Post-evangelikaler Glaube

– noch seichter als der Evangelikalismus, den ich verlassen hatte

Artikel von Ian Harber
21. August 2020 — 11 Min Lesedauer

In Johannes 6 wird berichtet, wie sich aufgrund von Jesu harter Lehre viele seiner Nachfolger von ihm abwandten. Nachdem sie gegangen waren, fragte Jesus seine verbleibenden Jünger: „Wollt ihr nicht auch weggehen?“ (Joh 6,67). Petrus – dem es sicherlich das Herz brach, als er mit ansehen musste, wie so viele von seinen Bekannten den einen, den er „Herr“ nannte, verließen, und der das alles wohl sehr beschämend fand – dieser Petrus ergriff das Wort: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Christus bist, der Sohn des lebendigen Gottes!“ (Joh 6,68–69).

Das ist auch meine Geschichte. Ich kenne beide Seiten aus der Innenperspektive. Denn ich war sowohl in den Schuhen derer unterwegs, die weggegangen sind, als auch in den Schuhen des Petrus. Jenes Petrus, der einfach nicht weggehen konnte – ganz egal, wie viel das Bleiben kosten würde. Ich war ein #exvangelical, der den Glauben seiner Jugend hinter sich zurückließ, um sich einem „post-evangelikalen“ Christentum zuzuwenden. Aber dann kehrte ich wieder zurück. Hier nun meine #revangelical-Story:

Wie mein Glaube zerbröckelte

Die christliche Tradition, in der ich aufwuchs, hatte – trotz all der guten Dinge, die sie mir mitgab – ein Problem: Sie war nicht auf eine Generation von Kindern und Jugendlichen mit Zugang zu Highspeed-Internet vorbereitet. Die Kritik an der Bibel, die wir online entdeckten, war zwar nichts Neues. Aber sie war jetzt nur noch einen Mausklick weit entfernt für neugierige Leute, die ansonsten in einer evangelikalen Käseglocke aufwuchsen. Für Leute wie mich. Plötzlich schienen die Antworten, die man in der Gemeinde bekam, seicht im Vergleich mit der legitimen Kritik, die per Google-Suche oder als YouTube-Video leicht zu finden war.

  • Was ist mit den Widersprüchen und den naturwissenschaftlichen Ungereimtheiten in bestimmten biblischen Geschichten?
  • Wie können uns jene Passagen kalt lassen, in denen Gott Israel befiehlt, ihre Feinde mitsamt deren Kindern abzuschlachten?
  • Wie kann ein liebender Gott seine geliebte Schöpfung zu ewiger Qual verdammen?
  • Was ist mit all den anderen Religionen? Sagen sie nicht im Grunde alle dasselbe?

Diese Fragen – und noch einige mehr – begannen, die Autorität der Geschichten zu untergraben, die mir als Kind erzählt worden waren. Und ich hinterfragte nicht nur die Bibel an sich. Ich hinterfragte auch, wie die vorherrschende politische Überzeugung meiner Gemeinde mit der Bibel zusammenpasste:

  • Warum sah es so aus, als ob gerade diese Politik die armen und ausgegrenzten Gruppierungen benachteiligte?
  • Warum war es normal, in der Gemeinde Christen zu sehen, die ihrer abwertenden Haltung gegenüber Immigranten freien Lauf ließen – wenn diese Menschen doch ebenso im Bild Gottes geschaffen sind und in meiner Heimatstadt in Texas einfach ein besseres Leben suchten?
  • Sicherlich ist Abtreibung ein wichtiges Thema, aber vielleicht sollten wir uns auch um diejenigen Gedanken machen, die schon geboren sind und im Leid leben?

Nach und nach drängte sich mir die Überzeugung auf, dass die Dinge wohl etwas komplizierter sein mussten als das, was man mir erzählt hatte. So gab ich schließlich den Glauben komplett auf. Ich wollte nichts mehr mit Jesus oder der Gemeinde zu tun haben.

Interessanterweise geschah es in einer Phase der Trauer, dass Gott langsam in mein Leben zurückkehrte – als ich nämlich erfuhr, dass meine Mutter, mit der ich mich zerstritten hatte, gestorben war. Doch in meiner evangelikalen Umgebung gab es keine substanzielle Theologie des Leids. Leid war etwas, das man vermeiden oder aus der Welt schaffen musste, aber kein Werkzeug der verändernden Gnade Gottes in unserem Leben.

Diese drei Fragenkomplexe – in Bezug auf die Bibel, die Politik und das Leid – legten bei mir die Grundlage dafür, mich mit dem post-evangelikalen Christentum zu befassen.

Dekonstruktion ohne Rekonstruktion

Ich las Velvet Elvis und Love Wins (dt. Das letzte Wort hat die Liebe) von Rob Bell. Ich las Blue Like Jazz von Donald Miller. Jener Abschnitt aus Blue Like Jazz steht mir heute noch vor Augen, der vor mir eine Welt der Gnade eröffnete, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte – aber zugleich eine Welt, in der es keine orthodoxe Lehre mehr gab. Da ich ein Fan von Michael Gungor war, fing ich an, seinen neuen Podcast The Liturgists anzuhören.

Die Ansichten, die mir dort begegneten, waren faszinierend: Man musste sich nicht von der Wissenschaft verabschieden, um an der Bibel festzuhalten! Falls sich das Gebet so anfühlte, als würde man Geld in einen Automaten werfen, um etwas dafür zu bekommen, dann eröffnete die Mystik einen neuen Weg, um dem Göttlichen zu begegnen! Der Glaube konnte die Politik inspirieren, was auch beinhaltete, sich um Randgruppen zu kümmern. Und vor allem: Als ich die Dekonstruktions-Geschichten von Gungor und „Science Mike“ McHargue hörte, hörte ich darin meine eigene Geschichte. Hier fand ich Leute, die wussten, wie es ist, seinen Glauben zu dekonstruieren und ihn dann ganz von vorne wieder aufzubauen.

„Es ist eine einfache, unverantwortliche, gefährliche und trennende Sache, Menschen zur Dekonstruktion ihres Glaubens anzuleiten, ohne ihnen dann auch zu helfen, ihn neu zusammenzusetzen.“
 

Aber dann stieß ich auf ein Problem: Je mehr ich las und hörte, desto klarer wurde mir, dass ich für einen solchen Wiederaufbau nichts in der Hand hatte – und dass ich von diesen Leuten auch nichts bekam. Jeglicher Glaube, den ich einmal gehabt hatte, war gründlich demontiert worden und lag in seinen Einzelteilen offen vor mir am Boden, wartete auf eine konstruktive Überprüfung. Aber es gab keine Hilfestellung, hier wieder irgendetwas zusammenzusetzen. Es ist eine einfache, unverantwortliche, gefährliche und trennende Sache, Menschen zur Dekonstruktion ihres Glaubens anzuleiten, ohne ihnen dann auch zu helfen, ihn neu zusammenzusetzen. Das Ziel einer Dekonstruktion sollte größere Treue zu Jesus sein, nicht nur Selbsterfahrung oder die Präsentation der eigenen Vortrefflichkeit.

Im weiteren Verlauf ihrer Reise gingen The Liturgists immer mehr im Gleichschritt mit dem progressiven Programm der politischen Linken. Das erinnerte mich an die Konformität der konservativen Christen mit den Republikanern: Was auch immer diese Partei erzählte, glaubte man. Gegen Ende der Präsidentschaftswahl 2016 machte ich eine seltsame Erfahrung. Ich war von der Richtigkeit der progressiven Anliegen für das Land überzeugt, aber mir fiel auch auf, dass man dort die gleichen Lackmustests verwendete, die die konservativen Evangelikalen meiner Jugend verwendet hatten – nur jetzt anders herum. Wenn man hier die Sexualethik hochhielt, die von Christen jahrhundertelang vertreten worden war, dann war man ein rückwärtsgerichteter Frömmler. War man der Meinung, Abtreibung sei moralisch falsch, dann war man frauenfeindlich.

Die Progressiven waren ebenso fundamentalistisch geworden wie die von ihnen verachteten Fundamentalisten. Nur waren jetzt nicht mehr die traditionellen Werte der Maßstab für den Lackmustest, sondern die Sensibilität für Themen wie soziale Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung. Wenn man mit der Parteilinie der progressiven Orthodoxie nicht konform ging, war man ein Geächteter. Ein Häretiker.

„Progressives“ Label, aber das gleiche oberflächliche Geschwätz

Mir waren die Gefahren des moralistisch-therapeutischen Deismus (MTD) – einer Ansicht, die das amerikanische Christentum unterschwellig weithin durchdrungen hat – bewusst. Der MTD geht davon aus, dass Gott einfach nur möchte, dass wir ein anständiges Leben führen und glücklich sind, und dass er sich uns nicht aufdrängt. Eigentlich hatte ich mich dem Post-Evangelikalismus zugewandt, weil ich hier einen Gegenpol zu dieser seichten Spielart des Glaubens sah. Aber was ich letztendlich vorfand, war genau das Gleiche – nur mit neu definierten Richtwerten.

„Gerechtigkeit“ war die neue Moral. Der neue Weg zum Glück hieß Therapie. Der Aufschrei der öffentlichen Meinung ersetzte wirkungsvoll die Gemeindezucht. Und wie beim MTD war praktischerweise kein persönlicher Gott im Spiel, der irgendwelche sinnvollen Anforderungen an mein Leben hätte stellen können. In dieser „progressiven“ Spielart des MTD bleibt am Ende nur das, was das geflügelte Wort von Elizabeth Gilbert aussagt: „Gott wohnt in dir, als du“ (aus Eat, Pray, Love). Es gibt keine Möglichkeit, zwischen uns selbst und Gott zu unterscheiden. In diesem Paradigma sind wir Gott.

Es ist übrigens nicht so, dass ich gegen Gerechtigkeit oder gegen Therapien wäre. Systemimmanente Ungerechtigkeit ist real, und es ist gut, dass das Thema jetzt auf dem Tisch ist. Ich war selbst zwei Jahre lang während meiner College-Zeit in Therapie, und ich denke, dass von einem solchen Schritt fast jeder profitieren könnte.

Aber das alles ist kein angemessener Ersatz für die ewige Liebe des dreieinigen Gottes.

Mark Sayers beschreibt die progressive Vision für die Welt als „das Königreich ohne den König“. Wir wollen alle Segnungen, die Gott gibt – aber ohne uns seiner liebenden Herrschaft unterzuordnen. Wir wollen Fortschritt – ohne seine Gegenwart. Wir wollen Gerechtigkeit – aber keine Rechtfertigung. Wir wollen die horizontalen Auswirkungen des Evangeliums auf unsere Gesellschaft – ohne die vertikale Versöhnung von Sündern mit Gott. Wir wollen, dass die Gesellschaft unsere Standards für moralisches Handeln übernimmt – aber wehren uns gegen Gottes Standard für persönliche Heiligkeit.

Eine Reise zurück zum orthodoxen Glauben

Nach der Wahl 2016 kam ich zu der Überzeugung, dass es jetzt an der Zeit war, meinen Glauben wieder aufzubauen. Wenige Monate später passierten zwei Dinge gleichzeitig: Ich begann eine theologische Ausbildung und ich verlor durch einen tragischen Unfall meinen Großvater, bei dem ich aufgewachsen war. Sein Tod warf mich erneut in eine Phase der intensiven Leiderfahrung, aber diesmal befand ich mich in einem theologisch soliden Umfeld.

Einer meiner Lehrer sagte: „Wir betreiben im Licht Theologie, damit wir auch im Dunkeln auf ihr stehen können.“ Ich betrieb Theologie und stand zugleich im Dunkeln auf ihr. Zum ersten Mal lernte ich, die Lehren über die Dreieinigkeit und über die Schrift als einheitliches Ganzes zu verstehen. Ich lernte, wie man die Bibel als inspirierten Text liest. Ich lernte, wie Lehren, die ich als widersprüchlich betrachtet hatte – beispielsweise den stellvertretenden Sühnetod Christi und den „Christus Victor“ –, sich in Wirklichkeit ergänzten, um uns das vollständige, herrliche, biblische Bild vor Augen zu malen. Ich lernte, was Einheit mit Christus bedeutet und welche Segnungen sie mit sich bringt. Ich lernte etwas über gute geistliche Angewohnheiten und welch eine lebensspendende Freiheit aus einer disziplinierten Nachfolge Gottes entspringt. Von dort aus eröffnete sich mir die weite und reiche Welt der christlichen Lehre über die Jahrhunderte hinweg – und lud zum Entdecken ein.

Meine Geschichte ist nicht einmalig. Im Gegenteil, solche Berichte werden immer häufiger.

Ich habe daher zwei Bitten an Pastoren:

  1. Judas fordert auf: „Und mit den einen, die sich in Zweifeln befinden, habt Mitleid“ (Jud 22; nach Menge 1939). Reagiere auf Zweifel, Fragen oder Einwände nicht schroff, herablassend oder mit oberflächlichen Antworten. Bleibe auch bei schwierigen Fragen geduldig und arbeite gemeinsam mit deinen Leuten daran, umfassende und differenzierte Antworten zu finden.
  2. Lehre den Reichtum der christlichen Tradition. Gib dich nicht mit den Wohlfühl-Plattitüden des MTD zufrieden, als Anleitung für ein besseres Leben. Gib komplexe Antworten auf komplexe Fragen. Zeige, wie Jesus – der genialste Mensch, der je gelebt hat – sich zu jedem Aspekt des Lebens und der Gesellschaft mit Mitgefühl, Liebe und Gnade äußert.

Wir brauchen mehr Theologie, differenzierte Betrachtung, Gnade, Mitgefühl und Verstehen in unseren Gemeinden, nicht weniger. Doch diese Dinge werden durch die althergebrachte orthodoxe Lehre ermöglicht, nicht, indem man sie ablegt. Zweifel und Fragen müssen nicht der Auslöser dafür sein, dass sich jemand vom Glauben weg dem Unglauben zuwendet. Wenn man sich Zweifeln und Fragen im Rahmen einer gesunden und tiefgründigen christlichen Gemeinschaft stellt – und in einer bleibenden Verbindung zu Christus, unserem wahren Weinstock (vgl. Joh 15) –, dann können sie sogar den Glauben vertiefen und unsere Wurzeln verstärken, woraus wiederum ein Leben erwächst, in dem wir Frucht bringen und auch angesichts der stürmischen Winde eines säkularen Zeitalters standhalten können.

„Wir brauchen mehr Theologie, differenzierte Betrachtung, Gnade, Mitgefühl und Verstehen in unseren Gemeinden, nicht weniger. Doch diese Dinge werden durch die althergebrachte orthodoxe Lehre ermöglicht“
 

Der Glaubensweg ist bei allen Menschen kurvenreich und komplex. Aber Gott ist Gott und sein Weg bleibt, auch wenn wir uns eine Zeit lang auf einem Umweg befinden sollten. In unserer heutigen Welt gibt es mehr Wege als jemals zuvor – mehr Möglichkeiten, eine spirituelle „Erleuchtung“ zu finden oder sich seine persönliche Variante des Glaubens zurechtzuzimmern. Aber keiner dieser Wege führt zu wahrer Freude und ewigem Leben, sondern einzig der Weg, der Jesus – und nur Jesus allein – ist (Joh 14,6). Er ist enger als uns vielleicht lieb ist (Mt 7,13), aber er ist weitaus erfüllender als wir uns vorstellen können (Ps 16,11).

Auf meinem Weg habe ich wie Petrus entdeckt, dass „seine göttliche Kraft uns alles geschenkt hat, was zum Leben und [zum Wandel in] Gottesfurcht dient, durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch [seine] Herrlichkeit und Tugend“ (2Petr 1,3). Wir haben in Christus alles, was wir brauchen. Warum den Bereich des Glaubens verlassen, „der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist“ (Jud 3), um irgendwo Leben zu finden? Jesus hat die Worte des Lebens. Er ist das Leben. Die Wahrheit. Der Weg. Wohin sonst sollten wir gehen?