Weshalb die Kritische Theorie und das Christentum unvereinbar sind

Artikel von Neil Shenvi  und Pat Sawyer
17. Oktober 2020 — 9 Min Lesedauer

In der jüngeren Vergangenheit haben neue Ausdrücke wie „Cisgender“, „Intersektionalität“, „Heteronormativität“, „Centering“ und „Weiße Fragilität“ Eingang in unser Kulturlexikon gefunden – plötzlich und scheinbar aus dem Nichts. Aber nur scheinbar: Denn schon seit Jahrzehnten befinden sich diese Begriffe und Denkmodelle auf dem Marsch durch die Institutionen der akademischen Welt, vorangetrieben etwa durch die Postkoloniale Forschung, Queer-Theorie, Kritische Pädagogik, Weißseinsforschung oder die Kritische Rassentheorie. Diese Disziplinen lassen sich alle in der übergeordneten „Kritischen Theorie“ zusammenfassen, besser bekannt als „Kultureller Marxismus“.

Doch worum geht es bei der Kritischen Theorie? Und was sollten Christen darüber denken?

Die moderne Kritische Theorie betrachtet die Wirklichkeit durch die Brille der Macht. Sie versteht jedes Individuum entweder als unterdrückt oder als Unterdrücker, je nach Zuordnung durch Rasse, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Sexualität und zahlreichen weiteren Kategorien. Unterdrückt werden Gruppierungen nicht durch physische Gewalt oder offene Diskriminierung, sondern durch hegemoniale Macht. Dies bedeutet, dass es dominanten Gruppen gelingt, ihre Normen, Werte und Erwartungen der gesamten Gesellschaft aufzuzwingen und andere Gruppierungen auf die unteren Ränge zu verweisen.

Da der aktuelle Beitrag dieses wichtige Thema nicht in der ganzen Breite behandeln kann, möchten wir einige Kernpunkte herausgreifen, die alle Christen kennen sollten.

Zum Verständnis der Kritischen Theorie

Erstens: Nicht alles, was die Kritische Theorie vorbringt, ist falsch. Wie in anderen Bereichen sollten Christen auch bei der Kritischen Theorie gewisse Punkte unterstützen. Ein Beispiel: Die Kritische Rassentheorie vertritt den Standpunkt, dass der Begriff „Rasse“ in seiner historischen und gesetzlichen Definition ein soziales Konstrukt darstellt, welches sich durch die menschliche Natur oder Biologie nicht rechtfertigen lässt.

Zweitens: Der Begriff der hegemonialen Macht hat auch seine legitime Seite. Christen haben schon lange erkannt, dass verschiedene Institutionen bewusst oder unbewusst Konzepte wie Säkularismus, Naturalismus und Relativismus propagieren, die dem Evangelium gegenüber Widerstand erzeugen. Dementsprechend müssen christliche Eltern beim Thema Schönheit oder Sexualität gegen falsche Standards kämpfen, die von der Unterhaltungs- und Werbeindustrie verbreitet werden. Die Beispiele zeigen, wie hegemoniale Macht funktioniert, und wie unsere Kultur von dominanten Institutionen vorgegebene Normen und Werte verinnerlicht.

Drittens: Kritische Theorie agiert als eine Weltanschauung. Als solche beantwortet sie unsere grundsätzlichsten Fragen: Wer sind wir? Was ist unser grundlegendes Problem? Und wie lautet die Lösung dafür? Welches ist unsere vorrangige moralische Pflicht? Wie sollen wir leben?

Das Christentum bietet uns eine Metaerzählung – einen übergeordneten Bericht – von der Schöpfung bis zur Erlösung: Demnach sind wir nach Gottes Bild geschaffene Menschen, haben gegen Gott gesündigt, brauchen Rettung durch den Sühnetod Jesu Christi, und sind dazu berufen, Gott und unseren Nächsten zu lieben.

Dagegen baut die Kritische Theorie auf einem Metanarrativ auf, das von der Unterdrückung zur Befreiung führt: Demnach gehören wir – je nach den gegebenen Zugehörigkeitsmerkmalen – entweder einer dominanten oder einer marginalisierten Gruppierung an. Folglich müssen wir entweder unsere Macht abstreifen und uns um die Befreiung anderer kümmern, oder wir müssen uns Macht aneignen, um uns selbst zu befreien und sämtliche unterwerfenden und unterdrückenden Strukturen und Institutionen zu demontieren. Gemäß der Kritischen Theorie ist Unterdrückung die größte Sünde und Streben nach Befreiung die grösste Tugend.

Beide Metaerzählungen kämpfen um die Vorherrschaft über sämtliche Lebensbereiche. Betrachten wir als Beispiel die Frage der Identität: Wird unsere Identität primär durch die vertikale Beziehung zu Gott definiert? Oder wird sie primär durch horizontale Macht-Wechselwirkungen zwischen menschlichen Gruppierungen festgelegt?

Oder betrachten wir die Frage unseres grundlegenden menschlichen Problems: Ist unser grundlegendes Problem „Sünde“, das uns alle gleichermaßen vor Gott schuldig dastehen lässt? Oder ist unser grundlegendes Problem „Unterdrückung“, wodurch Angehörige dominanter Gruppierungen Schuld auf sich laden, von der Angehörige unterdrückter Gruppierungen frei sind?

Knackpunkte gibt es viele. Aber unabhängig davon sind wir gezwungen, unsere Werte, Ethik und Prioritäten entweder aus der Kritischen Theorie oder aus dem Christentum zu wählen.

Viertens: Weil die Kritische Theorie alle Beziehungen an Machtverhältnisse knüpft, kann sie nicht auf ein einzelnes Kriterium wie Klassenzugehörigkeit, Rasse oder Geschlecht reduziert werden. Das Denkmodell muss konsequenterweise weitere Themen einschließen. Vertreter der Kritischen Theorie klassifizieren Rassismus, Sexismus, Kapitalismus, Heteronormativität, Cisgender-Privilegierung und christliche Privilegierung als Formen der Unterdrückung. In all diesen Fällen habe eine dominante Gruppierung ihre Werte einer untergebenen Gruppierung aufgezwungen. Und in all diesen Fällen bestehe die Lösung somit darin, die Normen abzuschaffen, mit welchen die Minderheit gefangen gehalten werde. Christen, die das Denkmodell der Kritischen Theorie als Lösung im Bereich Rassismus oder Sexismus befürworten, stellen oft ein biblisches Verständnis der Geschlechterrollen, Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung, Ehe und elterlichen Autorität in Frage – ja sogar die Einzigartigkeit des christlichen Glaubens.

Schließlich: Die Kritische Theorie behauptet, dass Angehörige unterdrückter Gruppen aufgrund ihrer „erlebten“ Unterdrückung einen besonderen Zugang zur Wahrheit haben. Dieser Wahrheitszugang sei Angehörigen dominanter Gruppierungen verwehrt, da sie aufgrund ihrer Privilegierung erblindet seien. Folglich sind jegliche Appelle dominanter Gruppen an „objektive Beweise“ oder „Vernunft“ in Wirklichkeit verdeckte Versuche zur Erhaltung ihrer institutionalisierten Macht. Diese Sicht entstammt der Standpunkt-Theorie (die organisch zum Marxismus gehört und in der feministischen Theorie umgedeutet wurde). Sie argumentiert, dass Erkenntnis durch die soziale Position konditioniert und festgelegt wird.

Diese Haltung ist deshalb besonders gefährlich, weil sie die Funktion der Schrift als endgültige Schiedsrichterin der Wahrheit untergräbt – der Schrift, die allen Menschen unabhängig von ihren demographischen Merkmalen zur Verfügung steht (Ps 119,130.160; 2Tim 3,16–17; 1Kor 2,12–14; Heb 8,10–12). Wenn also ein Angehöriger einer unterdrückenden Gruppe sich auf die Bibel beruft, können seine Argumente als getarnter Versuch zum Schutz seiner Privilegierung weggewischt werden.

Zum Umgang mit der Kritischen Theorie

Wenn auch die Kritische Theorie die Kirche ernsthaft und zunehmend bedroht, sollten doch aus Gründen des Respekts folgende Punkte beachtet werden.

„Die schiere Tatsache, dass jemand von ‚Unterdrückung‘ oder ‚sozialer Gerechtigkeit‘ spricht, liefert noch lange keinen Grund zur Annahme, diese Person habe sich der Kritischen Theorie verpflichtet.“
 

Hier helfen ein paar Grundregeln für guten Dialog: Vermeide Schubladisierungen und Beschimpfungen. Gehe auf konkrete Aussagen ein, verzichte auf Spekulationen über allfällig versteckte Absichten. Kritisiere Ideen, nicht Personen. Stelle Fragen. Sprich Wahrheit in Liebe (Eph 4,15), mit Worten „in Gnade, mit Salz gewürzt“ (Kol 4,6). In unserer zunehmend zersplitterten und segmentierten Kultur sollten Christen für ihre Zuvorkommenheit denjenigen gegenüber bekannt sein, deren Meinung sie nicht teilen, insbesondere denjenigen gegenüber, die sich zum Glauben an Christus bekennen.Erstens: Unser Sprachgebrauch sollte gut abgewogen und freundlich sein. Einerseits sollten wir als Christen nicht mit Begriffen wie „Intersektionalität“ oder „Weiße Privilegierung“ um uns werfen, ohne uns zuerst die Zeit genommen zu haben, diese Konzepte im Zusammenhang mit den zugrundeliegenden Ideologien zu verstehen. Andererseits liefert die schiere Tatsache, dass jemand von „Unterdrückung“ oder „sozialer Gerechtigkeit“ spricht, noch lange keinen Grund zur Annahme, diese Person habe sich der Kritischen Theorie verpflichtet.

Weiter: Wir sollten den Gebrauch des Begriffs „Kultureller Marxismus“ neu überdenken. In der akademischen Literatur wird der Begriff verschiedentlich aufgrund von Werken über die Problematik hegemonialer Macht von Denkern des 20. Jahrhunderts wie Antonio Gramsci, Theodor W. Adorno, Georg Lukacs, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Terry Eagleton, Jürgen Habermas und Paulo Freire (letztere beiden gestandene Marxisten) mit „Kritischer Theorie“ gleichgesetzt. Ähnliches gilt für den Begriff „Kultureller Marxismus“, wie ihn bekannte und geachtete Persönlichkeiten wie David Brooks und Albert Mohler benutzt haben. Allerdings ist der Begriff jüngst auch in Bekennerschreiben von Amokschützen aufgetaucht und erscheint häufig auf Neo-Nazi-Websites. Da der akademische Begriff „Kritische Theorie“ häufiger verwendet wird und frei von den mit dem Begriff „Kultureller Marxismus“ verbundenen negativen Assoziationen ist, kommuniziert er unseren beabsichtigten Sinn treffender.

Drittens: Wir müssen erkennen, dass die lokale Gemeinde Zeuge für Gottes Reich ist. In unserer mit Bosheit gesättigten und durch Feindschaft zersplitterten Welt ist es kein Wunder, dass Versprechen der Kritischen Theorie wie Gerechtigkeit und Zugehörigkeit anziehend wirken. Wenn eine Ortsgemeinde jedoch echte Nächstenliebe und Gemeinschaft über Rassenunterschiede, Klassenzugehörigkeit und Geschlecht hinweg praktiziert, dann entkräftet sie die Überzeugung, dass die Kritische Theorie der einzige Weg zum menschlichen Wohlergehen sei und bestätigt die Glaubwürdigkeit des Vorwurfs, die Kritische Theorie löse ihre Versprechen nicht ein.

„Wenn eine Ortsgemeinde echte Nächstenliebe und Gemeinschaft praktiziert, dann entkräftet sie die Überzeugung, dass die Kritische Theorie der einzige Weg zum menschlichen Wohlergehen sei.“
 

Schließlich: Wir können nicht überbetonen, wie wichtig die persönliche Kenntnis von Primärquellen ist. Allgemein sind Christen bedauernswert unterqualifiziert, wenn sie die Kritische Theorie akkurat darstellen und sich kritisch mit ihr auseinandersetzen sollten, denn sie stützen sich viel zu sehr auf Sekundärquellen ab. Könnten wir nur ein einziges Buch auf allgemeinverständlicher Ebene über die Kritische Theorie und ihre Praxis empfehlen, dann sicher Wir müssen über Rassismus sprechen von Robin DiAngelo. Das Buch ist Basislektüre zum Verständnis der Grundkonzepte und Methoden der Kritischen Theorie.

Bei der Aufgabe, unsere Nächsten mit dem Evangelium bekanntzumachen, ist es für uns Christen entscheidend, dass wir nicht nur die kulturprägenden Konzepte verstehen, sondern auch deren Verhältnis zur biblischen Weltsicht. Machen wir uns also daran, die Kritische Theorie zu verstehen und ihre Bedeutung anzuerkennen, damit wir uns auch kritisch mit ihr auseinandersetzen und Menschen zeigen können, dass echte Freiheit und Freude letztlich nur in Christus zu finden sind.