Gentle and Lowly

Rezension von Marvin Röhm
29. Dezember 2020 — 8 Min Lesedauer

„Wie konnte ich das bloß schon wieder verhauen?“, „Wie wird Jesus reagieren, wenn ich erneut damit ankomme?“ – Vielleicht gehörst du auch zu denen, die wissen, dass Gott sie liebt, aber insgeheim den Verdacht haben, ihn immer wieder zu enttäuschen. Die in ständiger Anspannung leben, den Bogen bald überspannt zu haben. Schnell projizieren wir unser Welt- bzw. Menschenbild auf Jesus. So ist manch einer geneigt, sich Jesus in einer strengen und mürrischen Haltung uns gegenüber vorzustellen. Wenn wir als Sünder zu ihm kommen, ist er enttäuscht und schüttelt verständnislos mit dem Kopf.

„Einem Kardiologen gleich untersucht Ortlund sorgfältig verschiedene biblische Aussagen über das Herz Christi. Das Ergebnis ist ein echter Augenöffner.“
 

Doch so ist unser Herr nicht. Um zu begreifen, wie er uns begegnet und über uns denkt, müssen wir sein Herz verstehen lernen. Wir müssen Gottes Herzschlag ertasten. Was macht ihn aus? Wer ist er in seinem tiefsten Inneren? Dane Ortlund geht dieser Frage in seinem Buch nach: Gentle and Lowly – The Heart of Christ for Sinners and Sufferers. Einem Kardiologen gleich untersucht Ortlund sorgfältig verschiedene biblische Aussagen über das Herz Christi und fügt diese zu einem Ganzen zusammen. Das Ergebnis ist ein echter Augenöffner.

Das Herz Christi sezieren

Mit der Bibel in der Hand erforscht Ortlund, was das Herz Christi ausmacht. Dabei interessiert ihn vor allem Jesu natürliches, instinktives, grundlegendes Verhalten uns gegenüber. Es geht bewusst nicht darum, was Jesus getan hat, sondern wer er ist – wie sein Herz sich dem Gläubigen gegenüber verhält. Ortlund legt die Hand des Lesers auf die Brust Jesu und lässt ihn seinen Herzschlag spüren.

Er ist dabei sichtlich von den Puritanern inspiriert. Das Buch ist gespickt mit Zitaten und Ratschlägen von echten Glaubensvorbildern, wie Thomas Goodwin, Richard Sibbes, Bunyan, Owen, Edwards, aber auch Calvin, Spurgeon, Berkhof, Warfield und Packer. In der Tradition der Puritaner beleuchtet er pro Kapitel schwerpunktmäßig einen Vers aus dem Neuen oder Alten Testament (v.a. aber aus Matthäus, Johannes oder Hebräer). Stück für Stück entfaltet er somit einen ausführlichen Blick auf das Herz Christi.

Ortlund lässt den Leser in das Herz Christi eintauchen – mit dem Ziel, den Gläubigen Trost, Kraft und Ruhe zu bringen. Entgegen dem Verdacht, dass Gottes Geduldsfaden schnell reißt, möchte er uns zu der befreienden Erkenntnis verhelfen, dass der Herr sanftmütig und von Herzen demütig ist.

Von Herzen sanftmütig und demütig

Matthäus 11,29 ist der einzige Vers in den Evangelien, der das Herz Jesu explizit offenbart. Deswegen verwundert es auch nicht, dass Ortlund diesen als Kernvers des Buches einleitet. Jesu grundlegendste Herzenseigenschaft ist seine Sanft- und Demut. Sie definieren sein ganzes Wesen. Ortlund entfaltet in dem ersten Kapitel seine Hauptthese, die er dann in den folgenden Kapiteln mit Belegstellen untermauert.

„Entgegen dem Verdacht, dass Gottes Geduldsfaden schnell reißt, möchte er uns zu der befreienden Erkenntnis verhelfen, dass der Herr sanftmütig und von Herzen demütig ist.“
 

Der Autor betont mehrfach deutlich, dass Jesus uns nie neutral begegnet. Mit Sündern, die sich dem Herrn zuwenden, geht dieser behutsam, geduldig und sanftmütig um – ganz gleich wie abscheulich die Sünde auch ist. Unbußfertigen Sündern hingegen steht ein fürchterliches Urteil bevor.

Der erhabene und heilige Christus schreckt nicht davor zurück, dreckigen Sündern seine Hand auszustrecken. Jesus weist uns niemals zurück und wird nicht müde, uns zu vergeben. Jeden Sünder, der zu ihm kommt, nimmt er bedingungslos an. Der menschgewordenen Sohn Gottes versteht unsere Kämpfe und Zweifel besser als jeder andere. Durch den Heiligen Geist ist uns Jesus heute tatsächlich näher als zur Zeit des Neuen Testaments.

Christi Taten bezeugen seine Herzenseinstellung. Er wird nie aufhören, an unserer Stelle vor dem Vater einzutreten. Aus tiefstem Herzen ist er unser Beistand, Fürsprecher, Anwalt und Freund. Mit seinem ganzen Sein steht er für uns ein und verteidigt uns. Sein Herz schlägt für dich und sein Innerstes sehnt sich nach dir.

Ist uns Jesu sehnsüchtiger Herzschlag inmitten unserer Sündhaftigkeit bewusst? Ortlund wagt die These, dass wir möglicherweise tiefe Gemeinschaft mit Jesus vermeiden, weil wir das Herz Jesu nicht wirklich begreifen (S. 22). Wer versteht, wer Jesus ist, vertraut sich ihm auch mit all seiner Sündhaftigkeit uneingeschränkt an. Erst dann können wir wahre Ruhe für unsere Seelen finden.

Ortlund plädiert dafür, dass wir aufhören müssen so zu leben, als ob unser Gehorsam Gott gegenüber, seine Liebe zu uns verstärken würde. Das ist nicht der Fall. Seine Gnade und Liebe sind gänzlich bedingungslos. Es sind nicht meine Taten, die mein Neues Ich definieren, sondern seine Taten. Wenn wir in Sünde verstrickt sind, dürfen wir erst recht mit der Zuneigung Christi rechnen. Der Herr nutzt liebend gern jede Gelegenheit, um seine Gnade zu präsentieren. Christi eigene Freude nimmt zu im Erweis seiner Barmherzigkeit.

Obwohl Ortlund bewusst die Barmherzigkeit Jesu beleuchtet, vernachlässigt er Jesu Heiligkeit, Gerechtigkeit und Zorn nicht. Er betont, dass Jesu Eigenschaften nicht gegeneinander ausgespielt werden können, sondern immer miteinander zusammenhängen. Umso mehr wir Gottes Zorn gegenüber allem Bösen verstehen, desto größer wird uns auch seine Gnade. Dennoch entspringt die Barmherzigkeit eher dem natürlichen Wesen Gottes, während Bestrafung nicht den Kern seines Charakters kennzeichnet (Klgl 3,33).

Gottes Herz fließt an Erbarmen über. Seine Gnade überrollt jede noch so große Sünde. Der größte Beweis dafür ist Jesu Tod am Kreuz. Niemand hat größere Liebe als Christus. Er war bereit für uns durch die Hölle zu gehen. Der Liebe Gottes zu uns sind keine Grenzen gesetzt.

Am Ende des Buches ruft Ortlund die Leser auf, sich Jesus gegenüber zu öffnen, ihm in die Arme zu laufen und das sanftmütige Herz Christi einfach zu genießen. Tu Buße und lass dich von Ihm lieben!

Durchdrungen von dem Wort Gottes

Die Liebe zur Schrift tropft den einzelnen Seiten förmlich aus allen Poren. Die ehrfürchtige Bewunderung der englischen Glaubensväter des 16. Jahrhunderts ist in allen Kapiteln spürbar. Das Werk atmet die Gotteserkenntnis der Puritaner.

Das kleine Buch hat nicht den Anspruch, dem ganzen Charakter Jesu gerecht zu werden. Es lenkt seine Aufmerksamkeit auf den Kern der Person Jesu. Der ungewohnte Fokus offenbart eine vielfach unbeachtete Wahrheit. Die Gnade Gottes ist in Jesus eine allgegenwärtige Person, die unsere Situation und unsere Bedürfnisse besser als wir selbst nachvollziehen kann. Der Herr sehnt sich danach, uns in Barmherzigkeit zu begegnen. Gottes persönliche Zuwendung entspringt seinem tiefsten Inneren. Der seelsorgerlich pastorale Schreibstil führt den Leser behutsam an das Herz Christi. Gute Veranschaulichungen helfen, abstrakte Wahrheiten zu verstehen und in dem eigenen Leben anwenden zu können.

Das Buch hat eine angenehme Länge von 224 Seiten. Jedes Kapitel umfasst nur etwa acht bis neun Seiten und lässt sich innerhalb weniger Minuten lesen. Es bietet sich an, das Gelesene häppchenweise zu verdauen. Die Lektüre regt zur Selbstreflexion an, versetzt ins Staunen und kann zu einem emotionalen Höhenflug werden.1 Der Inhalt dient als Stärkung für alle Stolperer auf ihrem Weg und weckt Sehnsucht, Hoffnung und Dankbarkeit gegenüber der Person Jesu.

Das Buch ist im Crossway-Verlag erschienen. Es kommt in einer gewohnt stilsicheren Aufmachung mit einem ansprechend gestalteten Cover daher. Das Lesevergnügen wird durch das hochwertige Papier der Seiten, sowie das angenehme Schriftbild gefördert. Fußnoten sind lesefreundlich seitenweise und nicht als Endnoten angegeben. Sehr hilfreich sind sicherlich auch das Bibelstellen-Verzeichnis und Stichwort-Register am Ende des Buches.

Balsam für die Seele

Dane Ortlund gelingt es ausgesprochen gut, das Herz Christi zu portraitieren. Jesus empfängt Sünder mit offenen Armen. Das Büchlein kommt einem erfrischenden Bad in der Gnade Gottes gleich. Als würde man Jesu Herzen ganz nahekommen und ihn aus einem neuen Blickwinkel verstehen lernen. Ich habe mich beim Lesen selbst dabei ertappt, das ein oder andere Mal befreit aufzuatmen. Ich bin neu begeistert worden von der überwältigende Liebe Gottes.

Dieses herzerwärmende Buch ist im Prinzip für jeden Christen zu empfehlen. Besonders jedoch für solche, die müde, enttäuscht oder frustriert sind. Dane Ortlund spricht bewusst entmutigte Gläubige an; die meinen, sie hätten Gott sehr enttäuscht; Kinder Gottes voller Selbstzweifel; Christen, die am eigenen Scheitern zu zerbrechen drohen. Sicherlich ist das Buch deshalb auch für Seelsorger von besonderem Interesse. Ich bin überzeugt, dass es jedem Leser zur Ermutigung dient.

Buch

Dane Ortlund, Gentle and Lowly. The Heart of Christ for Sinners and Sufferers. Crossway, Wheaton, Illinois, 2020, 224 S., ca. 17,00 Euro.


1 Ortlund selbst schreibt, dass er beim Nachsinnen über das sanftmütige Herz Christi mehrfach zu Tränen gerührt war.