Wieso heilt Jesus den blinden Mann in Markus 8 in zwei Phasen?

Artikel von Robert Plummer
13. Mai 2020 — 6 Min Lesedauer

Leser des Markusevangeliums könnten berechtigterweise fragen, wieso Jesus den blinden Mann in Markus 8,22–26 in zwei Schritten heilt. Markus schildert, dass Jesus zu einem früheren Zeitpunkt mit einem einfachen Wort, und das aus einiger Entfernung, bereits jemanden geheilt hatte (7,29). Wieso also an dieser Stelle dieser verlängerte Vorgang?

Beginnen wir mit etwas, das dieser Text sicher nicht lehrt. Die Heilung in zwei Schritten bedeutet nicht, dass Jesus in seinem ersten Versuch „gescheitert’’ oder dass er in seinen Fähigkeiten irgendwie unzulänglich ist. Selbst dem oberflächlichen Leser des Markusevangeliums entgeht die Klarheit nicht, mit der Jesus wiederholt als der authoritative, allmächtige Sohn Gottes vorgestellt wird (1,1; 14,18.27–28.62.72).

Auf einer anderen Ebene ist die Antwort auf unsere Frage sehr offensichtlich. Wir lesen von einer Heilung in zwei Schritten, da es so wirklich geschehen ist! Der Urkirchenvater Papias hat bestätigt, dass Markus die apostolische Verkündigung des Petrus sorgsam niedergeschrieben hat. Wir lesen von einer Heilung in zwei Schritten, da Jesus den Mann in zwei Schritten historisch, nämlich in Raum und Zeit, geheilt hat.

Wenn wir allerdings auf dieses tatsächliche historische Ereignis zurückschauen, so stellt sich uns die Frage, wieso Jesus auf diese Art geheilt hat. Zudem stellt sich die Frage, ob Markus, der vom Geist inspirierte Erzähler dieses Ereignisses, uns irgendwelche Hinweise auf die Antwort dieser Frage gibt.

Menschlicher Glaube und göttliche Kraft

In Markus 6, 5–6 lesen wir, dass Jesus wegen des Unglaubens der Leute in seinem Heimatort nur wenige Wunder vollbringen konnte. An anderen Stellen stellt Jesus die Erhörung von Fürbitten unter den deutlichen Vorbehalt: „Euch geschehe nach eurem Glauben“ (Mt 9,29, vgl. Mk 10,52; 11,22–24). Obwohl Jesus Wunder vollbringen kann, wo es nur kleinen oder gar keinen Glauben gibt (z.B. Mk 5,41–42; 9,23–24), so stehen doch die meisten Wunder während des irdischen Dienstes Jesu im Bezug zum Glauben des/der Bittenden. In ähnlicher Weise ruft auch der Autor des Hebräerbriefes uns auf: „Ohne Glauben aber ist es unmöglich, [Gott] wohlzugefallen; denn wer Gott naht, muss glauben, dass er ist und denen, die ihn suchen, ein Belohner sein wird.“ (Heb 11,6) Resultierte also die verzögerte Heilung des blinden Mannes in einer Unzulänglichkeit seines Glaubens? Falls das stimmt, gibt uns Markus keinen Hinweis darauf.

Schon in Markus 5 sehen wir eine ähnliche verzögerte Reaktion auf Jesu machtvolle Gegenwart. Als Jesus sich dem von Dämonen besessenen Mann („Legion“) nähert, lesen wir dass Jesus zu ihm sagte: „Fahre aus, du unreiner Geist, aus dem Menschen!“ (5,8) Was darauf folgt, ist nicht die unmittelbare Erfüllung der Worte Jesu (nämlich die erzwungene Flucht des Dämon), sondern ein Dialog. Erst nach einer gewissen Zeit verschwinden die bösen Geister (5,13).

Wieso erzählt Markus das Ereignis auf diese Weise? Er hätte die Erzählung einfach zusammenfassen können. Doch die langsamere Erzählung offenbart die schrittweise Entfaltung der Ereignisse und dadurch die Stärke des Feindes Jesu (eine Legion von Feinden, die 2000 Schweine ertränken können!). Die Betonung der Kraft des Feindes Jesu vergrößert andrerseits die Macht des Triumphs des Herrn umso mehr.

Ebenso gibt Markus durch die langsame Entfaltung des Wunders eine unvergessliche und dramatische Darstellung davon, wie die Krankheit des Mannes geheilt wird. Der ehemals blinde Mann ist nicht mehr hochgradig kurzsichtig (wie es einige „Wunderheiler“ der damaligen Zeit getan haben mögen); sein Augenlicht ist vollkommen wieder hergestellt. Kein antiker Wunderheiler oder die neuste Augenheilkunde können sich mit der Deutlichkeit und Vollkommenheit der körperlichen Wiederherstellung vergleichen, die Jesus bringt.

Aufführung eines Gleichnisses über geistliche Blindheit

Doch gibt es vielleicht noch mehr, was die Erzählung dieser Geschichte beabsichtigt? Sieht Markus in Jesu Heilung in zwei Schritten ein Gleichnis für die eingeschränkte Sehkraft der Jünger? Es wird rechtmäßig behauptet, dass das Evangelium nach Markus nicht nur eine willkürliche Sammlung von Geschichten über Jesus darstellt. Der inspirierte Evangelist bietet seinen Lesern einige strukturelle Elemente, die für die Interpretation einzelner Berichte von Bedeutung sind.

Zum Beispiel erzählt Jesus die Verfluchung des Feigenbaums in zwei Teilen (11,12–14.20–25), wobei Jesu Ankündigung des unmittelbaren Gerichts über den Tempel dazwischen eingefügt ist (11,15–19). Es scheint klar zu sein, dass Markus die Geschichten als aufeinander bezogen erachtete. Das Feigenbaum-Ereignis ist also ein vorgeführtes Gleichnis, welches das Gericht des Herrn über das ungläubige Israel illustriert.

Außerdem ist der Abschnitt der Heilung in zwei Schritten die letzte literarische Einheit vor dem weitläufig anerkannten Marcion-Teil des Evangeliums, das sich von 8,27–10,52 erstreckt. Wir könnten diese Kapitel „Die falsche Herrlichkeit der Welt vs. der Weg des Kreuzes’’ nennen. Dieser Teil des Markusevangeliums beinhaltet ein dreifach wiederholtes Muster: (1) Jesus sagt seinen Tod voraus, (2) die Jünger missverstehen das Wesen wahrer Nachfolge, (3) Jesus lehrt, dass wahre Nachfolge kostspielig ist und Leiden beinhaltet.

Durch diese wiederholte literarische Struktur werden wir daran erinnert, dass die Jünger zu diesem Zeitpunkt der Geschichte ein unvollständiges und fehlerhaftes Verständnis des Dienstes Jesu und seiner Nachfolge haben. In gewisser Weise sehen sie seinen Dienst mit extremer Kurzsichtigkeit. Statt Jesus als den leidenden Knecht aus Jesaja zu sehen (Jes 53), haben sie mehrere falsche Auffassungen. Viele biblische Kommentatoren sehen hier eine Parallele zu der Heilung des blinden Mannes. Wenn sie richtig liegen, dann würde Markus hier sagen, dass die Jünger eine „zweite Berührung’’ durch Jesus brauchen (durch seinen fortwährenden Dienst und seine Lehre unter ihnen) um klarer zu sehen, wer er ist und wieso er kam.

Jesus klarer sehen lernen

„Wir müssen ihm glauben und ihn preisen, unabhängig davon, ob Jesu Wirken in einer wunderbaren Heilung zum Ausdruck kommt, oder einfach in der Gnade, das Leiden auszuhalten.“

 

Als heutige Leser des Markusevangliums können wir hieraus einige Schlussfolgerungen für uns selbst ziehen. Erstens ruft Jesus uns berechtigterweise auf, mit einer Haltung des Glaubens zu ihm zu kommen, nämlich im Vertrauen auf seine Macht, Güte und Liebe. Wir müssen ihm glauben und ihn preisen, unabhängig davon, ob Jesu Wirken in einer wunderbaren Heilung zum Ausdruck kommt, oder einfach in der Gnade, das Leiden auszuhalten.

Zudem wächst unser Glaube, wenn wir die Geschichten über Jesus in den Evangelien lesen, darüber nachdenken und darin die Macht, Güte und Liebe Gottes in Jesus offenbart sehen.

Zuletzt müssen wir uns daran erinnern, dass physische Heilung und geistliches Wachstum oft nicht gleichzeitig stattfinden. Wir müssen uns nah an Jesus halten und fortwährend auf ihn schauen, damit unsere körperlichen und geistlichen Bedürfnisse von ihm erfüllt werden können. Die Antworten auf unsere Gebete mögen schnell oder nach langem Warten kommen - möglicherweise auch erst im neuen Himmel und der neuen Erde. Ganz egal wie: Gottes Gnade ist genug (2Kor 12,9)