Weihnachtliche Mega-Freude

Was, wenn „frohe“ Weihnachten diesmal ausfällt?

Artikel von Matthew Miller
24. Dezember 2020 — 9 Min Lesedauer

Ein guter Freund von mir liebt Weihnachtslieder. Deswegen lief diese Musik auch im Hintergrund, als er vor einigen Tagen dabei war, seinen Haushalt in Umzugskisten zu verstauen. In den vergangenen Wochen ist er einhundert Meilen zwischen seinem alten und seinem neuen Job hin- und hergependelt. Er hat Anmeldeformulare ausgefüllt, damit seine Kinder ab dem nächsten Monat eine neue Schule besuchen können. Er hat nach einem neuen Zuhause für seine Familie gesucht und währenddessen schon Interessenten durch die alte Wohnung geführt. Mein Freund ist sogar zweimal mit Umzugskisten in den Händen die Treppe hinuntergefallen! Für ihn und seine Frau gehören diese Wochen zu den stressigsten, die sie jemals erlebt haben.

Während sein Stress-Pegel stieg, verbreitete der Radiosender Weihnachtsstimmung und begann ein altes Lieblingslied zu spielen: „It’s the Most Wonderful Time of the Year“. Normalerweise hätte dieses Lied ein Lächeln auf sein Gesicht gezaubert – aber nicht in diesem Jahr. Die hohe Belastung hatte jegliche Freude weggespült. Diesmal konnte er es einfach nicht ertragen. Er ließ die Kiste stehen, die er gerade packte, lief die Treppe hinunter und stoppte das Lied, bevor es ihm auch noch zumutete, jetzt sei „the happ … happiest season of all“.

Manchmal ist Weihnachten die glücklichste Jahreszeit von allen und manchmal nicht. Seit ich im Pastorendienst stehe, gab es bei uns jedes Jahr einige Familien, die einem schmerzlichen Weihnachtsfest entgegensahen, weil zum ersten Mal ein geliebter Mensch fehlen würde, der im vergangenen Jahr verstorben war.

„Wie kann ich authentisch zu dieser ‚Freude‘ finden, wenn mein Herz doch voller Schmerz ist oder mein Leben gerade zum Zerreißen angespannt ist?“
 

Und doch – die Geschichte über die Ankunft Christi, die jedes Jahr zu Weihnachten wieder erzählt wird, spricht über die „große Freude“ (Lk 2,10), die die Engel den Hirten verkündeten. Sie ruft uns die Weisen in Erinnerung, die „sehr hocherfreut“ (Mt 2,10) wurden, als sie den Stern sahen. Wir hören wieder davon, wie Marias Seele über Gott, ihren Retter, jubelte, als sie begriff, dass sie den Christus zur Welt bringen würde.

Daraus ergibt sich die Frage, die so viele Menschen betrifft: Wie kann ich authentisch zu dieser „Freude“ finden, wenn mein Herz doch voller Schmerz ist oder mein Leben gerade zum Zerreißen angespannt ist?

Das mühsame Streben nach Glück

Wenn wir uns darum bemühen wollten, „Glück“ zu finden, dann hätten wir kaum eine Chance. Der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) definierte Glück als „das Erleben von Lust und die Abwesenheit von Schmerz“. Da Lust und Schmerz Reaktionen auf Situationen sind, müssen wir für das Streben nach Glück die Situationen in unserem Leben so beeinflussen, dass sie möglichst viel Lust bieten und zugleich der Schmerz minimiert wird.

Aber hier haben wir ein Problem. Denn das funktioniert nur, soweit wir die Dinge selbst unter Kontrolle haben können. Irgendwann wird uns die Realität einholen, dass wir nicht souverän sind. Durch das Bemühen, das Leben unter Kontrolle zu halten und auf diese Weise das Streben nach Glück zu verwirklichen, wurden schon viele Menschen "fast erdrückt" (Mt 11,28, NGÜ).

Die Schrift sagt kaum etwas über Glück, aber sie hat eine Menge über Freude zu sagen. Sucht man in der englischen Bibelübersetzung ESV nach „happy“ und „happiness“, dann finden sich nur zehn Stellen (und keine davon im Neuen Testament). Dagegen findet man „joy“ und damit verwandte Begriffe mehr als vierhundert Mal in der Bibel, und zwar gleichermaßen im Alten wie im Neuen Testament. Zweifellos ist „Freude in der Bibel ein maßgebliches Thema“.1

Der Reichtum und die Zuversicht der biblischen Freude

In der hebräischen Sprache gibt es einen reichen Schatz an Begriffen für „Freude“:

  • Sus: Freude, Jubel. „Ich freue mich [sus] über dein Wort wie einer, der große Beute findet“ (Ps 119,162).
  • Simchah: festliche Freude, Fröhlichkeit, Vergnügen. „Du hast das Volk vermehrt, hast seine Freude [simchah] groß gemacht; sie werden sich vor dir freuen [samach], wie man sich in der Ernte freut [simchah]“ (Jes 9,2; vgl. Ps 4,8).
  • Alaz: jauchzen, jubeln, frohlocken („vor Freude in die Luft springen“). „Der HERR ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn hat mein Herz vertraut, und mir wurde geholfen. Darum frohlockt [alaz] mein Herz, und ich will ihm danken mit meinem Lied“ (Ps 28,7).
  • Gijl: Freude, Jubel, Frohlocken. „Es triefen Auen in der Steppe, und mit Jubel [gijl] gürten sich die Hügel“ (Ps 65,13).
  • Rinnah: Freudenlied, lauter Jubel. „Jauchzt Gott zu mit fröhlichem Schall [rinnah]“ (Ps 47,2).
  • Chedwah: ein seltenes Wort, das sich auf Gottes eigene Freude bezieht. „Pracht und Majestät sind vor seinem Angesicht, Stärke und Freude [chedwah] ist in seiner Wohnstätte“ (1 Chr 16,27; vgl. Neh 8,10).

Einer der ermutigendsten Verse des Alten Testaments beschreibt Gottes Freude über sein Volk, indem er vier dieser Worte in einem einzigen Vers verwendet: „Der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte (…) er wird sich über dich freuen [sus] mit Wonne [simchah], (…) er wird über dich jubelnd [rinnah] frohlocken [gijl]“ (Zef 3,17).

Wodurch wird im Alten Testament Freude hervorgerufen? Wir sehen, dass Menschen mit Freude reagieren, wenn sie Gottes gnädiges Wirken und die Zeichen seiner Gunst ihnen gegenüber erleben. Sie freuen sich beim Einbringen der Ernte (Dtn 16,13; Jes 9,2), als Salomo zum König gekrönt wird (1 Kön 1,39–40), als der Herr in seinen Tempel einzieht (2 Chr 7,1–10), als der Herr ihre Feinde vernichtet (2 Chr 20,24–28) und als der Herr sie nach dem Exil wieder zurück nach Jerusalem bringt (Esra 6,19–22; Neh 12,43). Sie freuen sich auch in Erwartung der neuen Schöpfung und des neuen Jerusalem (Ps 96,11; Jes 65,18–19). All diese Anlässe zur Freude haben eines gemeinsam: Diese Freude feiert nicht, was sie geleistet hat, sondern was sie vom Herrn als Gabe empfangen hat. Jemand hat gesagt: „Freude wird durch das genährt, was sie empfängt.“2

Im Neuen Testament gibt es einen griechischen Hauptbegriff für Freude: chara. Er ist verwandt mit charis, dem neutestamentlichen Wort für „Gnade“. Diese Verknüpfung verdeutlicht: Freude ist in der Bibel die Reaktion auf das Erscheinen von Gottes gnädigen Gaben. In manchen Fällen breitet sich solche biblische Freude sogar schon aus, bevor die Gabe eintrifft, weil der Gläubige zuversichtlich darauf vertraut, dass Gott handeln wird. Aus dieser Perspektive wird ein Text wie Habakuk 3,17–18 verständlich:

Denn der Feigenbaum wird nicht ausschlagen
und der Weinstock keinen Ertrag geben;
die Frucht des Ölbaums wird trügen,
und die Felder werden keine Nahrung liefern;
die Schafe werden aus den Hürden getilgt,
und kein Rind wird mehr in den Ställen sein.
Ich aber will mich freuen [alaz] in dem HERRN
und frohlocken [gijl] über den Gott meines Heils!

Habakuk war der Prophet, der verkündigte: „der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“ (Hab 2,4; Röm 1,17). Am Ende seiner Prophetien sehen wir, wie Habakuk genau das tut. So weit sein Auge reicht, sieht er nur Not und Schaden, dennoch kann er im Glauben Gottes zuverlässige Verheißung sehen: Ja, der Herr wird kommen. Inmitten von herzzerreißenden Umständen ist sich Habakuk dessen so sicher, dass er sich freut – in beharrlicher Erwartung.

Es ist ein Akt der unermesslichen Gnade Gottes, eine Gabe an sein Volk, die Erfüllung all der alttestamentlichen Verheißungen, als Gott seinen Sohn in die Welt sendet. Er kommt, um der „Erstling“ einer langersehnten Ernte zu sein (vgl. 1 Kor 15,20). Er kommt, um der ewige König zu sein (vgl. Mt 2,2). Er kommt, um uns aus der Hand unserer schlimmsten Feinde zu erretten (vgl. 1 Kor 15,25–26). Er kommt, um uns aus dem Exil in eine ewige Heimat zu bringen (vgl. Eph 2,13). Er kommt, um als Gottes Gegenwart unter uns zu wohnen (vgl. Joh 1,14) und um Gottes eigene Freude an uns weiterzugeben (vgl. Joh 15,11; 16,24). Unter all den Gaben, die Gott jemals gegeben hat, ist Christus die größte. Daher ist auch unter allen Freuden, die wir jemals als Reaktion auf Gottes Gaben erleben können, diese Freude die größte.

Weihnachtliche „Mega-Freude“

Im gesamten Alten Testament lesen wir nur dreimal von „großer Freude“: bei der Krönung Salomos (vgl. 1 Kön 1,40), bei der Erneuerung des Passafestes unter Hiskia (vgl. 2 Chr 30,26) und bei der Einweihung der wiederaufgebauten Stadtmauer nach dem Exil (vgl. Neh 12,43). Mit anderen Worten: Obwohl Freude im Alten Testament ein so wichtiges Thema ist, ist „große Freude“ etwas außerordentlich Seltenes und Besonderes.

Deshalb sollte es uns ins Auge springen, wenn wir im Neuen Testament davon lesen, dass weise Männer aus dem Morgenland „hocherfreut“ über einen Stern waren und die Engel den Hirten „große Freude“ verkündeten (Lk 2,10; Mt 2,10). In beiden Fällen könnte man den griechischen Wortlaut mit „Mega-Freude“ wiedergeben (charan megalen). Diese Formulierung sticht noch mehr hervor, wenn man bemerkt, dass die beiden Worte zusammen erst wieder am Auferstehungsmorgen vorkommen. Dann lesen wir zwar nichts von Hirten oder Weisen, aber von den Frauen: „Und sie gingen schnell zum Grab hinaus mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkünden“ (Mt 28,8; vgl. Lk 24,52).

Die Freude von Weihnachten ist keine gewöhnliche Freude, sondern die „Mega-Freude“ der Heilsgeschichte. Sie erkennt im Glauben die unübertreffliche Gabe des Sohnes Gottes, Jesus Christus, und vertraut darauf – oft als beharrliches „Dennoch“ in schmerzlichen Umständen –, dass nichts und niemand es verhindern kann, dass jede einzelne noch offene Verheißung in Christus vollständig erfüllt werden wird.

„Die Freude von Weihnachten ist keine gewöhnliche Freude, sondern die ‚Mega-Freude‘ der Heilsgeschichte.“
 

Die bekannten Weihnachtslieder können uns in manchen Jahren erfreuen und in anderen auf die Palme bringen. Aber es gibt ein anderes Lied, das im Leben eines Gläubigen stets im Hintergrund gespielt wird, das die wahre Leitmelodie der Geschichte darstellt: das große Lied von Gottes siegreicher Erlösung und der verheißenen Wiederherstellung durch den König der Könige und Herrn der Herren.

In diesem Lied geht es nicht um ein Glück, nach dem wir streben, sondern um eine Freude, die zu uns kommt. Möge der Geist dir Ohren geben, um es zu hören, Glauben geben, um darauf zu vertrauen, und möge er dein Herz mit Freude erfüllen, weil du nicht in deinen Umständen ruhst, sondern in deinem Christus.


1 „Joy“, in: Leland Ryken, James C. Wilhoit, Tremper Longman III (Hg.), Dictionary of Biblical Imagery, 3. Auflage, Downers Grove: InterVarsity Press, 1998, S. 464–65.

2 David Bentley Hart, The Beauty of the Infinite: The Aesthetics of Christian Truth, Grand Rapids: William B. Eerdmans, 2004, S. 83.