Glauben wir an das ganze Evangelium?
Unglaube. Dieses eine Wort bringt das Urteil, das der Schweizer „Krisentheologe“ Emil Brunner über die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts ausgesprochen hat, auf den Punkt. Das Aufkommen des Liberalismus war eine gewollte Synthese zwischen dem Naturalismus aus der Welt der Philosophie und dem historischen Christentum. Der Liberalismus zielte darauf ab, den christlichen Glauben zu entmystifizieren, d.h. Übernatürliches wegzuerklären. Er wollte die moderne Bedeutung von Jesus und dem Neuen Testament auf ethische Anweisungen reduzieren, besonders in Bezug auf die Bedürfnisse der Menschen, und dabei besonders in Bezug auf ihre materiellen Bedürfnisse.
Dies provozierte ein wichtiges Dilemma für die organisierte Kirche, zuerst in Europa und später auch in Amerika. Was passiert, wenn eine Institution die Grundlage verleugnet, auf der sie gebaut ist und für die sie existiert? Was geschieht dann mit dem Reichtum der Kirchen und den zahlreichen ordinierten Pastoren? Der Klerus konnte nichts weiter predigen als soziale Anliegen. Um einen Grund für die weitere Existenz des Christentums als organisierte Religion zu liefern, erfand der Liberalismus des 19. Jahrhunderts ein neues Evangelium, das wir auch „Soziales Evangelium“ nennen. Dies war ein Evangelium, das sich auf humanitäre Überlegungen konzentrierte. Im Kern der Agenda stand die Verpflichtung zur „Sozialen Gerechtigkeit“.
Der Gebrauch des Begriffs „Soziale Gerechtigkeit“ umfasste eine ironische Wortverdrehung. Was diese Philosophie wollte, war im Grunde die Neuverteilung des Reichtums nach dem Muster des Sozialismus. Die falsche Annahme dieser sogenannten Sozialen Gerechtigkeit war, dass materieller Wohlstand nur erlangt werden könnte, wenn man die Armen ausbeutet. Deshalb müsse der Reichtum durch die Autorität der Regierung neu verteilt werden, um eine Gesellschaft gerecht zu machen. In Wirklichkeit degenerierte diese Soziale Gerechtigkeit zu sozialer Ungerechtigkeit, indem diejenigen, die in fairer Weise produktiv waren, bestraft wurden. Unproduktivität wurde belohnt – ein wirklich bizarres Konzept von Gerechtigkeit.
„Wenn man das Christentum entweder auf ein Programm des sozialen Wohlstands oder auf ein Programm der persönlichen Erlösung reduziert, führt das zu einem verkürzten Evangelium.“
Die zunehmende Bedeutung des Sozialen Evangeliums provozierte eine Kontroverse, die in der Kirchengeschichte als Kontroverse zwischen den Modernisten und den Fundamentalisten bekannt geworden ist und in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts tobte. Diese Kontroverse bezeugte eine unheilige Dichotomie zwischen zwei Polen des christlichen Engagements. Auf der einen Seite gab es das klassische Anliegen für die persönliche Erlösung, die durch den Sühnetod Christi am Kreuz erlangt wurde und zur Versöhnung für diejenigen führt, die ihr Vertrauen auf Jesus setzen. Auf der anderen Seite gab es die Sorge um das materielle Wohl der Menschen im Hier und Jetzt. Das schloss das Streben ein, die Nackten zu bekleiden, die Hungrigen zu speisen, den Obdachlosen Schutz zu bieten und sich um die Armen zu sorgen.
Viele Evangelikale betonten in dieser Epoche die Evangelisation neu, um die zentrale Bedeutung der Verkündigung des Evangeliums zu bewahren. Oft geschah diese Betonung auf Evangelisationen unter Ausschluss des anderen Pols des biblischen Anliegens, nämlich der Barmherzigkeit im Umgang mit den Armen, Bedrängten und Leidtragenden. Die Dichotomie zwischen den liberalen und den evangelikalen Anliegen war so eklatant, dass viele Evangelikale traurigerweise anfingen, sich von jedem Dienst der Barmherzigkeit zu distanzieren, damit ihre Aktivitäten nicht als Kapitulation vor dem Liberalismus hingestellt werden konnten.
Dieses falsche Dilemma zwingt einen, sich zwischen zwei Wahrheiten zu entscheiden. Die Annahme des Entweder-Oder-Fehlschlusses ist es, dass in Bezug auf zwei Angelegenheiten jeweils nur eine wahr und die andere falsch sein muss. Deshalb müsse man sich zwischen dem Wahren und dem Falschen entscheiden. Der Entweder-Oder-Fehlschluss, vor dem die Kirche in dieser Zeitperiode stand, bedeutete, entweder das Evangelium der persönlichen Erlösung oder das Evangelium des sozialen Anliegens weiterzugeben.
Selbst ein oberflächliches Lesen des Neuen Testaments macht freilich deutlich, dass das Anliegen Jesu und den Schreibern des Neuen Testaments nicht auf ein Entweder-Oder-Dilemma reduziert werden kann. Das Problem mit diesem Fehlschluss, wie mit allen Fehlschlüssen, ist, dass die Wahrheit entstellt wird. Das Neue Testament will dieses falsche Dilemma nicht. Die Kirche muss nicht zwischen persönlicher Errettung und den Diensten der Barmherzigkeit wählen. Stattdessen finden wir Sowohl-als-auch-Aussagen. Der eine Pol darf den anderen nicht verschlucken. Wenn man das Christentum entweder auf ein Programm des sozialen Wohlstands oder auf ein Programm der persönlichen Erlösung reduziert, führt das zu einem verkürzten Evangelium. Das ist eine sehr weitgehende Verzerrung.
Historisch gesehen rang die Kirche vor dem Ausbruch des Liberalismus im 19. Jahrhundert nicht mit dieser falschen Dichotomie. Sie hatte verstanden, dass die Verkündigung des rettenden Evangeliums vom Sühnewerk Christi und die Nachahmung von Jesu Vorbild im Dienst an den Blinden, Tauben, Gefangenen, Hungrigen, Obdachlosen und Armen zusammengehören. Der Dienst der Gemeinde muss, wenn er gesund sein will, immer fest auf beide Dimensionen des biblischen Mandats ausgerichtet sein. Nur dann sind wir Christus gegenüber treu. Wenn wir zwischen dem Dienst der persönlichen Errettung und dem Dienst der Barmherzigkeit wählen, drücken wir damit unseren „Unglauben“ aus.