The Whole Counsel of God

Rezension von Adam Ch’ng
29. Juli 2020 — 8 Min Lesedauer

Nur wenige Evangelikale stellen heutzutage die Wichtigkeit der Auslegungspredigt in Frage. Viel weniger eindeutig ist jedoch unsere Bereitschaft, die ganze Bibel zu predigen – jeden Vers, jedes Kapitel und jedes Buch.

Alle festangestellten Prediger sollten sich das Ziel setzen, innerhalb eines Zeitraums von fünfunddreißig Jahren durch die ganze Bibel zu predigen.

 

In The Whole Councel of God erörtern Tim Patrick und Andrew Reid überzeugend, dass es nicht ausreicht, einfach aus der Bibel zu predigen. Wir müssen die ganze Bibel, so wie Gott sie offenbart hat, predigen. Dieses Buch ist einzigartig, da es nicht nur unsere individuelle Auslegungspredigt in den Blick nimmt, sondern unsere Predigtgewohnheiten auf einer höheren Ebene bewertet. Es plädiert für eine Predigt, die auslegend und seriatim ist, d.h. fortlaufend durch ganze Bibelbücher. Ausgehend von ihrer Erfahrung als Pastoren, Prediger und Theologen fordern Patrick und Reid dazu heraus, sich folgender Aufgabe als Prediger zu stellen: „Alle festangestellten Prediger sollten sich das Ziel setzen, innerhalb eines Zeitraums von fünfunddreißig Jahren durch die ganze Bibel zu predigen” (S. 81). Ohne Zweifel legen die Autoren die Messlatte hoch. Es folgt ein biblisch durchdachter und praktisch hilfreicher Leitfaden für Prediger, um sich dieser Herausforderung zuversichtlich zu stellen.

Das Buch besteht aus drei Teilen und zieht sich vom Warum zum Wie des Predigens der gesamten Bibel. In Teil 1 wird ein theologisches Fundament gelegt, das sich auf die kanonische Einheit der Bibel gründet. Im zweiten Teil liefern die Autoren einen Leitfaden, der erklärt, wie die ganze Bibel als „komplexes und einheitliches Buch“ (S. 88), das auf das Evangelium von Christus gerichtet ist, gepredigt werden kann. Die Kapitel 6–8 bilden den praktischen Innenteil und führen die Leser durch den systematischen Planungsprozess des Predigens der ganzen Bibel. Diese Kapitel enthalten hilfreiche Schaubilder und Predigtkalender, die auf einfache Weise in den jeweiligen Kontext der Leser angepasst werden können. Besonders hilfreich sind die Abbildungen, die die biblischen Bücher in sechs Kategorien, die sich gut predigen lassen, unterteilen. Im Gegensatz zu vielen geläufigen Unterteilungen, sind diese Kategorien kanonisch gut proportioniert: zwei Drittel Altes Testament, ein Drittel Neues Testament. Das Buch endet mit einer Reihe von praktischen und seelsorgerlichen Überlegungen, die das Predigen der ganzen Bibel in die lokale Gemeinde einbetten.

Eine Herausforderung für den überzeugten Auslegungsprediger

Durch das ganze Buch hindurch zeigen Patrick und Reid auf, dass ein Engagement hinsichtlich des Predigens der ganzen Bibel nicht gewährleistet ist, nur weil man sich zur Auslegungspredigt bekennt und diese praktiziert. In Kapitel 3 erläutern sie einige Beispiele, wie sogar überzeugte Auslegungsprediger an dieser Aufgabe scheitern können.

  • So z.B. ein Prediger, der sinngetreu auslegt, allerdings jede Woche einen anderen Teil der Bibel auswählt.
  • Oder die Predigtreihe, die immer nur einen Teil eines Bibelbuches abdeckt, aber dieses nie abschließt (z.B. Römer 1–8 ohne 9–16, Daniel 1–6 ohne 7–12 oder Offenbarung 2–3, aber keinen anderen Abschnitt aus dem Brief).
  • Oder die vielen Pastoren, die durch ganze Bücher hindurch predigen, aber nur diejenigen aussuchen, die ihnen vertraut sind.

Die Autoren warnen ebenso davor „Übersichts- oder Schwerpunkt-Reihen“ zu predigen, die große Passagen von Gesetz oder Schilderungen in nur wenigen Mustertexten zusammen fassen. So beispielsweise eine vierwöchige Predigtreihe durch 1. Mose 12–50 mit Predigten, die dem Leben von Abraham, Isaak, Jakob und Josef gewidmet sind.

Der Patchwork-Auslegungsprediger versagt in seinen Predigten nicht in seinem wöchentlichen Predigen, sondern langfristig betrachtet.

 

Was der Kritik der Autoren zugrunde liegt, ist eine prinzipiengetreue Überzeugung, dass die grundlegende Offenbarung sowohl die 66 Bücher des Kanons als auch die ganze Bibel als einheitlicher Text ist. Die oben genannten Beispiele von „Patchwork-Auslegungspredigten“ mögen unserer individuell ausgewählten Bibelstelle treu sein, aber nicht den Bibelbüchern, „wie sie geschrieben und zum Lesen beabsichtigt sind“ (S. 28). Es reicht nicht aus, dass unsere Predigten nur Kapitel und Verse auslegen. Sie müssen auch biblische Bücher und die Bibel als ein Buch auslegen. Der Patchwork-Auslegungsprediger versagt in seinen Predigten nicht in seinem wöchentlichen Predigen, sondern langfristig betrachtet. Patrick und Reid fordern uns heraus, nicht nur Wochen und Monate zu planen, sondern sogar Jahre im Voraus, um eine ausgeglichene Auswahl der ganzen Bibel zu predigen, wie Gott es vorsieht.

Es ist eigenartig, dass die Versäumnisse, die bei der Patchwork-Auslegungspredigt in diesem Buch aufgezeigt werden, die gleiche Kritik ist, die wir an der Themenpredigt üben: Loslösung vom Kontext und Unverhältnismäßigkeit. Unsere Versäumnisse liegen jedoch nicht darin, wie wir individuelle Stellen predigen, sondern darin, welche Stellen wir zum Predigen wählen. Paradoxerweise macht sich der überzeugte Auslegungsprediger der gleichen Fehler schuldig wie der Themenprediger – allerdings auf einem höheren Level.

Kapitel 3 bietet eine nützliche Diagnose, die jeder Prediger gebrauchen sollte, um seine Vorgehensweise zu hinterfragen. Sogar der überzeugteste Auslegungsprediger wird hierbei herausgefordert und eventuell sogar leicht zurechtgewiesen.

Eine Herausforderung für den langfristigen Prediger

Patrick und Reid wenden sich mit ihrer Herausforderung an alle festangestellten Prediger, nehmen jedoch in erster Linie Langzeitprediger einer einzelnen Gemeinde ins Visier. Leser, auf die dies nicht zutrifft, fühlen sich womöglich leicht benachteiligt, wenn sie sich dieser Herausforderung stellen.

Die Vorteile vom Predigen der ganzen Bibel, wofür in diesem Buch plädiert wird, scheinen vom langfristigen Einsatz eines einzelnen Predigers in einer einzelnen Gemeinde abhängig zu sein. Es ist schließlich von geringem Nutzen, wenn ein Pastor erfolgreich die ganze Bibel über einen Zeitraum von 35 Jahren predigt, aber dieser so häufig umzieht, dass nie eine einzelne Gemeinde den Nutzen aus seinem Dienst zieht. Die Autoren räumen ein, dass „es für die Gemeinde von unermesslichem Wert ist, eine theologische Kontinuität durch den gleichen Pastor zu haben, der zu ihnen über einen langen Zeitraum predigt“ (S. 218). Die durchschnittliche Beschäftigungsdauer eines Pastors in Australien liegt jedoch bei nur 3–5 Jahren (das gilt auch für Deutschland, Anm. d. Red.), in welchen das Projekt, die ganze Bibel zu predigen, nicht wirklich umsetzbar ist. Um die Herausforderung dieses Buches erfolgreich umzusetzen und als Gemeinde umfassend in den Genuss der Vorteile zu kommen, müssen Pastoren bereit sein, einen langfristigen Predigtdienst am gleichen Ort in Betracht zu ziehen. Eine noch mehr „gewagte“ und fast schon „unverschämte“ Herausforderung wäre es, über einen Zeitraum von 35 Jahren in einer Gemeinde durch die ganze Bibel zu predigen.

Verständlicherweise gehen die Autoren nicht ganz so weit und geben zu, dass dieses langfristige Ideal nicht immer möglich ist. Selbst wenn der Prediger für 35 Jahre bleibt, so gilt dies möglicherweise nicht für die Gemeindemitglieder. Beide Autoren waren in Studentengemeinden tätig, in denen die Mitglieder alle drei Jahre wechselten. Für einen solchen Kontext empfehlen sie eine langfristige Ausrichtung mit einer ausgeglichen Auswahl von biblischen Büchern für einen Zeitraum von drei Jahren. Nichtsdestotrotz scheint es, dass der Nutzen des Predigens der ganzen Bibel durch aufeinander folgende kurzfristige Predigtdienste untergraben werden kann.

All diese Gesichtspunkte weisen darauf hin, dass die Herausforderung dieses Buches nicht allein von Predigern, sondern von Gemeinden angegangen werden sollte. Immerhin ist das Predigen der ganzen Bibel kein Verdienstabzeichen für die Selbstverwirklichung des Predigers, sondern ein Instrument, das die Reife der Gemeinde zum Ziel hat - „unser Ziel beim Predigen ist es, zu dienen und nicht zu beeindrucken” (S. 235). Es geht bei der Herausforderung nicht darum, dass der Pastor erfolgreich die ganze Bibel predigt, sondern darum, dass die Gemeinde die ganze Bibel predigen hört. Sofern der Pastor sich nicht für 35 Jahre in der einen Gemeinde engagiert, liegt es an der Gemeinde, sich zu einer fortlaufenden Auslegung der ganzen Bibel zu verpflichten, egal wer auf der Kanzel steht.

Ist die Herausforderung zu groß?

Man kann sich fragen, ob Patrick und Reid die Messlatte nicht zu hoch legen. Ich denke nicht. Das Level, für das sie plädieren, ist kein größeres und definitiv kein geringeres als das, was die Bibel fordert. Ob der Leser sich nun der Herausforderung als Ganzes annimmt oder nicht, wird dieses Buch ihn doch dafür vorbereiten, die Bibel so zu predigen, wie sie immer gepredigt werden sollte.

„Dieses Buch ist ein Muss für alle Prediger, egal auf welchem Niveau, und sollte jedem Theologiestudenten mit auf den Weg gegeben werden.“

 

Dieses Buch ist ein Muss für alle Prediger, egal auf welchem Niveau, und sollte jedem Theologiestudenten mit auf den Weg gegeben werden. Mit Klarheit, Ehrgeiz und Weitsicht stellt es ein Programm für lebenslanges Predigen auf, damit Gottes Volk nicht nur einen Teil, sondern das ganze Wort Gottes zu hören bekommt. Auch ältere Prediger, die nicht mehr so viele Jahre vor sich haben, um diese Herausforderung abzuschließen, werden Nutzen daraus ziehen, wenn sie damit loslegen und es an ihre Nachfolger weiter geben.

Ich habe vor, mich dieser Herausforderung zu stellen und bete, dass viele andere Prediger es mir gleich tun. Mögen wir, wenn wir ans Ende unseres Predigeramtes kommen, wie Paulus unseren Gemeinden bekennen: „Ich habe nicht unterlassen, euch den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen” (Apg 20,27).

Buch

Tim Patrick, Andrew Reid. The Whole Counsel of God: Why and How to Preach the Entire Bible. Wheaton: Crossway, 2020. 256 S., ca. 18,00 Euro.