Wer die Reformation aufgibt, gibt das Evangelium auf

Artikel von Matthew Barrett
31. Oktober 2020 — 17 Min Lesedauer
„Wenn uns nun der Teufel einmal unsre Sünden vorhält und uns des Todes und der Hölle schuldig spricht, dann müssen wir so sagen: ‚Ich bekenne mich zwar des Todes und der Hölle schuldig, aber was dann weiter? […] Ich weiß einen, der für mich gelitten und Genugtuung erworben hat, er heißt Jesus Christus, Gottes Sohn. Wo er bleibt, werde ich auch bleiben.‘“ (Martin Luther)1

Vier Haare Mariens

Da lagen sie also. Reliquien. Jede Menge. Etwas Stoff von der Windel, in die Jesus gewickelt worden war; dreizehn Überbleibsel von seiner Krippe; ein Strohhalm aus der Krippe; ein Goldstück von einem der Weisen; drei Brocken Myrrhe; ein Stückchen Brot vom letzten Abendmahl; ein Dorn aus der Dornenkrone, die Jesus bei seiner Kreuzigung trug; und als Krönung des Ganzen ein Stück von dem Stein, auf dem Jesus gestanden hatte, bevor er in den Himmel zur Rechten seines Vaters auffuhr. Wie bei guten Katholiken üblich, wurde auch Maria nicht übersehen. Es gab drei Stoffstücke von ihrem Mantel, vier von ihrem Gürtel, vier Haare von ihrem Kopf, und noch viel besser: sieben Stücke von dem Schleier, der mit Christi Blut besprengt worden war. Es waren diese Reliquien und noch zahlreiche weitere (19.000 Knochen von Heiligen!), die bereitlagen, um von frommen Pilgern besehen zu werden. Bei diesen Reliquien handelte es sich um die stolze Sammlung von Friedrich dem Weisen, Kurfürst von Sachsen, dem Landesherrn Martin Luthers. Sie lagen in der Schlosskirche zu Wittenberg bereit, um an Allerheiligen gezeigt zu werden, am 1. November 1517. Aber inmitten dieses aufsehenerregenden Ereignisses gab es ein wesentliches Element, nämlich die Erlangung von Ablass. Für die Verehrung jener Reliquien wurde ein Ablass gewährt, der die Zeit im Fegefeuer um 1.902.202 Jahre und 270 Tage verkürzen sollte. Ein solcher Ablass, nämlich der völlige oder teilweise Erlass der Strafe für Sünden, wurde aus dem Kirchenschatz gewährt, jener Ansammlung von Verdiensten, zu denen nicht nur das verdienstvolle Werk Christi, sondern auch der unermessliche Verdienst der Heiligen zählte.

Sobald das Geld im Kasten klingt

Papst Leo X. brauchte Geld für den Bau des Petersdomes, und so begann er, Ablässe zu verkaufen. Aber nicht irgendwelche Ablässe! Benötigt wurde ein Ablass, durch den die Sünden vollständig erlassen wurden – ein Ablass, der den Sünder in den Stand der Unschuld zurückversetzen würde, wie er ihn in der Taufe empfangen hatte. Man musste keine Jahre im Fegefeuer mehr fürchten. Nicht einmal eine Sünde gegen Gottes Majestät würde die Wirkung dieser Ablässe mindern. Das bedeutete: Wenn jemand genug Geld hatte, konnte man sich hier die Buße kaufen! Und niemand war so geschäftstüchtig wie der Dominikaner Johann Tetzel, um eine derart einmalige Chance zu vermarkten. Er zog mit allem Prunk Roms von Stadt zu Stadt und überhäufte die Menschen mit Schuldgefühlen: „Höre auf die Stimme deiner lieben verstorbenen Verwandten und Freunde, die dich anflehen und sagen: ‚Erbarm dich unser, erbarm dich unser. Wir sind hier in furchtbaren Qualen, von denen du uns loskaufen kannst für eine geringe Gabe … Wollt ihr uns hier in den Flammen brennen lassen? Wollt ihr die uns verheißene Herrlichkeit hinauszögern?‘“ Und dann kam Tetzels berühmter Slogan: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“ Mit nur einem Viertelgulden konnte man seine Lieben aus dem Fegefeuer befreien und sie in das „Vaterland des Paradieses“ bringen.

100 – 5 = 95 Thesen

Martin Luther reichte es. Schon ein Jahr zuvor hatte er gegen die Ablässe gepredigt. Dieses Mal jedoch verfasste er seine Einwände schriftlich. In 95 Thesen deckte Luther den Missstand der Ablässe auf. Nach ihrer Fertigstellung veröffentlichte er die Thesen an der Tür der Schlosskirche. Der Luther-Biograph Roland Bainton fasst (in: Here I Stand: A Life of Martin Luther) die 95 Thesen folgendermaßen zusammen: „Es gab drei Hauptpunkte: den Widerspruch gegen den erklärten Zweck dieser Zahlung, die Zurückweisung der Ansicht, der Papst habe Macht über das Fegefeuer, und die Sorge um das Wohl des Sünders.“ Aber auch wenn Luther protestierte, wollte er dabei einfach ein guter Katholik sein, der die Kirche von Missständen befreite. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht die Rede von Rechtfertigung durch Glauben allein, Sola Scriptura und den anderen reformatorischen Lehren, die sich im Lauf der Zeit herausbildeten. Aber trotzdem: Der Same war gesät.

Die Synagoge des Satans

Und sie bildeten sich heraus. Luthers Thesen waren in Latein geschrieben worden und sollten Thema einer akademischen Debatte werden, aber sie wurden von anderen Leuten in die Volkssprache übersetzt und in ganz Deutschland verbreitet. Plötzlich war Luthers Widerspruch das Stadtgespräch. Tetzel explodierte als erster und forderte, man müsse Luther als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Als nächstes nahm sich Kardinal Cajetan im Oktober 1518 auf dem Reichstag zu Augsburg der Sache an. Luther wurde dort drei Tage lang befragt und aufgefordert, zu widerrufen, aber das tat er nicht. Luther schrieb, der Kardinal habe „keine einzige Silbe aus der Schrift vorgebracht“, sondern sich stattdessen auf scholastische Kirchenväter gestützt. Da er durch Cajetan zum Ketzer erklärt worden war, fürchtete Luther um sein Leben, als er nach Hause zurückkehrte. Doch Luthers größte Herausforderung sollte im Juni 1519 kommen, nämlich in der Debatte mit dem katholischen Theologen Johannes Eck, den Luther auch als „das Schwein aus Ingolstadt“ bezeichnete. Eck brachte die eigentliche Frage auf den Tisch: Wo liegt die letzte Autorität, bei Gottes Wort oder beim Papst? Für Eck erhielt die Schrift ihre Autorität durch den Papst. Luther widersprach dem heftig und wurde deswegen sogleich in die gleiche Schublade wie die früheren Häretiker John Wycliffe und Jan Hus gesteckt. Luther bestritt zunächst eine solche Verbindung, aber in einer Disputationspause wurde ihm klar, dass Hus tatsächlich das gelehrt hatte, was auch er selbst glaubte. Daraufhin kehrte Eck nach Rom zurück, um dem Papst Bericht zu erstatten, und bei Luther vertiefte sich im Anschluss an die Disputation nur noch mehr die Überzeugung, dass die Schrift – und nicht der Papst – die alleinige und letzte Autorität ist. Zudem erkannte Luther: Wenn der Papst durchweg die Autorität über die Schrift besitzt, ist eine Reformation von innen unmöglich. Michael Reeves (in: The Unquenchable Flame: Discovering the Heart of the Reformation) erklärt: „Das Wort des Papstes wird immer Gottes Wort ausstechen. Unter diesen Vorzeichen war dort die Herrschaft des Antichrists besiegelt, und es handelte sich nicht mehr um die Kirche Gottes, sondern um die Synagoge des Satans.“

Rechtfertigung durch Glauben allein

Doch nicht nur Luthers Sicht auf die Autorität des Papstes veränderte sich. Auch sein Verständnis der Erlösung durchlief eine Revolution. Luther beschäftigte sich wieder einmal mit dem Römerbrief, besonders Römer 1,17, wo Paulus von der Gerechtigkeit Gottes spricht. Was dann geschah, beschreibt er so:

„Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf vertrauen konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja, ich hasste vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich in Stillen gegen Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art von Unheil niedergedrückt sind durch das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzufügt und uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich mit wildem und verwirrtem Gewissen. Dennoch klopfte ich ungestüm an dieser Stelle bei Paulus an, verschmachtend vor Durst herauszubekommen, was der Heilige Paulus wolle. Bis ich, durch Gottes Erbarmen, Tage und Nächte darüber nachsinnend meine Aufmerksamkeit auf die Verbindung der Wörter richtete, nämlich: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als diejenige, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich durch den Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein.“2

Plötzlich wurde das Evangelium zur guten Nachricht. Zuvor hatte Luther die Gerechtigkeit Gottes so verstanden, dass Gott in seiner Gerechtigkeit und in rächendem Zorn Sünder straft. Gottes Gerechtigkeit war eine schlechte Nachricht, durch die Luther verdammt wurde – ganz egal, wie viele gute Werke er auch tun mochte. Daher hasste Luther Gott. Doch dann erkannte Luther, dass die Gerechtigkeit Gottes, auf die sich Römer 1,17 bezog, im Evangelium offenbart wird, denn der Gerechte wird aus Glauben leben. So war Gottes Gerechtigkeit nicht länger etwas, das man fürchten musste, sondern ein Geschenk, das man im Glauben an Christus empfängt, sodass Sünder – sogar die schlimmsten Sünder – vor Gott für gerecht

„Es ist verlockend, die Reformation lediglich als eine politische oder soziale Bewegung zu betrachten. Aber in Wirklichkeit war die Reformation ein Kampf um das Evangelium.“
 

angesehen werden. Mehr noch, die Gerechtigkeit, die Gott erwartet, ist nichts, was wir verdienen könnten, sondern sie ist für uns in Christus verdient worden. Wir brauchen keine eigene Gerechtigkeit, sondern eine fremde Gerechtigkeit, die uns von Gott zugeschrieben oder zugerechnet wird. Das ist es, was Luther als den „fröhlichen Tausch“ ansah. Christus hat unsere Sünde übernommen, und wir haben seine Gerechtigkeit empfangen. Paulus schreibt: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm [zur] Gerechtigkeit Gottes würden“ (2Kor 5,21). In Philipper 3,9 berichtet Paulus von seiner Hoffnung, dass er „in ihm erfunden werde, indem ich nicht meine eigene Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens“. Luther wusste nun, dass wir nicht durch unsere Werke und Verdienste gerechtfertigt werden, sondern aus Gnade allein (sola gratia) und allein durch Glauben (sola fide). Dieser Durchbruch bewirkte, dass Luther 1520 wie ein Verrückter zu schreiben begann. Als erstes veröffentlichte er An den christlichen Adel deutscher Nation, wo er die Autorität des Papstes und dessen alleiniges Recht, die Schrift auszulegen und Konzilien einzuberufen, in Frage stellte. Danach veröffentlichte Luther Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, wo er darlegte, dass Gottes Geschenk der Gerechtigkeit durch Glauben empfangen wird, und dass daher Rom mit seinem Anspruch irrt, man erlange durch die priesterliche Spendung der Sakramente göttliche Gnade (Luther führte zudem aus, dass es nur zwei statt sieben Sakramente gebe). Als drittes Werk veröffentlichte Luther Von der Freiheit eines Christenmenschen, das er Papst Leo X. widmete und worin er den fröhlichen Wechsel hervorhob, nämlich, dass unsere Sünde auf Christus übertragen wurde, während uns Christi Gerechtigkeit zugerechnet wird.

Hier stehe ich

Im Jahr 1520 erließ der Papst eine Bulle (ein Dekret), in der er Luthers Lehre als „Schlangengift“ bezeichnete und Luther aufforderte, innerhalb von 60 Tagen zu widerrufen, ansonsten werde er exkommuniziert. Nach 60 Tagen verbrannte Luther die Bulle des Papstes öffentlich und rief dabei aus: „Weil du die Wahrheit Gottes verderbt hast, verdirbt dich heute der Herr. Ins Feuer mit dir!“ Das war Luthers Kriegserklärung. Der Papst antwortete mit einer zweiten Bulle, in der er Luther und seine Anhänger exkommunizierte. Normalerweise hätte das Luthers Gefangennahme und Hinrichtung bedeutet. Doch Friedrich der Weise verlangte eine Anhörung vor einem deutschen Gericht. So wurde Luther 1521 nach Worms zum Reichstag vor Karl V., den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, geladen. Dort in Worms wurde Luther am 17. April 1521 aufgefordert, zu widerrufen. Nach einem Tag Bedenkzeit kehrte er zurück und erklärte:

„Weil Eure Majestät und Eure Gnaden eine schlichte Antwort begehren, so will ich eine solche ohne Hörner und Zähne geben: Werde ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder durch klare Vernunftgründe überwunden – denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da es am Tage ist, daß sie des öfteren geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so bleibe ich überwunden durch die von mir angeführten Stellen der Schrift und mein Gewissen gefangen durch Gottes Wort. Widerrufen kann und will ich nichts, denn es ist weder sicher noch heilsam, gegen das Gewissen zu handeln. Gott helfe mir, Amen.“3

Am nächsten Tag wurde das Urteil gesprochen. Der Kaiser urteilte, dass Luther tatsächlich ein „verstockter Zertrenner und offenkundiger Ketzer“ sei. Auf der Heimreise wurde Luther von einer Gruppe von Männern mit Schwertern und Bögen überfallen und entführt. Wurde Luther ermordet? Der Maler Albrecht Dürer trauerte in seinem Tagebuch: „O Gott, ist Luther tot, wer wird uns fortan das Heilige Evangelium so klar vortragen?“ Aber Luther war von Freunden entführt worden, nicht von Feinden. Friedrich der Weise hatte Luthers sicheres Entkommen auf die Wartburg arrangiert. Trotzdem zeigen die Worte Dürers, dass nicht weniger als das Evangelium auf dem Spiel stand, als Luther sich vor dem Kaiser verteidigte – und dieses Evangelium sollte nun die Christenheit für immer verändern.

Ist reformatorische Theologie heute noch wichtig?

Ist reformatorische Theologie denn heute noch wichtig? Unbedingt. Es ist verlockend, die Reformation lediglich als eine politische oder soziale Bewegung zu betrachten. Aber in Wirklichkeit war die Reformation ein Kampf um das Evangelium. Die Reformatoren zeigten auf, dass das Herzstück des Evangeliums Gottes freie und gnädige Annahme schuldiger Sünder allein aufgrund des Werkes Christi ist. Auch wenn sich der politische und soziale Kontext seit dem 16. Jahrhundert verändert hat, dieses Thema bleibt aktuell. Man könnte viel dazu sagen, aber an dieser Stelle seien zumindest zwei Gründe genannt, weshalb die Reformation immer noch wichtig ist.

Erstens ist nach Luther die Rechtfertigung aus Glauben allein der Artikel, mit dem die Kirche steht oder fällt. Heute stellen jedoch viele die zentrale Bedeutung der Rechtfertigung in Frage oder lehnen sie völlig ab. So meint beispielsweise der verstorbene Clark Pinnock, die Fixierung Luthers und der Protestanten auf die Rechtfertigung beruhe auf ihrer Angst vor einem zornigen Gott. Konsequenterweise behauptet Pinnock, dass „die juristische Dimension unser Denken über die Erlösung dominiert hat“ (Flame of Love, S. 155). Auch wenn diese juristische Dimension wichtig sei, so sei sie doch „nicht unbedingt das zentrale Motiv“. Rechtfertigung sei lediglich ein Schritt auf dem Weg zur Veränderung. Daher sei sie „nicht das Hauptstück aller christlichen Lehre, wie Luther das meinte“. Was bietet Pinnock als Alternative an? „Gerettet werden ist eher so, wie sich in Gott zu verlieben.“ Tatsächlich behauptet Pinnock, „juristisches Denken und die Lehre der Rechtfertigung sind in der Bibel nicht so prominent, wie wir sie gemacht haben“. Und dann kommt der springende Punkt: „Luthers Wiederentdeckung der Rechtfertigung war für ihn selbst und die Reformen des 16. Jahrhunderts wichtig, aber für uns ist sie nicht gleichermaßen zentral, und noch nicht einmal für eine clevere Interpretation der Theologie des Paulus.“ Aber: Gottes Rechtfertigung der Gottlosen steht mitten im Zentrum von Paulus’ Theologie (Röm 4,5). Deshalb ist das Evangelium eine solch gute Nachricht! Die Nachricht ist deswegen so gut, weil Christus nicht nur gestorben und auferstanden ist (Apg 2,22–36), sondern weil wir jetzt die Vergebung der Sünden haben können (Apg 2,38). Kein Wunder, dass Paulus sagen kann, das Evangelium sei Gottes Kraft zur Errettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, dann auch für den Griechen, denn „es wird darin geoffenbart die Gerechtigkeit Gottes aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte wird aus Glauben leben‘“ (Röm 1,17). Daher war Luthers Erweckung, nachdem er Römer 1,17 gelesen hatte, im Kern Evangeliums-Erweckung. Die Rechtfertigung vom Evangelium abzutrennen bedeutet, unser grundlegendes menschliches Dilemma zu ignorieren: Wer sind wir, die wir doch schuldige Sünder sind, dass wir Gunst vor einem heiligen Gott finden sollten? Offensichtlich steht Paulus diese Frage vor Augen, wenn er folgert: „Da wir nun aus Glauben gerechtfertigt sind, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1).

„Die Rechtfertigung vom Evangelium abzutrennen bedeutet, unser grundlegendes menschliches Dilemma zu ignorieren.“
 

Zweitens gibt es heutzutage starke Tendenzen, entweder nach Rom zurückzukehren oder sich mit Rom zu vereinigen. In letzter Zeit war das bemerkenswerteste Beispiel für eine Rückkehr Francis J. Beckwith, der frühere Präsident der Evangelical Theological Society, der sein Präsidentenamt im Jahr 2007 niederlegte. Zwar verlieh er der Hoffnung Ausdruck, dass seine katholischen Brüder der Versuchung widerstehen mögen, das als Triumph zu feiern. Doch er stellte unmissverständlich klar: „Ich glaube natürlich, dass der Katholizismus in all seiner dogmatischen Theologie in der Tat wahr ist, einschließlich seiner Ansichten über die Schrift, die Ethik, die Autorität der Kirche, die ökumenischen Konzilien usw.“ (Return to Rome, S. 12). Andere plädieren dafür, dass sich Evangelische und Katholiken, auch wenn man unterschiedlich bleibe, doch jetzt im Licht von Evangelicals and Catholics Together, dem Lutherischen Weltbund, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zusammenschließen können. Viele sind der Meinung, dass die Kluft zwischen Protestanten und Katholiken zumindest im Wesentlichen überwunden ist – daher auch das Buch von Mark Noll und Carolyn Nystrom: Is the Reformation Over? (siehe dazu auch den Artikel von Scott M. Mantesch: „Is the Reformation Over? John Calvin, Roman Catholicism, and Contemporary Ecumenical Conversations“, in: Themelios, August 2011). Dagegen stellte Michael Horton (und vor ihm schon R.C. Sproul) kürzlich fest: Die Reformation ist noch lange nicht vorbei. „In der römisch-katholischen Position hat es keine substantielle Veränderung gegeben im Hinblick auf die Punkte, die zur Exkommunikation der Reformatoren führten. Selbst in der Gemeinsamen Erklärung konnte die Differenz bezüglich der zentralen Lehre nur überwunden werden, indem man eine katholische Definition der Rechtfertigung annahm, nämlich als Vergebung und tatsächliche Veränderung (d.h. Heiligung).“ Nach wie vor bestreitet Rom die evangelische Sicht der Rechtfertigung allein aus Gnade allein durch Glauben. Ich stimme Horton zu, wenn er erklärt, es gehe hier nicht um Luther – es geht um das Evangelium.

„In der römisch-katholischen Position hat es keine substantielle Veränderung gegeben im Hinblick auf die Punkte, die zur Exkommunikation der Reformatoren führten.“
 

Auch wenn man noch weitere Herausforderungen für die reformatorische Theologie nennen könnte, reichen bereits diese beiden aus, um zu zeigen, dass die reformatorische Theologie weiterhin im Zentrum der Diskussion steht. Viele jüngere Evangelikale sind von der reformatorischen Theologie überzeugt. Aber wir müssen uns der Herausforderung stellen, wie wir die reformatorische Theologie angesichts neuer Ideologien verteidigen können, die ihre Glaubwürdigkeit untergraben wollen. Der Dreh- und Angelpunkt in diesem Bemühen, reformatorische Theologie heute zu verteidigen und anzuwenden, liegt meiner Meinung nach in der simplen Wahrheit, die bereits Luther so klar gesehen hat: Das Evangelium an sich steht auf dem Spiel, genauso wie im 16. Jahrhundert. Wer die Reformation aufgibt, gibt das Evangelium auf.

Fußnoten

1 Brief an Hieronymus Weller (lat. Original in WA Br, V, S. 518–520).

2 G. Wartenberg, W. Härle und J. Schilling (Hg.), Martin Luther: Christusglaube und Rechtfertigung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2006, S. 493–495.

3 Heinrich Fausel, D. Martin Luther: Sein Leben und Werk, Holzgerlingen: Hänssler, S. 198. Das lat. Original befindet sich in WA 7, S. 838.