Geistlicher Missbrauch

Eine Epidemie im Verborgenen

Artikel von Steve Hoppe
26. August 2020 — 6 Min Lesedauer

Tom bestimmt das äußere Erscheinungsbild seiner Frau Sarah bis ins kleinste Detail, wie es seinem persönlichen Geschmack entspricht. Er sucht ihre Kleidung aus, sagt ihr, wie sie sich die Haare machen soll, und schränkt ihre Ernährung ein, damit sie schlank bleibt. Wenn Sarah ihm sein Kontrollverhalten vorhält, zitiert er Epheser 5,22: „Ihr Frauen, ordnet euch euren eigenen Männern unter als dem Herrn.“

Miranda ist eine überfürsorgliche Mutter. Sie unterrichtet ihre 17-jährige Tochter Kate zu Hause, um zu verhindern, dass sie mit rebellischen Teenagern in Kontakt kommt. Sie erlaubt ihr nicht, Sport zu treiben, an Tanzveranstaltungen teilzunehmen oder ihren Führerschein zu machen. Sie zitiert 1. Korinther 15,33 als ihre Rechtfertigung für diese Art von Erziehung: „Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten!“

Bill zwingt seine Frau Angie gegen ihren Willen zum Sex. Er ist grob im Bett und schlägt sie gelegentlich, wenn sie intim sind. Die Erlaubnis dafür sieht er in 1. Korinther 7,4: „Die Frau verfügt nicht selbst über ihren Leib, sondern der Mann.“

Was haben diese drei Szenarien gemeinsam? Ein Ehepartner oder ein Elternteil übt geistlichen Missbrauch in der Familie aus. Auch wenn diese Beispiele vielleicht extrem scheinen, kann ich versichern, dass sie es nicht sind. Während meiner Zeit als Eheberater und Pastor habe ich Fälle von geistlichem Missbrauch in der Familie gesehen, bei denen es dir kalt den Rücken herunterlaufen würde.

Was ist geistlicher Missbrauch in der Familie?

Bevor wir uns näher mit der Problematik befassen, sollten wir definieren, was geistlicher Missbrauch in der Familie ist. Unter geistlichem Missbrauch in der Familie versteht man die Verwendung der Heiligen Schrift, biblischer Prinzipien oder der eigenen geistlichen Autorität, um ein Familienmitglied aus egoistischen Motiven zu kontrollieren.

Dieser Missbrauch kann sexueller (Bill), physischer (auch Bill), sozialer (Miranda), emotionaler (Tom), verbaler, finanzieller und/oder psychischer Natur sein – aber der Punkt ist, dass der Täter das Christentum benutzt, um dieses Verhalten zu rechtfertigen. Das harte Herz des Täters veranlasst seinen Verstand, die Heilige Schrift durch eine getrübte, eigennützige Linse zu interpretieren. Es verzerrt die biblische Wahrheit und verdrängt das Größte Gebot, Gott und den Nächsten zu lieben (Mt 22,36–40).

Warum kommt das so häufig in der Familie vor?

Warum neigt geistlicher Missbrauch so häufig dazu, sein hässliches Haupt innerhalb der Familie zu erheben? Aus zwei Gründen:

Erstens haben Familienmitglieder eine enorme Beziehungmacht – die Fähigkeit, uns auf Anhieb Freude, Leid und alles dazwischen zu bescheren. Da Familienmitglieder uns so stark beeinflussen, ist es verlockend, zu versuchen, sie zu kontrollieren. Wer innerhalb der Familie geistlich missbraucht, gibt dieser bösen Versuchung nach.

Zweitens ist es relativ einfach, damit durchzukommen. Freunde, Verwandte, die Kirche und die Justizbehörden können nicht sehen, was hinter verschlossenen Türen und Fenstern passiert. Das macht es fast unmöglich, geistlichen Missbrauch in der Familie zu beweisen – was den Tätern sehr entgegenkommt.

Wie sieht geistlicher Missbrauch in der Familie aus?

Obwohl jede Familie und jede Situation einzigartig ist, seien hier 15 Anzeichen genannt, die darauf hindeuten können, dass in deinem Haushalt geistlicher Missbrauch stattfindet. Diese Liste ist sicherlich nicht erschöpfend, aber sie ist ein Anfang.

Möglicherweise erlebst du geistlichen Missbrauch durch einen Ehepartner oder Elternteil, wenn er oder sie im Namen des Christentums eines der folgenden Dinge tut:

  1. dir körperlichen Schaden zufügt;
  2. dich zu sexuellen Aktivitäten drängt;
  3. dich beleidigt oder beschimpft;
  4. dich von deiner Familie isoliert;
  5. dich bedroht;
  6. deine Freundschaften sabotiert;
  7. deine Möglichkeit beschneidet, Informationen bezüglich finanzieller Dinge zu erhalten;
  8. dich dazu zwingt, eine Diät zu machen oder zu trainieren;
  9. dich davon abhält, arbeiten zu gehen;
  10. deine Emails oder deine Aktivitäten in den Sozialen Medien kontrolliert;
  11. dir sagt, was du in Kleingruppen, in der Gemeinde oder anderen sozialen Settings sagen darfst und was nicht;
  12. dich in Zimmer, Schränke oder im Keller einsperrt;
  13. dir deine Möglichkeiten, mobil zu sein, wegnimmt;
  14. deinen Kontakt zu Seelsorgern, Mentoren oder anderen Personen, die dir in geistlichen Dingen Rat geben könnten, blockiert;
  15. dich für deine Sünden bestraft.

Und ja, mir sind alle diese Formen begegnet. Alle im Namen des Christentums.

Gott hasst geistlichen Missbrauch in der Familie

Wie sieht Gott geistlichen Missbrauch in der Familie? Er hasst ihn. Er hasst jede Art von geistlichem Missbrauch. In Titus 1 tadelt Paulus die Judenchristen, die – um selbstsüchtigen Gewinn zu erlangen – Irrlehre verbreiteten (was sehr nach geistlichem Missbrauch klingt, oder?:

„Denn es gibt viele widerspenstige und leere Schwätzer und Verführer, besonders die aus der Beschneidung. Denen muss man den Mund stopfen, denn sie bringen ganze Häuser durcheinander mit ihrem ungehörigen Lehren um schändlichen Gewinnes willen … Sie geben vor, Gott zu kennen, aber mit den Werken verleugnen sie ihn, da sie verabscheuungswürdig und ungehorsam und zu jedem guten Werk untüchtig sind.“ (Titus 1,10–11+16)

Gott verabscheut geistlichen Missbrauch.

Das Schweigen brechen

Auch wenn geistlicher Missbrauch seit Jahrhunderten in Familien stattfindet, melden sich nur wenige Betroffene. Warum schweigen sie? Aus mindestens drei Gründen:

Erstens wissen einige Betroffene überhaupt nicht, dass sie missbraucht werden. Sie sind vielleicht noch jung im Glauben und naiv im Hinblick auf das, was die Bibel tatsächlich lehrt. Oder sie kommen vielleicht aus einem ähnlich geistlich missbrauchenden Elternhaus und denken, dieses Verhalten sei normal. Es kann auch sein, dass sie den Täter sehr lieben und deswegen die Augen davor verschließen, dass es sich um Missbrauch handelt. Ganz gleich aus welchem Grund, viele Opfer erkennen den geistlichen Missbrauch in ihrer Familie nicht. Deshalb sagen sie nichts.

Zweitens befürchten Betroffene zuweilen, dass ihnen sowieso niemand glauben wird. Bei den Tätern handelt es sich oft um geachtete Gemeindepersönlichkeiten – Älteste, Pastoren, als vorbildlich erachtete Eltern, Bereichsleiter in der Gemeinde. Sie verfügen im Hinblick auf die Öffentlichkeit über geistliches und beziehungsmäßiges Sozialkapital, das den Betroffenen oft fehlt. Verständlicherweise kann es sein, dass Betroffene davon ausgehen, die Gemeinde werde sich auf die Seite der „geistlich reifen“ Missbraucher stellen. Deshalb halten sie ihren Mund.

Drittens haben Betroffene oft Angst. Wird das Ansprechen des Problems ihre Familie spalten? Wird der Missbrauchende die Anschuldigungen nicht nur abstreiten, sondern das Opfer anschließend sogar noch mehr unter Druck setzen, weil es sich zu Wort gemeldet hat? Wird der Missbraucher es als geistlich unreif, verrückt, verblendet oder böse darstellen? Diese und viele andere berechtigte Bedenken hindern Betroffene oft daran, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Pastoren und Gemeindeleiter – es ist längst überfällig, dass wir uns gegen alle Formen des Missbrauchs zur Wehr setzen! Dazu gehört auch der geistliche Missbrauch in der Gemeinde und zu Hause. Geistlicher Missbrauch in der Familie kommt viel häufiger vor als ihr denkt. Er verletzt täglich unschuldige Schafe. Er zerstört das Gefüge von Familien und Gemeinden.

Auch wenn geistlicher Missbrauch in der Familie vielleicht nie einen Hashtag erhalten wird, sollten wir unseren Teil dazu beitragen, diesem ein Ende zu setzen.