Affen- oder Gott-ähnlich?

Der Mensch als Imago Dei

Artikel von Mark Ross
15. Januar 2021 — 8 Min Lesedauer

Das erste Kapitel unserer Bibel ist eine atemberaubende Geschichte der Schöpfung und legt die Grundlage für alles, das danach folgt. Hier erfahren wir, dass die Erde, unsere Heimat im Universum, „im Anfang” formlos und leer, mit Wasser bedeckt und in Finsternis gehüllt war, während der Geist Gottes über den Wassern schwebte (1.Mose 1,2).

Im Verlauf der sechs Schöpfungstage gab Gott der Erde Gestalt und füllte sie. Er schied den Tag von der Nacht, die Wasser oben von den Wassern unten und diese wiederum vom trockenen Land. Dann befüllte Gott diese Bereiche: Er stellte Lichter an den Himmel, um den Tag von der Nacht zu trennen. Er schuf lebendige Wesen, um in den Wassern unten zu schwimmen und Vögel, um oben am Himmel zu fliegen. Er befahl der Erde, Leben hervorzubringen. Schließlich gipfelte sein Werk in der Erschaffung einer anderen Art von Lebewesen: dem Menschen.

Der Mensch im Fokus

Dieses Geschöpf steht eindeutig im Mittelpunkt der Erzählung: Der Mensch war nicht nur der abschließende Schöpfungsakt, sondern nimmt überproportional viel Raum in der Erzählung ein. Hier wird uns etwas ganz Besonderes und sehr Wichtiges vor Augen gestellt.

„Es mag uns überraschen, aber der Mensch ist nach Gottes ‚Art‘, im Bild Gottes (Imago Dei), erschaffen.“
 

Das Kapitel teilt die Gesamtheit aller Wesen in zwei Kategorien: Den Schöpfer und die Geschöpfe. Gott allein, der Schöpfer des Himmels und der Erde, steht als der ungeschaffene Herr über allem. Alles andere ist erschaffen und damit endlich, begrenzt, abhängig und veränderlich. Einige davon sind Lebewesen (die Pflanzen und die Tiere), in einigen davon wiederum ist der Atem des Lebens (V. 30). Zu dieser Gruppe gehört der Mensch. So wie andere in dieser Gruppe wurde der Mensch männlich und weiblich geschaffen und dazu berufen, fruchtbar zu sein, sich zu mehren und die Erde zu füllen (Verse 22, 28). Auch andere Ähnlichkeiten (wie eine behaarte Haut oder dass die weibliche Seite Nachkommen zur Welt bringt und stillt) sind festzustellen. Aber trotz allen Ähnlichkeiten hat der Menschen etwas, das ihn von allen anderen Geschöpfen deutlich unterscheidet.

Alle „nach ihrer Art“

Die erste Erwähnung von Lebendigem findet sich, als Gott die Pflanzenwelt aus der Erde hervorsprossen lässt (V. 11). Dann kommen die Geschöpfe, die im Meer leben und die Vögel, die in der Luft fliegen (V. 20), dann das Vieh, das Gewürm und die wilden Tiere der Erde (V. 24). Sie alle sind „nach ihrer Art“ gemacht. Dieser Ausdruck kommt zehnmal vor und hinterlässt einen deutlichen Stempel auf dem Bericht. Er weist darauf hin, dass es trotz der großen Vielfalt aller Lebewesen dennoch Gruppierungen unter ihnen gibt. Diese teilen gewisse Merkmale miteinander und bilden sozusagen „Familien“, welche mit der modernen Unterscheidung von Gattung und Spezies vergleichbar sind. Der Hauptzweck dieses Ausdrucks hingegen ist weniger, uns in die Wissenschaft der Taxonomie einzuführen; vielmehr soll er einen Hintergrund bilden, vor dem sich der Mensch von allen anderen Lebewesen abhebt.

Der Mensch nach Gottes „Art"

Als Gott den Menschen macht, durchbricht er das bisherige Muster, alle Lebewesen „nach ihrer Art“ zu erschaffen. Durch die zehnmalige Erwähnung dieses Musters erwarten wir es schon jedes Mal, wenn ein neues Lebewesen erschaffen wird. Als der Mensch gemacht wird, geschieht aber etwas ganz anderes: Er wird nicht „nach seiner Art“ gemacht. Ebenso wenig wird er nach der Art irgendeines anderen Lebewesens erschaffen. Der Mensch gehört also – welche Ähnlichkeiten auch immer zwischen ihm und den anderen Lebewesen bestehen – nicht zu ihren Arten. Um es in moderner Wissenschaftssprache auszudrücken: Er ist keine besondere Spezies einer schon vorhandenen Gattung von Lebewesen. Der Mensch ist anders als alle anderen Lebewesen (V. 26). Es mag uns überraschen, aber der Mensch ist nach Gottes „Art“, im Bild Gottes (Imago Dei), erschaffen. So wie Gott ist auch der Mensch eine Person. Wie die Bibel später offenbart, besteht Gott aus drei Personen, welche alle die göttliche Natur besitzen. Menschen sind erschaffene Wesen und in diesem Punkt (wie in manchen anderen) den übrigen Geschöpfen ähnlich – sie haben gewisse Eigenschaften mit ihnen gemeinsam. Das wichtigste Merkmal des Menschen ist jedoch seine Gottebenbildlichkeit. Diese Ebenbildlichkeit ist so herausragend, dass sie den Menschen von allen anderen Geschöpfen Gottes unterscheidet. Der Mensch ist nicht nach ihren Arten geschaffen – er ist nach Gottes „Art“ geschaffen. Mit anderen Worten: Der Mensch ist als Bild Gottes gemacht, ihm ähnlich.

Der Mensch als Verwalter der Erde

Da sie die Imago Dei tragen, wird den Menschen ein gewisses Maß an Herrschaft über die ganze Erde übertragen – und zwar über die Fische des Meeres, die Vögel in der Luft, das Vieh und jedes Gewürm (V. 28). Sie werden auch damit beauftragt, sich die Erde untertan zu machen (V. 28). Diese Ausdrucksweise weckt die Vorstellung einer regierenden, ja, sogar erobernden Position, wie auch Psalm 8 deutlich macht (s. Verse 5–8). Alles ist den Füßen des Menschen unterworfen; von Tyrannei und Ausbeutung ist dabei allerdings nicht die Rede. 1.Mose 2,4–25 zeigt, dass der Mensch sich als Verwalter der Erde am Beispiel Gottes orientieren soll. Gott pflanzt einen Garten in Eden und setzt den Menschen dort hinein, um ihn zu bearbeiten und zu bewahren (2,8.15). Was Gott in Gang gesetzt hat, soll der Mensch erhalten und kultivieren. Gott nennt das Licht Tag und die Dunkelheit Nacht; er nennt die Ausdehnung Himmel und die Wasser Meer (1,5.8.10). Und nun gibt er dem Menschen den Auftrag, all den Lebewesen, die er gemacht hat, Namen zu geben (2,19).

„Der entscheidende Punkt ist, dass der Mensch nicht wirklich zu den Tieren gehört, welche Merkmale er auch immer mit ihnen teilt.“
 

Auch wenn in 1.Mose 2 die Worte Bild und Ebenbildlichkeit nicht benutzt werden, hat dieses Kapitel seine eigene Methode, um die Einzigartigkeit des Menschen unter allen Lebewesen zu unterstreichen. Als Gott ihn aus dem Staub formte und in den Garten setzte, erklärte er, dass es nicht gut für den Menschen sei, allein zu sein. Daher entschied Gott, ihm eine Gehilfin zu geben, die ihm entspricht (2,18).

Nach dieser feierlichen Erklärung stellte Gott dem Menschen alle Tiere vor, die er gemacht hatte, um ihnen Namen zu geben. Was ist der Sinn dieses Aufmarschs der Tiere vor dem Menschen? Warum erschafft Gott nicht gleich die Frau? Was zuerst aussieht wie eine Unterbrechung der Geschichte, unterstreicht bei näherer Betrachtung ihren eigentlichen Zweck: „… aber für den Menschen fand sich keine Gehilfin, die ihm entsprochen hätte“ (V. 20). Der entscheidende Punkt ist, dass der Mensch nicht wirklich zu den Tieren gehört, welche Merkmale er auch immer mit ihnen teilt. Unter all den Tieren fand sich keine passende Gehilfin für Adam und kein Geschöpf seiner Art, mit dem er gemeinsam die Berufung Gottes erfüllen konnte. Darum machte Gott eine Frau, die „Gebein von [seinem] Gebein und Fleisch von [seinem] Fleisch“ war (V. 23). Wie er war auch sie im Bild und Gleichnis Gottes gemacht (1,28). Zusammen sollten sie Gottes Auftrag ausführen und fruchtbar sein, sich mehren, die Erde füllen und sich untertan machen. Gott schuf den ersten Mann und die erste Frau; nun sollten alle anderen Menschen durch die beiden entstehen. Der Mann und die Frau, die im Bild und Gleichnis Gottes geschaffen waren, sollten fortführen, was Gott begonnen hatte.

Entstellt, aber nicht verloren

Tragischerweise haben sich die beiden von Gott abgewendet und sind in Sünde gefallen. Sie wollten noch mehr wie Gott werden (3,5) und selbst zwischen Gut und Böse entscheiden. Das Bild Gottes wurde entstellt. Obwohl sie aufrichtig geschaffen wurden, schmiedeten sie hinterlistige Pläne (Pred 7,29). Ihre Nachkommen würden ebenfalls dieses entstellte Bild tragen (Röm 5,12–21).

„Die Gesamtheit christlicher Ethik ist auf der Imago Dei gegründet.“
 

Dennoch ging das Bild Gottes nicht ganz verloren und was davon übrig blieb, reicht immer noch aus, um die darin begründete Unantastbarkeit des menschlichen Lebens aufrechtzuerhalten. 1.Mose 9,6 zeigt, dass das Auslöschen eines unschuldigen menschlichen Lebens als Angriff auf das Bild Gottes gewertet wird und daher mit dem Tod bestraft werden muss. Der Mensch als Bild Gottes soll Leben geben, nicht unschuldiges Leben nehmen. Wenn wir zu Mördern werden, widersprechen wir damit unserem Lebenszweck und verwirken den göttlichen Schutz, der uns bis dahin deckt. Unser Leben ist in Gottes Augen so kostbar, dass sogar ein Tier getötet werden muss, wenn es einem Menschen das Leben nimmt (1.Mose 9,5; 2.Mose 21,28–32).

Die Imago Dei im praktischen Miteinander

Gleich wie wir Gott ehren und mit unseren Worten loben sollen, so sollen wir niemals die verfluchen, die in der Ebenbildlichkeit Gottes gemacht sind (Jak 3,9). Die Gesamtheit christlicher Ethik ist auf der Imago Dei gegründet: Ehemänner sollen ihre Frauen lieben, wie Christus die Gemeinde liebt (Eph 5,25–27). Väter sollen ihre Kinder in der gleichen Weise erziehen und unterweisen, wie Gott das mit seinen Kindern tut (Eph 6,4). Die tröstende Liebe einer Mutter ist Bild und Gleichnis der tröstenden Liebe Gottes (Jes 66,13). Irdische Herren sollen die Gerechtigkeit und Fairness des Herrn im Himmel widerspiegeln (Eph 6,9; Kol 4,1).

Obwohl die Sünde das Bild Gottes in uns sehr verzerrt hat, wird dieses Bild durch die Gnade Gottes in Christus wiederhergestellt (Eph 4,24; Kol 3,10). Indem wir durch diese Gnade leben, sehen die Menschen unsere guten Werke und verherrlichen unseren Vater im Himmel (Mt 5,16). Wenn unsere Wiederherstellung vollendet ist, werden wir für immer in der Gegenwart Gottes leben und mit seiner Herrlichkeit bekleidet werden (Offb 21–22). Dann werden wir wirklich seine „Art“ Menschen sein. Gott sei Dank dafür!