Wie kann Gott Gutes aus Bösem hervorbringen?

Artikel von R.C. Sproul
17. Dezember 2019 — 5 Min Lesedauer

Die Menschen neigen dazu, sich unwohl zu fühlen, wenn sie lesen, dass Gott von aller Ewigkeit her alles unveränderlich und frei vorherbestimmt hat, was geschieht. Das bedeutet schließlich, dass alles, was in dieser Welt geschieht (einschließlich all des Bösen, das uns angetan wird, und erstaunlicherweise auch unsere eigenen Sünden gegenüber anderen) unveränderlich vorbestimmt ist durch den allmächtigen Gott. Wenn wir von aller Ewigkeit her dazu bestimmt sind, eine Sünde zu begehen, warum richtet uns Gott dann dafür? Könnten wir dann nicht genauso gut nach Lust und Laune sündigen, weil wir wissen, dass wir durch die Vorsehung Gottes gesteuert werden? Hier setzt das Geheimnis der Vorsehung ein. Ohne den Willen seiner Geschöpfe auszuhebeln, vollbringt Gott seine Ziele durch die von ihm bestimmten Mittel.

Von ersten und zweiten Ursachen

Eine Sicht auf die Welt besagt, dass uns die Zentrifugalkraft, die Schwerkraft und die Zentripetalkraft davor bewahren, dass wir in uns selbst zusammen- und aus dem Dasein herausfallen, während wir uns durch den Raum bewegen. Diese Kräfte sind real. Die Schwerkraft existiert, aber ihre Kraft ist keine inhärente Kraft. Selbst die Schwerkraft ruht auf der primären Kraft Gottes. Die Schwerkraft selbst ist nicht eine unabhängige primäre Ursache. Die einzige primäre Ursache ist derjenige, durch den alle Dinge geschaffen wurden und in dem alle Dinge zusammenhalten. Was uns am Ende davon abhält, von der Erde herunterzufallen, ist die Hand Gottes. Aber er übt seine Macht durch die reale Kraft zweiter Ursachen wie die der Schwerkraft aus.

In Bezug auf menschliche Ursachen sind wir zweite Ursachen und die Kräfte, die wir ausüben, sind real und nicht nur scheinbar. Wir sind keine Puppen ohne Willen, Freiheit oder Kraft, aber wir haben keinen Willen, keine Freiheit und keine Kraft über das hinaus, was Gott uns gegeben hat. Er bleibt souverän über all diese Dinge und erfüllt seinen souveränen Willen.

Wenn wir die Ratschlüsse Gottes diskutieren, sprechen wir von dem Zusammenwirken des menschlichen und des göttlichen Willens. Das wird auch Konfluenz genannt, was „Zusammenfließen“ bedeutet.

Das Beispiel Josefs

Ein biblisches Beispiel für die Konfluenz ist die Geschichte von Joseph. Nachdem er unsagbares Leid und Ungerechtigkeit durch die Hände seiner Brüder erlitten hatte, endete er in Einzelhaft in einem fremden Land. Nach einer gewissen Zeit wurde er aus dem Gefängnis freigelassen und zum Amt des Premierministers in Ägypten erhoben, dem mächtigsten Reich der damaligen Welt. Dann kam eine Hungersnot und Josephs Vater Jakob sandte seine Söhne nach Ägypten, um dort nach Nahrung zu fragen. Die Brüder begegneten Joseph, aber erkannten ihn nicht, bis er  ihnen seine Identität offenbarte. Weil sie ihn schlecht behandelt hatten und wussten, dass Joseph die Macht hatte, sich an ihnen zu rächen, waren sie entsetzt und bekannten ihre Sünden. Joseph sagte über ihre Handlungen: „Ihr gedachtet mir zwar Böses zu tun; aber Gott gedachte es gut zu machen“ (1Mo 50,20).

In diesem Drama gibt es eine Konfluenz zwischen Gottes Absichten und den Absichten der Menschen. Eine Absicht wird von absoluter Heiligkeit angetrieben, die andere dagegen von schierer Boshaftigkeit. Josephs Brüder gebrauchten sein Leid zum Bösen, und insoweit das ihre Motivation war, waren sie schuldig vor Gott. Aber Gott bestimmte, dass er Joseph durch die Entscheidungen seiner Brüder nach Ägypten bringen würde. Indem er über und durch zweite Ursachen wirkte, rettete Gott das Volk Israel. Gott gebrauchte das Werk von Josephs Brüdern für erlösende Zwecke; das entschuldigt jedoch nicht die Brüder. Durch das große Geheimnis der Vorsehung bringt der transzendente Regent über alle Dinge aus Bösem Gutes hervor. Statt die bösen Antriebe der Brüder Josephs zu verändern, "transzendierte" Gott sie und brachte durch seine Macht aus Bösem Gutes hervor.

Wie entsteht also Gutes aus Bösem?

Dieses große Geheimnis steht in Verbindung mit einer der tröstendsten Verheißungen im Neuen Testament: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind“ (Röm 8,28). Das bedeutet nicht, dass alles, was geschieht, in sich selbst gut ist; aber aufgrund der Vorsehung dienen alle geschehenden Dinge zu unserem Besten. Ohne das Konzept der Vorsehung würden wir den Trost und die Freude verpassen, zu wissen, dass Gott über allen Dingen steht. Er ist kein isolierter Beobachter, der uns nur von der Seite anfeuert. Eine verbreitete Sicht in der evangelikalen Welt von heute ist, dass Gott machtlos ist, all die schlechten Dinge aufzuhalten: Er steht als Zuschauer da und hofft, dass der Ball so hin und her springt, dass seine ewigen Ziele nicht verhindert werden. Aber seine Ziele können nicht aufgehalten werden, weil er sogar die schlechten Ballsprünge gebraucht, um den Sieg herbeizuführen.

Gott bringt seinem Volk niemals Ungerechtigkeit. Im Gegenteil, jede Tragödie wird zu einem Segen. Es gibt jedoch keinen letztendlichen Segen für die Ungläubigen, weil jeder Segen, den sie empfangen, und für den sie undankbar sind, am Ende zu größerer Schuld führt. Im letzten Gericht wird jeder Segen, den die Ungläubigen von den Händen eines wohlwollenden Gottes empfangen haben, zu einer Grundlage für ihren Fluch. Deshalb gibt es für die Gläubigen letztendlich niemals Tragödien und für die Ungläubigen letztendlich niemals Segen.