Das Weihnachtswunder: Gott wird Mensch

Artikel von Jared Wilson
23. Dezember 2020 — 4 Min Lesedauer

„Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“ (Hebr 13,8)

Jedes Jahr um diese Zeit feiern wir die Geburt des Babys Jesus durch die Jungfrau Maria. Ich vermute aber, dass auf vielen Feiern nicht an den Grund zum Feiern gedacht wird: die Menschwerdung. All die anderen Wunder stehen im Dienst dieses zentralen Wunders: Gott wird Mensch. Und als durch den Geist empfangen das Wort Gottes der Mensch Jesus von Nazareth wurde, hörte es nicht auf, Gott zu sein. Das Baby Jesus war, auch vom Moment der Empfängnis bis zu dem Moment, als es im Stall auf Stroh gelegt wurde, uneingeschränkt Gott und uneingeschränkt Mensch. Das ist es, worum es an Weihnachten geht.

„Das Baby Jesus, das in Windeln gewickelt in einer Krippe lag, war auch der allgegenwärtige Herr des Universums.“
 

Wenn wir intensiv über die Vorstellung nachdenken, dass Jesus zu hundert Prozent Gott und gleichzeitig zu hundert Prozent Mensch war, dann überfordert uns das natürlich. Der orthodoxe Glaubensgrundsatz der Inkarnation ist herausfordernd, wunderschön, biblisch vernünftig und für die Erlösung unabdingbar, aber trotzdem ist er völlig unergründlich. Und das ist in Ordnung. Schließlich ist die Menschwerdung nicht Gegenstand von Analyse, sondern Grund zur Anbetung.

Wenn wir jedoch Kolosser 2,9 lesen – „denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ – dann wird die Unergründlichkeit der Inkarnation sogar noch größer. Das Baby Jesus, das in Windeln gewickelt in einer Krippe lag, war auch der allgegenwärtige Herr des Universums. Allgegenwart ist eine der unteilbaren Eigenschaften Gottes; Gott kann nicht nicht allgegenwärtig sein. Es darf also nicht sein, dass Jesus Christus als fleischgewordener Gott nicht mehr allgegenwärtiger Gott war.

Louis Berkhof stimmt dem zu:

„Die Lehre der Schöpfung und die Lehre der Inkarnation hat in Verbindung mit der Unveränderlichkeit Gottes schon immer ein Problem dargestellt […] Wie auch immer man dieses Problem lösen will, davon sollte man nicht abrücken: das Wesen Gottes unterlag bei der Menschwerdung keiner wesentlichen Änderung.“1

Langsam, langsam. Hat Jesus seine Gottheit nicht für etwas gehalten, das er nicht wie einen Raub festhielt? Ja, aber Paulus sagt in Philipper 2,5-8 nicht, dass Jesus die Fülle seiner Gottheit nicht „hatte“ oder „behielt“, sondern dass er sie nicht ausnutzte oder ausspielte, um nicht die Fülle des Menschseins erleben zu müssen. In anderen Worten: Er hat nicht den Fallschirm geöffnet.

Wir sehen stattdessen im Wunder des Gott-Menschen eine wunderbare Ausdehnung, und kein Schrumpfen. Ja: Jesus „machte sich selbst zu nichts“ (Phil 2,7), aber das war kein Entleeren seiner wesensmäßigen Gottheit. Stattdessen würdigt das die Fassungslosigkeit über die Menschwerdung. Die Menschwerdung postuliert ein selbst gewolltes Entleeren, das daraus besteht, dass Jesus sich weigerte, alle göttlichen Fähigkeiten auf Abruf verfügbar zu haben. Sie ist kein Entleeren, das daraus bestehen würde, dass irgendetwas von der Gottheit weggenommen wird.

In den Worten von Johannes Calvin:

„Denn das Wort ist zwar freilich in der Unermeßlichkeit [sic] seines Wesens mit der Natur des Menschen zu einer Person zusammengewachsen, aber doch nicht darin eingeschlossen! Das ist das große Wunder: Der Sohn Gottes ist vom Himmel herniedergestiegen – und hat ihn doch nicht verlassen; er ist aus der Jungfrau geboren worden, ist auf der Erde gewandelt, ja er hat mit seinem Willen am Kreuze gehangen – und doch hat er immerfort die ganze Welt erfüllt, wie im Anfange!“2

Calvins Einschätzung zufolge war Gottes Inkarnation in Christus nicht so sehr ein Auszug aus dem Himmel als vielmehr ein Herabsteigen, ein Ausdehnen. In seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium schreibt er:

„Also hat Christus, der ‚im Himmel ist‘, sich selbst mit unserem Fleisch bekleidet, sodass er uns, indem er seine brüderliche Hand nach uns ausstreckt, mit sich selbst zum Himmel erheben kann.“3

Lasst uns diesen Fingerzeig von Calvin wahrnehmen: Hier ist etwas zum Staunen!

Lasst uns dieses Jahr an Weihnachten darüber staunen, dass uns die Inkarnation die Fülle Gottes in der Fülle des Menschen zeigt. Warum? Weil uns das etwas verkündigt: das großartige, große Evangelium der Fülle Gottes für die Fülle des Menschen.


1 Louis Berkhof, Systematic Theology, Grand Rapids, Michigan: Eerdmans 1996, S. 323–324; Übersetzung aus dem Englischen.

2 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, II.XIII.iv, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008, S. 256.

3 Johannes Calvin, Crossway Classic Commentaries, Packer, Wheaton: Crossway 1994, S. 74–75. Johannes 17,21; Übersetzung aus dem Englischen.