Ist die Reformation vorbei?

Artikel von R.C. Sproul
14. November 2018 — 5 Min Lesedauer

Über dieses Thema wurde viel von denen, die ich „einstige Evangelikale“ nenne, geschrieben. Einer von ihnen bemerkte: „Luther hatte recht im 16. Jahrhundert, aber die Frage der Rechtfertigung ist heute kein Thema mehr“. Ein zweiter selbsterklärter Evangelikaler bemerkte auf einer Pressekonferenz, die ich besuchte, „dass die Debatte aus der Reformation im 16. Jahrhundert über Rechtfertigung durch Glauben allein bloß ein Sturm im Wasserglas war“. Ein weiterer bekannter europäischer Theologe argumentierte, dass die Lehre der Rechtfertigung durch Glauben allein kein wichtiges Thema in der Kirche mehr sei. Wir sind konfrontiert mit einer Menge Menschen, die als Protestanten definiert sind, aber die anscheinend vollkommen vergessen haben, wogegen sie protestieren.

Entgegen mancher dieser zeitgenössischen Einschätzungen über die Bedeutung der Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben allein erinnern wir uns an eine andere Perspektive von Seiten der Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Luther machte seinen berühmten Kommentar, dass die Lehre der Rechtfertigung durch Glauben allein der Glaubensartikel sei, durch den die Kirche stehe oder falle. Johannes Calvin fügte eine weitere Metapher hinzu, indem er sagte, dass die Rechtfertigung das Scharnier sei, auf dem sich alles dreht. Im 20. Jahrhundert gebrauchte J.I. Packer eine Metapher, die aussagte, dass die Rechtfertigung durch Glauben allein „der Atlas ist, auf dessen Schultern alle anderen Lehren stehen“. Später zog sich Packer von dieser starken Metapher zurück und gebrauchte eine wesentlich schwächere, als er sagte, dass Rechtfertigung durch Glauben allein „das Kleingedruckte des Evangeliums“ sei.

Die Frage, die wir uns im Licht dieser Diskussionen stellen müssen, ist, was sich seit dem 16. Jahrhundert verändert hat? Naja, es gibt gute und schlechte Nachrichten. Die gute Nachricht ist, dass Menschen viel ziviler und toleranter in ihren theologischen Disputen geworden sind. Wir sehen nicht mehr, wie Menschen wegen theologischer Meinungsverschiedenen auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder auf der Streckbank gequält werden. Wir haben auch gesehen, dass in den letzten Jahren die katholische Kirche bei anderen Schlüsselthemen der christlichen Lehre festgeblieben ist, wie der Göttlichkeit Christi, sein Sühnewerk und die Inspiration der Bibel, während viele protestantische Liberale diese besonderen Lehren größtenteils zurückgelassen haben. Wir sehen auch, dass Rom standhaft blieb bei kritischen moralischen Themen wie Abtreibung und ethischem Relativismus. Im 19. Jahrhundert beim Ersten Vatikanischen Konzil nannte Rom die Protestanten „Häretiker und Schismatiker“. Im 20. Jahrhundert beim Zweiten Vatikanischen Konzil wurden die Protestanten „getrennte Brüder“ genannt. Wir sehen einen bemerkenswerten Kontrast im Ton zwischen den beiden Konzilen.

Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass viele Lehren, die Protestanten und Katholiken vor Jahrhunderten getrennt haben, seit dem 16. Jahrhundert zu einem Dogma erhoben worden sind. Fast alle der wichtigsten Glaubensartikel über Maria sind in den letzten 150 Jahren festgeschrieben worden. Die Lehre der päpstlichen Unfehlbarkeit, obwohl sie de facto schon lange vor ihrer formellen Definition galt, wurde nichtsdestotrotz im Jahr 1870 beim Ersten Vatikanischen Konzil förmlich definiert und für de fide (notwendig zu glauben zur Errettung) erklärt. Wir sehen auch, dass in den letzten Jahren die katholische Kirche einen neuen Katechismus herausgebracht hat, der unmissverständlich die Lehren des Konzils von Trient bekräftigt, einschließlich dessen Definition der Lehre der Rechtfertigung (und damit wurden auch die Verwerfungen dieses Konzils gegen die reformatorische Lehre der Rechtfertigung durch Glauben allein bestätigt). Mit der erneuten Bekräftigung Trients kamen auch klare Bekräftigungen der katholischen Lehren vom Fegefeuer, Ablass und dem Kirchenschatz.

Bei einer Diskussion zwischen führenden Theologen über die anhaltende Relevanz der Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben allein, stellte Michael Horton folgende Frage: „Was ist es in den letzten Jahrzehnten, was das Evangelium des 1. Jahrhunderts unwichtig gemacht hat?“ Der Disput über Rechtfertigung war nicht nur ein technischer Punkt der Theologie, der an den Rand des Lagers der biblischen Wahrheit gelegt werden konnte, noch konnte er einfach als Sturm im Wasserglas erachtet werden. Dieser Sturm tobte weit über das kleine Gefäß eines Glases hinaus: Die Frage „Was muss ich tun, um gerettet zu werden?“ ist immer noch die entscheidende Frage für jeden Menschen, der unter dem Zorn Gottes steht.

Noch kritischer als die Frage ist die Antwort, denn die Antwort berührt das Herz des Evangeliums. Letztendlich bekräftigte die katholische Kirche Trient und lehrt auf dieser Basis weiterhin, dass Gott eine Person für gerecht oder ungerecht erklären wird entsprechend seiner „innewohnenden Gerechtigkeit“. Wenn Gerechtigkeit einem Menschen nicht innewohnt, dann geht er im schlimmsten Fall in die Hölle und im besten Fall (wenn noch Unreinheiten aus diesem Leben übrigbleiben) ins Fegefeuer für eine Zeit, die sich über Millionen von Jahren erstrecken kann. Im starken Gegensatz dazu besteht die biblische und protestantische Sicht über die Rechtfertigung darin, dass die einzige Grundlage für die Rechtfertigung die Gerechtigkeit Christi ist, welche dem Gläubigen angerechnet wird, wenn dieser glaubt. Die fundamentale Frage ist diese: Ist die Grundlage, auf der ich gerechtfertigt werde, eine Gerechtigkeit, die mir gehört? Oder ist es eine „fremde Gerechtigkeit“, wie Luther sagte, eine Gerechtigkeit extra nos, außerhalb von uns – die Gerechtigkeit eines anderen, nämlich die Gerechtigkeit Christi? Vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart hat Rom immer gelehrt, dass Rechtfertigung auf Glauben, auf Christus und auf Gnade gegründet ist. Der Unterschied ist jedoch, dass Rom beständig leugnet, dass Rechtfertigung auf Christus allein gegründet ist, empfangen durch Glauben allein und geschenkt durch Gnade allein. Der Unterschied zwischen diesen zwei Positionen ist der Unterschied zwischen Errettung und ihrem Gegenteil. Es gibt kein größeres Thema, dem sich ein Mensch stellen kann, der von einem gerechten Gott entfremdet ist.

In dem Moment, als die katholische Kirche die biblische Lehre der Rechtfertigung aus Glauben allein verdammte, leugnete sie das Evangelium und hörte auf, eine legitime Kirche zu sein, egal was sie sonst für richtige, christliche Lehren bekräftigt. Sie als authentische Kirche anzusehen, während sie immer noch die biblische Lehre der Errettung ablehnt, ist eine tödliche Ansicht. Wir leben in einer Zeit, in der theologische Konflikte als politisch inkorrekt angesehen werden, aber Frieden zu erklären, wo kein Frieden besteht, bedeutet, das Herz und die Seele des Evangeliums zu verraten.