Die vier Gebetsregeln des Augustinus

Artikel von Timothy Keller
20. Januar 2019 — 6 Min Lesedauer

Anicia Faltonia Proba (gestorben 432 n. Chr.) war eine christliche Adlige im Römischen Reich. Sie hatte das Privileg, sowohl Augustinus, den größten Theologen des ersten christlichen Jahrtausends, als auch Johannes Chrysostomos, den größten Prediger, zu kennen. Wir haben zwei Briefe von Augustinus an Proba und der erste (Brief 130) ist die einzige, tiefgreifende Abhandlung über das Thema Gebet, die Augustinus je geschrieben hat.

Ich hatte die Möglichkeit, diesen Brief über die Weihnachtsfeiertage zu lesen und war beeindruckt von seinem gesunden Menschenverstand und seinen ungewöhnlichen Einsichten. Proba schrieb an Augustinus, weil sie Angst hatte, dass sie nicht so betete, wie sie sollte. Augustinus antwortete mit verschiedenen Prinzipien oder Regeln für das Gebet.

Die erste Regel ist völlig kontra-intuitiv.

Augustinus schrieb, dass, bevor sich jemand der Frage widmen kann, was und wie er beten soll, er zunächst erstmal eine bestimmte Art von Person sein muss. Welche Art? Er schreibt: „Du musst dich ‚elendig‘ in dieser Welt erachten, egal wie groß dein Wohlstand ist.“ Er argumentiert, dass auch, wenn unsere irdischen Umstände gut sind, sie uns doch keinen Frieden, Glück und Trost bringen können, die nur in Christus gefunden werden. Die Schuppen müssen von unseren Augen fallen und wir müssen das erkennen – wenn nicht, werden all unsere Gebete in eine falsche Richtung gehen.

Zweitens, sagt er, kannst du anfangen zu beten.

Und für was solltest du beten? Mit einem kleinen Lächeln (denke ich) antwortet Augustinus, dass du für das beten sollst, für was alle anderen beten: „Bete für ein glückliches Leben.“ Aber natürlich ist die Frage: Was wird ein glückliches Leben ausmachen? Der Christ (wenn er die erste Regel von Augustinus befolgt) hat erkannt, dass Trost, Lohn und Vergnügen in sich selbst nur eine vorübergehende Anregung geben können und, wenn man sein Herz darauf ausrichtet, in Wirklichkeit weniger beständige Glückseligkeit mit sich bringen. Er wendet sich zu Psalm 27 und verweist auf das große Gebet des Psalmisten (Vers 4):

„Eines erbitte ich von dem HERRN, nach diesem will ich trachten: dass ich bleiben darf im Haus des HERRN mein ganzes Leben lang, um die Lieblichkeit des HERRN zu schauen und ihn zu suchen in seinem Tempel.“

Das ist das grundlegende Gebet für Glück. Augustinus schreibt: „Wir lieben Gott nämlich für das, was er in sich selbst ist, und wir lieben uns und unsere Nächsten um seinetwillen.“

„Wir lieben Gott nämlich für das, was er in sich selbst ist, und wir lieben uns und unsere Nächsten um seinetwillen.“
 

Das bedeutet nicht, fügt er schnell hinzu, dass wir für nichts anderes beten sollten, als Gott zu erkennen, zu lieben und ihm zu gefallen. Keineswegs. Das Vaterunser zeigt uns, dass wir vieler Dinge bedürfen. Aber wenn Gott unsere größte Liebe ist, und wenn ihn zu erkennen und ihm zu gefallen unsere größte Freude ist, dann verändert das, was und wie wir für ein glückliches Leben beten.

Er zitiert Sprüche 30,8–9 als Beispiel:

„Armut und Reichtum gib mir nicht, nähre mich mit dem mir beschiedenen Brot; dass ich nicht aus Übersättigung dich verleugne und sage: Wer ist der HERR?, dass ich aber auch nicht aus lauter Armut stehle und mich am Namen meines Gottes vergreife.“

Stell dir diese Frage: Suchst du Gott im Gebet, damit du angemessene finanzielle Ressourcen bekommst – oder suchst du die Art und das Maß an Ressourcen, das du benötigst, um Gott angemessen zu erkennen und ihm zu dienen? Das sind zwei unterschiedliche Motivationen.

In beiden Fällen ist die äußerliche Handlung ein Gebet: „O, Herr – gib mir eine Arbeitsstelle, damit ich nicht arm bin“, aber die innerlichen Gründe des Herzens sind vollkommen unterschiedlich. Wenn, wie Augustinus riet, du zuerst ein Mensch wirst, der „elendig ohne Gott ist, egal, was die äußeren Umstände sind“ – und dann anfängst zu beten, wird dein Gebet wie Sprüche 30 sein. Aber wenn du einfach ins Gebet einsteigst, bevor das Evangelium die Vorlieben deines Herzens neu geordnet hat, dann wird dein Gebet eher etwa so aussehen: „Mach mich so wohlhabend wie möglich.“ Als Ergebnis wirst du nicht die geistliche Weisheit im Gebet entwickeln, die dich dazu befähigt, selbstsüchtige Ambitionen und Gier von einem Verlangen nach guter Arbeit zu unterscheiden. Und du wirst viel niedergeschmetterter sein, wenn deine finanzielle Situation sich verschlechtert. Ein Gebet nach Sprüche 30 beinhaltet die Bitte, dass Gott nicht zu viel geben soll, nicht nur, dass er nicht zu wenig geben soll.

Die dritte Regel war umfassend und praktisch.

„Ein Gebet nach Sprüche 30 beinhaltet die Bitte, dass Gott nicht zu viel geben soll, nicht nur, dass er nicht zu wenig geben soll.“
 

Du wirst darin angeleitet, sagte er, wie man auf richtige Weise für ein glückliches Leben betet, wenn du das Vaterunser studierst. Denke lang und tief über dieses großartige Vorbild eines Gebets nach und vergewissere dich, dass deine eigenen Bitten damit zusammenpassen. Zum Beispiel schreibt Augustinus: „Der, der im Gebet spricht, ‚Gib mir so viel Reichtum wie dieser oder jener Mensch hat‘ oder ‚Schenke mir größere Ehre, Macht oder Ruhm in dieser Welt‘ und bittet bloß aus einem Verlangen für diese Dinge und nicht, um durch sie Menschen nach dem Willen Gottes Nutzen zu bringen, kann meines Erachtens keine Verbindung zu diesen Anliegen und dem Vaterunser herstellen. Deshalb sollten wir uns schämen, solche Dinge zu erbitten.“

Die vierte Regel ist ein Eingeständnis.

Er gesteht ein, dass selbst, wenn wir die ersten drei Regeln befolgen, „wir nicht wissen, wie wir in unseren Bedrängnissen beten sollen“. Das bewirkt große Ratlosigkeit. Selbst der gottesfürchtigste Christ kann nicht sicher sein, wofür er beten soll. „Bedrängnisse mögen uns Gutes bringen und doch, weil sie schwer und schmerzhaft sind, beten wir mit einem Verlangen, das allen Menschen gemein ist, dass sie von uns hinweggenommen werden.“

Augustinus gibt hier weisen pastoralen Rat. Er verweist zuerst auf Jesu eigenes Gebet in Gethsemane, das vollkommen ausgeglichen war zwischen einem ehrlichen Verlangen – „lass diesen Kelch an mir vorübergehen“ – und der Unterordnung unter Gott – „nicht mein, sondern dein Wille geschehe“. Und er deutet auf Römer 8,26, wo verheißen wird, dass der Geist unsere Herzen im Gebet anleiten wird, wenn wir seufzen und verwirrt sind – und Gott wird sie selbst in ihrem unvollkommenen Zustand erhören.

Anicia Proba war schon mit Anfang 30 Witwe. Sie war in Rom, als es im Jahr 410 überfallen und geplündert wurde und sie musste mit ihrer Enkelin Demetrias nach Afrika fliehen, wo sie Augustinus traf. Augustinus schließt seinen Brief ab, indem er fragt: „Was macht dieses Werk des Gebets besonders angemessen für Witwen in ihrer leidtragenden und schwierigen Situation? Sollte eine Witwe nicht gewissermaßen ihre Witwenschaft Gott als ihrem Schild anheimstellen in beständigem und leidenschaftlichem Gebet?“ Wir haben jeden Grund zu glauben, dass sie diese Einladung angenommen hat.