Vier Vitamine für eine gesunde Predigt

Artikel von Joel Beeke und Paul M. Smalley
12. Oktober 2020 — 7 Min Lesedauer

Evangelikale Christen befinden sich heute in der glücklichen Lage, das Wiederaufleben der biblischen Predigt miterleben zu können. Dafür sollten wir dankbar sein. Das Predigen der Schrift ist die altbekannte Herangehensweise großer Diener Gottes in der Geschichte der Christenheit. So sahen zum Beispiel Ulrich Zwingli (1484–1531), Heinrich Bullinger (1504–1575) und Johannes Calvin (1509–1564) das Wirken des Wortes als den großen Antriebsmotor, durch den der Heilige Geist Erneuerung, Reformation und Erweckung wirkt.

Doch selbst bei einer guten Sache können wir unausgewogen werden, und so wie eine unausgewogene Ernährung das körperliche Wachstum hemmt und zu Krankheiten führen kann, so behindert unausgewogenes Predigen das geistliche Leben.

Hier sind also vier Lektionen, die wir von den Reformatoren lernen können. Man kann sie sich auch als vier Vitamine für gesundes Predigen vorstellen.

Vitamin E — Exposition

Zwingli predigte durch Matthäus, Apostelgeschichte, 1. Timotheus, 1. und 2. Petrus, Hebräer, Johannes, den Rest der Paulusbriefe, die Psalmen, den Pentateuch und dann verschiedene historische Bücher und Propheten. Bullinger hielt 100 Predigten über die Offenbarung, 190 über Jesaja und 170 über Jeremia. Auch Calvin widmete sich dem Predigen der Bücher der Bibel, Vers für Vers.

Wann hast Du das letzte Mal durch ein Buch oder einen größeren Abschnitt der Bibel gepredigt? Es geht dabei nicht darum, so viele Predigten über ein Buch zu halten, wie Calvin, Bullinger oder Zwingli (diese predigten häufig mehrmals pro Woche), aber du solltest in der Gemeinde regelmäßig einen Teil des Wortes Gottes auslegend predigen.

Vitamin-E-Mangel verursacht neurologische Probleme, die zu Muskelschwäche führen. Ein Mangel an Predigten, die einen Bibeltext auslegen, schwächt den Leib Christi, so dass seine Mitglieder inaktiv werden.

Vitamin D — Doktrin

Eine Lehrpredigt (lat. doctrina) sollte niemals das regelmäßige Predigen durch Bücher der Bibel verdrängen. Dennoch sind zum Beispiel einige von den einflussreichsten Predigten Heinrich Bullingers die, die in den Dekaden veröffentlicht wurden. Die Dekaden sind eine Zusammenstellung von fünf Büchern mit je zehn Predigten. Jede dieser Predigten konzentriert sich auf eine Lehre des christlichen Glaubens, ohne dabei die Bibeltextauslegung zu vernachlässigen.

„Das regelmäßige Predigen über die wesentlichen Lehren des Christentums stärkt die Knochen des Glaubens, sodass wir Irrlehren entschieden entgegentreten können.“
 

In der vierten Dekade finden sich so Bullingers Predigten über das Evangelium, die Buße, die Dreieinigkeit, die Schöpfung und Vorsehung, die Anbetung Gottes, die Inkarnation, das königliche und priesterliche Amt von Christus, den Heiligen Geist, die Engel und schließlich die Seele des Menschen. Erwähnenswert ist dabei auch, dass die Dekaden im englischen Protestantismus und Puritanismus sogar beliebter waren als Calvins Institutio.

Vitamin D ist wichtig für starke Knochen. Das regelmäßige Predigen über die wesentlichen Lehren des Christentums stärkt die Knochen des Glaubens, sodass wir Irrlehren entschieden entgegentreten können. Bis zu einem gewissen Grad können wir dieses Ziel auch durch das Predigen durch ganze Bibelbücher erreichen. Einige Lehren werden aber vernachlässigt werden, wenn wir das kontinuierliche Predigen durch die Bibel nicht durch biblische Predigten über Grundüberzeugungen des Glaubens ergänzen.

Vitamin C — Christus

Die Predigten von Huldrych Zwingli waren thematisch von Christus durchzogen, ganz gleich aus welchem Buch des Alten oder Neuen Testaments er predigte. In den ersten Sätzen von „Die 67 Thesen Zwinglis zur Disputation in Zürich“1 ist diese Christuszentriertheit deutlich erkennbar:

  1. Alle, so reden, das Evangelium sei nichts ohne die Bewährung der Kirche, irren und schmähen Gott.
  2. Summa des Evangeliums ist, dass unser Herr Christus Jesus, wahrer Gottes Sohn, uns den Willen seines himmlischen Vaters kund gethan und mit seiner Unschuld vom Tod erlöst und Gott versöhnt hat.
  3. Daher der einzige Weg zur Seligkeit Christus ist aller, die je waren, sind und werden.
  4. Welcher eine andere Thüre sucht oder zeigt, der irrt, ja ist ein Mörder der Seelen und ein Dieb.
  5. Darum alle, so andere Lehren dem Evangelio gleich oder höher messen, irren, wissen nicht, was Evangelium ist.
  6. Denn Christus Jesus ist der Wegführer und Hauptmann, allem menschlichen Geschlecht von Gott verheißen und auch geleistet.
  7. Daß er ein ewig Heil und Haupt sei aller Gläubigen, die sein Leib sind, der aber tot ist und nichts vermag ohne ihn.
„Bei der auslegenden Verkündigung des Wortes Gottes sollten wir darauf achten, uns nicht so sehr im textlichen Detail zu verlieren, dass die Zuhörer den Blick auf unseren Herrn Jesus Christus verlieren.“
 

Eine solche Herzensüberzeugung bewirkt eine Verkündigung, die mit der Kraft des Heiligen Geistes Menschen zu Christus zieht. Der Historiker Hughes Oliphant Old merkte über Zwingli an, dass dieser „vor allem […] Christus und die errettende Kraft seines Todes und seiner Auferstehung predigte“. Wir müssen dasselbe tun.

Der Mangel an Vitamin C führt zu Skorbut und schließlich zum Tod. Ein Mangel an der Verkündigung von Christus kann gut informierte Bibelschüler in den ewigen Tod führen. Bei der auslegenden Verkündigung des Wortes Gottes sollten wir darauf achten, uns nicht so sehr im textlichen Detail zu verlieren, dass die Zuhörer den Blick auf unseren Herrn Jesus Christus verlieren. Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Vitamin A — Anwendung

Es ist beeindruckend wie viel Platz der Genfer Reformator Calvin in seinen Predigten der praktischen Anwendung eingeräumt hat. Gerstner merkt hierzu an, dass „Anwendung das dominante Element“ in der Predigt Calvins war, nicht Theologie oder Textkommentar. Calvins Predigten über den Epheserbrief zeugen davon. Folgende Zitate aus der Predigt über Epheser 1,4–6 verdeutlichen das:

Wir erkennen dann, dass wir so viel mehr Grund haben, gedemütigt zu sein, da wir sehen, dass wir auf dem Weg ins Verderben waren, bis er uns aus der Verdammnis herausgeholt hatte…
Aber dennoch müssen wir uns immer vor Augen halten, dass Gott uns auserwählt hat, um uns zu einem heiligen Leben zu berufen...
Darüber hinaus sollten wir auch bedenken, dass obwohl Gott uns reformiert hat und auf den guten Weg gestellt hat und uns fühlen lassen hat, dass er bereits in uns arbeitet um uns seinem Wort zu unterwerfen und uns dazu bringt ihm gehorsam in allen Dingen zu dienen, daraus nicht folgt, dass wir schon am ersten Tag vollständig reformiert sind, nein, und auch nicht in unserem ganzen Leben….
Und deshalb, wenn wir irgendwelche Laster in uns fühlen, lasst uns tapfer gegen sie kämpfen und lasst uns nicht niedergeschlagen sein, als wären wir nicht Gottes Kinder…
Auch wenn wir dann viele Nöte in uns selbst finden, die uns aus der Bahn werfen, so lasst uns doch weitergehen und uns versichern, dass wir, solange wir hier in dieser niederen Welt leben, unseren Weg gehen müssen.

Lasst uns Gottes Wort in dieser Weise predigen, damit Gott in der Heiligkeit seiner Gemeinde geehrt wird. Vitamin A ist entscheidend für ein gutes Sehvermögen. Ohne Anwendungsbezug in einer Predigt werden Menschen blind für die eigene Sünde und die geistliche Realität wahrer Gottesfurcht.

Ausgewogenheit ist entscheidend

„Wie Eltern, die jeden Tag Essen für ihre Familie vorbereiten, so verstehen auch Prediger, dass sie nicht alle Vitamine in jeder einzelnen Predigt unterbringen können.“
 

Wie Eltern, die jeden Tag Essen für ihre Familie vorbereiten, so verstehen auch Prediger, dass sie nicht alle Vitamine in jeder einzelnen Predigt unterbringen können. Einige Botschaften sind eher Textauslegungen, andere vielleicht Themenbotschaften oder Lehrpredigten. Einige Botschaften konzentrieren sich auf die praktische Ebene; andere rufen einfach dazu auf, in Jesus Christus Frieden zu finden.

Das Beispiel der Reformatoren ruft Pastoren und Prediger dazu auf, Botschaften zu predigen, die biblisch, lehrmäßig, erfahrungsbezogen und praktisch sind, so dass der Leib Christi in der Gemeinschaft mit seinem lebendigen Haupt aufwächst und sein Ebenbild im Alltag widerspiegelt.

Wird in deinen Predigten ein Vitaminmangel sichtbar? Wie möchtest du diesen Mangel beheben?

Fußnote

1 Wilhelm Oechsli, Quellenbuch zur Schweizergeschichte. Für Haus und Schule, 2. Aufl. Zürich, 1901, S. 401–406.