Fünf Mythen über den Calvinismus

Artikel von Greg Forster
3. Dezember 2018 — 7 Min Lesedauer

Mythos 1: Wir haben keinen freien Willen.

Das Westminster-Glaubensbekenntnis, ein überwiegend konfessionelles Bekenntnis der reformierten Theologie in der angelsächsischen Welt, widmet ein ganzes Kapitel dem Thema „Vom freien Willen“. So beginnt dieses Kapitel: 

„Gott hat den Willen des Menschen mit einer natürlichen Freiheit ausgestattet, die weder gezwungen noch durch eine absolute Naturnotwendigkeit dazu festgelegt wird, Gutes oder Böses zu tun“ (WB 9.1.).

Das Kapitel über Gottes Vorsehung erklärt gleicherweise, dass Gottes Anordnungen so zur Ausführung kommen, dass er weder „der Urheber der Sünde ist, noch dem Willen der Geschöpfe Gewalt angetan wird, noch die Freiheit oder Zufälligkeit der zweiten Ursachen aufgehoben, sondern diese vielmehr in Kraft gesetzt werden“ (WB 3.1). 

Dieser Mythos entstand durch sprachliche Veränderung im Lauf der Geschichte. Heutzutage bezieht sich der Ausdruck „freier Wille“ auf die moralische Verantwortlichkeit. Er meint, dass Menschen nicht einfach nur Marionetten der äußerlichen natürlichen Zwänge sind, wie etwa des Erbguts und des Umfelds. Doch im 16. Jahrhundert, am Anfang der Reformation, ging es in der Hauptdebatte zum „freien Willen“ um etwas anderes. Die Frage damals war, ob der Wille von Natur aus durch die Sünde versklavt ist und sich in Satans Gefangenschaft befindet. An den „freien Willen“ zu glauben bedeutete, dass Menschen nicht als Sklaven Satans geboren werden. Den „freien Willen“ zu leugnen, bedeutet zu glauben, dass Menschen tatsächlich versklavt sind. Calvin nannte die Sklaverei des Willens an Satan sogar „freiwillige Sklaverei“.

Mythos 2: Wir werden gegen unseren Willen gerettet.

Genauso wie Gottes Vorsehung aller Dinge nach dem calvinistischen Verständnis den freien Willen des Menschen nicht verneint, leugnet auch das spezielle Werk des Heiligen Geistes im Herzen von Gläubigen den freien Willen dieser Individuen nicht. Im Abschnitt 10.1 des Westminster Bekenntnisses, in dem das Werk des Heiligen Geistes in der Bekehrung von Sündern erklärt wird, heißt es, dass sie „ganz freiwillig kommen“, wenn der Geist sie „zu Jesus Christus zieht“. Die Rolle des Geistes ist, die Macht der Sünde zu beseitigen und eine neue Kraft des Glaubens und des Vertrauens zu schenken, die unausweichlich zum rettenden Glauben führt. Doch dies geschieht, ohne dass die Freiheit des Willens verletzt wird.

„Das Leben Christi, das der Geist in uns hineinlegt, führt zu mehr Erkenntnis, Kraft, Selbstbeherrschung, Selbstlosigkeit, Vergnügen, Zufriedenheit und Freude.“
 

Tatsächlich vergrößert das Werk des Geistes unsere Freiheit. Das natürliche menschliche Leben wird bestimmt von Ignoranz, Unvermögen, Frust, Zwang, Selbstverliebtheit, Solipsismus, Enttäuschung und (bestenfalls) Resignation. Das Leben Christi, das der Geist in uns hineinlegt, führt zu mehr Erkenntnis, Kraft, Selbstbeherrschung, Selbstlosigkeit, Vergnügen, Zufriedenheit und Freude. In gewissem Sinn sind wir genauso frei wie eh und je – frei zu handeln im Rahmen des Lebens, das wir haben. Doch andererseits, wer würde nicht zustimmen, dass die Freiheit, als Sklave zu leben, weniger Freiheit ist als in Freiheit für Gott zu leben? (Ps 82,6; Joh 10,34–36)

Mythos 3: Wir sind total verdorben.

Ja, es stimmt, dass die berühmten „fünf Punkte des Calvinismus“, zumindest in ihrer sehr vereinfachten und in der manchmal irreführenden Version aus dem 20. Jahrhundert mit der Erklärung beginnen, dass Menschen in ihrem natürlichen Zustand „total verdorben“ sind. Doch genauso wie der Ausdruck „freier Wille“ in den Debatten der Reformation im 16. Jahrhundert etwas anderes meinte als heutzutage, bedeutet der Ausdruck „total verdorben“ in den fünf Punkten etwas anderes als unsere heutigen Interpretationen vermuten ließen.

Wenn man die Behauptung hört, dass wir ohne die Erneuerung durch den Heiligen Geist „total verdorben“ sind, denkt man automatisch, dass es nichts in uns gäbe, was in irgendeiner Weise gut wäre. Abgesehen davon, dass es nicht mit unserer Erfahrung übereinstimmt, kann man diese Ansicht sehr leicht mit der Schrift widerlegen. Paulus erklärt, dass „Heiden, die nicht das Gesetz haben, von Natur aus das tun, was das Gesetz erwartet“ (Röm 2,14). Wir werden sehr deutlich ermahnt, nicht zu töten, weil alle Menschen im Ebenbild Gottes geschaffen sind (1Mose 9,6).

Calvin schrieb in seiner Institutio (II.3.3):

„Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die unter Leitung ihrer natürlichen Anlagen sich ihr Leben lang nach der Tugend ausstreckten! Ich will mich auch nicht damit aufhalten, ob nicht auch in ihrem Verhalten mancherlei Fehler zu bemerken wären. Sie haben eben doch mit ihrem Eifer um die Rechtschaffenheit den Beweis geliefert, dass in ihrer Natur etwelche Reinheit vorhanden war… Die angedeuteten Beispiele scheinen uns doch zu mahnen, die menschliche Natur nicht für gänzlich verdorben zu halten, weil ja aus ihrem Antrieb heraus einige Menschen nicht nur gewaltige Taten getan, sondern auch in ihrer gesamten Lebensführung höchste Ehrbarkeit an den Tag gelegt haben. Aber an dieser Stelle kann uns die Einsicht helfen, dass die Gnade Gottes auch innerhalb dieser Zerstörung der Natur doch noch Raum hat; freilich wirkt sie nicht reinigend, sondern innerlich hemmend.“

Zahlreiche andere Beispiele aus der Institutio und Calvins anderen Schriften bestätigen das. Vergleiche dazu auch die sorgfältig und präzise formulierte Aussage im Westminster Bekenntnis 16.7, die diese Sicht auch untermauert.

Mythos 4: Gott liebt die Verlorenen nicht.

In jedem der drei Fälle vorher meinen Menschen, dass Calvinismus X sagt, während er tatsächlich X vehement verneint. Die Frage, ob Gott die Verlorenen liebt, ist jedoch eine andere. Der Calvinismus an sich impliziert nicht die eine oder die andere Antwort zu dieser Frage. Calvin selbst hat diese Frage nicht adressiert, weil sie zu seiner Zeit noch nicht gestellt wurde. Erst spätere Generationen von Calvinisten, die über die calvinistische Lehre nachdachten, begannen zu fragen, ob Gott diejenigen liebt, die er nicht zur Rettung erwählt hat. Wenn man hundert Calvinisten fragt, ob Gott die Verlorenen liebt, bekommt man hundert verschiedene Antworten.

„In jedem der drei Fälle vorher meinen Menschen, dass Calvinismus X sagt, während er tatsächlich X vehement verneint.“
 

Während der Verfassung des Westminster Bekenntnis wurde diese Frage ebenfalls diskutiert. Letztlich entschieden die Verfasser, dass das Bekenntnis keine Position zu dieser Frage einnimmt. Sie wählten jedoch Formulierungen, die zumindest zu der Auffassung tendieren, dass Gott die Verlorenen liebt (z. B. wird das moralische Gesetz als ein freier und unverdienter Segen dargestellt; vgl. WB 7.1 und 7.2). Und einige andere historische calvinistische Bekenntnisse, wie die Lehrregeln von Dordrecht, unterstützen explizit die Sicht, dass Gott die Verlorenen liebt, während kein calvinistisches Bekenntnis jemals das Gegenteil ausdrücklich vertreten hat.

Mythos 5: Der Calvinismus befasst sich hauptsächlich mit Gottes Souveränität und Prädestination.

Natürlich gibt es keinen absoluten und unwiderlegbaren Beweis dafür, was das „Hauptanliegen“ einer theologischen Tradition ist oder was nicht. Es ist eine Ermessensfrage. Doch ich denke, dass es klar wird, wenn man sich ernsthaft mit dem Calvinismus beschäftigt. 

Der Calvinismus steht für eine bestimmte Sicht – eine besonders „hohe“ Sicht, wie es oft gesagt wird – der Souveränität Gottes und der Prädestination. Doch diese Sicht war nicht der einzigartige und kennzeichnende theologische Beitrag des Calvinismus; auch war sie nicht das, was Calvin und seine Nachfolger für das Wichtigste hielten. Die „hohe“ Sicht der Souveränität und Prädestination war schon bei Augustinus im frühen fünften Jahrhundert komplett ausgearbeitet. Spätere Generationen von Augustinus’ Anhängern entwickelten und diskutierten über verschiedene Anwendungen dieser Lehre auf andere Bereiche der Theologie. Der bekannteste Theologe unter ihnen war Martin Luther, nicht Calvin.

„Was den Calvinismus eindeutig calvinistisch macht, ist nicht die Lehre des Werkes des Vaters in der Erwählung, sondern seine Lehre des Geistes in der Wiedergeburt.“
 

Was Calvin als Theologen und den Calvinismus als theologische Tradition wirklich auszeichnet, ist die einzigartig „hohe“ Lehre vom Wirken des Heiligen Geistes. In all den Bereichen der Theologie, in denen Calvin seine bedeutendsten Beiträge leistete, wie die Lehre der Schrift oder die Lehre der Kirche und der Sakramente, sehen wir die Erhöhung des Wirkens des Geistes als treibende Kraft für seine Ausführungen. Schauen wir doch nur auf sein Verständnis der Rettung an sich: Was den Calvinismus eindeutig calvinistisch macht, ist nicht die Lehre des Werkes des Vaters in der Erwählung, sondern seine Lehre des Geistes in der Wiedergeburt. So bewertet B.B. Warfield es in seinem Essay „Johannes Calvin, der Theologe“ („John Calvin the Theologian”). Und diese zentrale Stellung des Geistes in Calvins Denken spiegelt sich wider im Westminster Bekenntnis und anderen calvinistischen Bekenntnissen und Dokumenten.