In ihm liegt ja die Fülle aller Güter, und deshalb sollen wir aus diesem Brunnquell schöpfen, bis wir satt werden, nicht aus einem anderen“ (Institutio, 2.16.19). Sich auf das Gesetz zu verlassen, bedeutet, sich auf sich selbst verlassen (siehe Phil 3,9). Das ist eine Sackgasse. Christus dagegen ist die Quelle überfließenden Lebens.

Uns selbst in Römer 7 wiederzuerkennen, nährt das Glaubensleben.

2. Römer 7 und Hoffnung

Die Erlösung in Christus ist Leben in der Auferstehung. Wir haben bereits heute Anteil am Auferstehungsleben Christi (6,1-11), aber wir warten noch auf die Auferstehung der Toten, wenn unsere Leiber auferweckt werden, um seinem herrlichen Leib gleichgestaltet zu werden (Phil 3,21). Darum wird das Leben in Hoffnung inmitten größter leiblicher Schwachheit geführt (Röm 4,18-25; 6,12.19; 7,14-25; 8,10-11, 23-25). Diese Schwachheit ist physisch und auch moralisch.

Dieses Verständnis über uns selbst aus Römer 7, nährt das Leben aus Hoffnung.

3. Römer 7 und Liebe

Entweder gebrauchen wir das Gesetz hochmütig, um uns von anderen abzuheben (2,1-16) oder Gott wird das Gesetz in unserem Leben gebrauchen, um uns zu zeigen, dass wir genauso wie Adam, ein verdorbener Sünder sind (7,7-13), und so hilflos wie der elendste Mensch, dem wir jemals begegnen werden (7,14-25).

Du kannst Menschen nur lieben, wenn du mit ihnen auf einer Stufe stehst (12,16), also nährt die Erkenntnis unserer selbst aus Römer 7 das Leben in der Liebe.

Denke daran, dies ist das Bekenntnis des Apostels Paulus. Als Christus ihn auf dem Weg nach Damaskus berief, zerbrach er ihn und er blieb ein gebrochener Mann. Aber was für eine reiche Ernte erwuchs aus dem Boden dieser Zerbrochenheit! Nur von solchen Männern und Frauen können Worte des Lebens und der Gnade fließen. Sieh dir Römer 8 an, eine herrliche Melodie der Gewissheit, des Trosts und der Hoffnung. Leiter, der kostbaren Herde Christi, merkt euch: Man kann sich nur auf den Knien um ihre Bedürfnisse kümmern.