Why the Reformation still matters

Rezension von Kai Soltau
25. Januar 2021 — 9 Min Lesedauer

Reformation ist kein Schnee von gestern

„Die Reformatoren sind nicht Großeltern, für die wir uns schämen müssen – sie sind wichtige Gesprächspartner mit dem Potenzial, unsere Gemeinden zu erneuern und neu zu beleben“ (S. 18). Mit diesen Worten schließen Michael Reeves und Tim Chester die Einleitung zu ihrem 2016 in England erschienenen Buch Why the Reformation Still Matters ab (dt. „Warum die Reformation immer noch von Bedeutung ist“). Und tatsächlich gelingt es ihnen in diesem Buch sehr gut, dem Leser deutlich zu machen: Wir sollten die Lehren und Wahrheiten, die die Reformatoren (wieder)entdeckt haben, zum Anlass nehmen, viele Aspekte, Strömungen und Praktiken des gegenwärtigen Evangelikalismus ganz neu zu überdenken und in Frage zu stellen (S. 18).

Das Buch ist in elf Kapitel gegliedert, die sich jeweils einem der Schlüsselthemen der Reformation widmen – von Rechtfertigung und rechtem Schriftverständnis über Sünde, Gnade und Einssein mit Christus bis hin zu den Sakramenten, der Kirche und der zukünftigen Herrlichkeit, die den Christen einst erwartet. Jedes Kapitel beginnt damit, dass der Leser in die Auseinandersetzungen der Reformatoren mit den Lehren und Verirrungen der damaligen römisch-katholischen Kirche mit hineingenommen wird. Zum Ende jedes Kapitels hin wird dann aber deutlich, dass sich diese Lehren und Verirrungen heute noch teilweise in Aspekten und Praktiken des Evangelikalismus widerspiegeln und wiederfinden.

Somit zeigt das Buch, das pünktlich zum 500-jährigen Reformationsjubiläum erschienen war, dass auch heute wieder (oder noch immer) Reformation in unseren Gemeinden nötig ist. Reeves und Chester schreiben dieses Buch ganz aus der Überzeugung der Reformatoren heraus: semper reformanda – was, wie sie festhalten, am besten als „immer reformiert werden“ verstanden werden sollte. Weil die beiden Autoren die Relevanz der damaligen Auseinandersetzungen für heute aufzeigen, können die beiden schlussfolgern, dass die Reformation eben kein Schnee von gestern ist.

Was mich beeindruckt hat

Was mich persönlich an diesem Buch am meisten fasziniert hat, ist, dass es Reeves und Chester sehr gut gelingt aufzuzeigen, wie die einzelnen Schlüsselthemen der Reformation alle irgendwie zusammenhängen. Ohne dass die Frage irgendwo im Buch explizit aufgeworfen wird, dreht sich jedes Kapitel darum, ob das christliche Leben Gott-zentriert oder Menschen-zentriert angegangen werden soll.

„Vielmehr macht Luther in dieser Schrift deutlich, dass die Entscheidungen des Menschen von seinen Sehnsüchten und Begierden bestimmt sind.“
 

Beispielsweise wenden sich Reeves und Chester im dritten Kapitel dem Thema „Sünde“ zu: Ist der entscheidende Punkt im menschlichen Kampf gegen die Sünde, dass der Mensch sich noch mehr bemüht, weniger zu sündigen, oder dass der Mensch seine Beziehung zu Gott als etwas weitaus Begehrenswerteres und Erfüllenderes erkennt als das, was die Sünde ihm bieten kann? In diesem Kapitel vergleichen die Autoren Luthers Schrift („Über den geknechteten Willen“; lat. De servo arbitrio) mit Erasmus von Rotterdams Schrift („Vom freien Willen“; lat. De libero arbitrio“), in denen jeder seine Sichtweise darlegt, zu welchem Grad der Mensch in seiner Sünde verdorben ist (S. 57ff.). Reeves und Chester machen deutlich, dass der Titel von Luthers Buch vielleicht irreführend ist. Luther hat nicht behauptet, dass der Mensch nicht frei sei, das zu tun, was er will. Vielmehr macht Luther in dieser Schrift deutlich, dass die Entscheidungen des Menschen von seinen Sehnsüchten und Begierden bestimmt sind. Genau das ist der ausschlaggebende Punkt: Wir entscheiden zu sündigen, weil wir sündigen wollen! Und wir werden der Sklaverei der Sünde nicht entkommen, wenn wir nicht neue Sehnsüchte bekommen. Das geschieht nicht durch äußere Veränderungen unserer Verhaltensweisen und die Einübung neuer Gewohnheiten – wie Erasmus behauptete – sondern einzig durch eine radikale innere Erneuerung. Reeves und Chester bringen folgendermaßen auf den Punkt, was in uns geschehen muss:

„Wenn Herzen, die den verzaubernden Lügen der Sünde versklavt sind, jemals für Gott gewonnen werden sollen, muss ihnen die Herrlichkeit Gottes angesichts Christi bekannt gemacht werden. Es muss gezeigt werden, dass [Christus] besser und wünschenswerter ist als unsere Sünde.“ (S. 65)

Das bringt uns zum Thema des vierten Kapitels: „Gnade“. Diese „Herrlichkeit Gottes angesichts Christi“ zeigt sich wohl nirgends so sehr wie in Gottes Gnade. Und hier stellt sich die Frage: Ist Gnade etwas, das Gott mir zur Verfügung stellt – ähnlich wie ein „geistliches Red Bull“, wie Reeves und Chester es beschreiben? D.h. ein geistliches Serum, das mich beflügelt, ein besserer Menschen zu werden? Oder ist Gnade etwas, in dem Gott uns nichts geringeres als sich selbst gibt? Die beiden Autoren führen das römisch-katholische Verständnis der Gnade wie folgt aus:

„Das Red Bull der Gnade wird denen gegeben werden, die es wollen und anstreben, und es rettet nur insofern, als dass es den Menschen ermöglicht, heilig zu werden und so ihre Erlösung zu erreichen.“ (S. 70)

Es ist ernüchternd hier zu überlegen, wie wir heute im modernen Evangelikalismus häufig ganz ähnlich über die Gnade Gottes in der Heiligung denken!

Die Gnade Gottes ist jedoch nicht mit geistlichem Red Bull zu vergleichen, sondern wie die Reformatoren erkannten, mehr mit einer Ehe, z.B. der Ehe zwischen einem König und einer verkommenen und verarmten Prostituierten – ein Bild, das Luther immer wieder verwendete.

„Bei der Hochzeit findet ein wunderbarer Tausch statt: Der König nimmt die ganze Schande und Geldschuld seiner Braut auf sich. Die Prostituierte (jedoch) erhält den ganzen Reichtum und den königlichen Status ihres Bräutigams. ... Die Prostituierte wird sich immer mehr in ihrem Verhalten und Handeln verändern, wie es einer Königin gebührt, je mehr sie mit dem König zusammenlebt und die Geborgenheit seiner Liebe spürt, aber sie wird niemals mehr Königin sein. Sie ist die Königin.“ (S. 72)

Was für ein wunderbares Bild der rettenden Gnade Gottes! Aber Reeves und Chester gehen mit dem Bild der Ehe noch einen Schritt weiter. Sie streichen hervor, dass ein Mann und eine Frau sich in der Ehe nicht vereinen, um sich dadurch irgendwelche Vorteile zu verschaffen, sondern letztendlich, um einander zu haben. Und so ist die Gnade nicht eine Sache, die Gott uns gibt. In seiner Gnade gibt Gott uns letztendlich sich selbst.

„Und so ist die Gnade nicht eine Sache, die Gott uns gibt. In seiner Gnade gibt Gott uns letztendlich sich selbst.“
 

Eng verbunden mit dem Thema „Gnade“ sind natürlich auch die Themen „Gerechtigkeit“ und „Rechtfertigung“, denen Reeves und Chester sich im ersten Kapitel des Buches zuwenden. Hier stellen sie ihre Leser vor die Frage: Ist die Gerechtigkeit, die vor Gott zählt, eine innewohnende (röm.-kath. Lehre) oder eine angerechnete (reform. Lehre) Gerechtigkeit? Oder anders formuliert: Ist die Rechtfertigung eher mit einem Krankenhaus und Heilungsprozess zu vergleichen, in dem man durch die Gnade Gottes „gesund gepflegt“ wird, so dass man vor Gott durch die einem innewohnende Gerechtigkeit immer angenehmer wird? Oder ist Rechtfertigung eher mit einer forensischen (gerichtlichen) Handlung zu vergleichen, in der die Gerechtigkeit, auf die es wirklich ankommt, einem zugerechnet wird – also eine fremde Gerechtigkeit ist? Auch hier wird wieder der Unterschied zwischen einem Menschen-zentrierten und Gott-zentrierten Verständnis des christlichen Lebens und der Heiligung deutlich.

Am deutlichsten wird die Frage zwischen einer Gott-zentrierten und Menschen-zentrierten Auffassung des christlichen Lebens aber vielleicht im sechsten Kapitel über das Thema „Einssein mit Christus“. Reeves und Chester beschreiben die Erkenntnis der Reformatoren zu diesem Thema als eine wahrhaftig „kopernikanische Revolution“ in der Theologie (S. 101): Das christliche Leben dreht sich nicht darum, wie ich mich als Christ mit Christus in meiner Umlaufbahn mache. Nein, das christliche Leben dreht sich darum zu erkennen und auszuleben, dass Christus im Zentrum steht und ich durch Gottes Gnade in seine Umlaufbahn hineingenommen wurde! Was Christus für mich bedeutet, ist das, was zählt und nicht , was ich für Christus bedeute!

Bei diesem Verständnis unserer „Union“ mit Christus ist Jesus Christus auch nicht länger ein Mittel zum Zweck. Reeves und Chester zitieren hier Calvins hilfreiche Schlussfolgerung:

„Das heißt, wir sind nicht mit Christus vereint, damit wir etwas anderes als Belohnung erhalten können: den Himmel, Gerechtigkeit, Erlösung oder was auch immer. Wir suchen nicht, wie Calvin es ausdrückte, ‚in Christus etwas anderes als Christus selbst‘. Der große Lohn des Einsseins mit Christus ist Christus selbst. Ihn zu kennen und zu genießen ist das ewige Leben, für das wir gerettet wurden. Aus diesem Grund begann Calvin in seinen frühesten Tagen als junger Gläubiger sich als ‚Liebhaber Jesu Christi‘ zu identifizieren.“ (S. 103)

Fazit

Warum ist die Reformation kein Schnee von gestern? Warum sind die Reformatoren „wichtige Gesprächspartner mit dem Potenzial, unsere Gemeinden zu erneuern und neu zu beleben“? Weil sie uns vor dieselbe Frage stellen, die auch vor 500 Jahren die Reformatoren beschäftigt hat: Ist das christliche Leben Menschen- oder Gott-zentriert? Daraus ergeben sich zwei radikal unterschiedliche Auffassungen des Christseins. Kann es sein, dass bei dieser Frage deutlich wird, wie vieles in unserer evangelikalen Landschaft heute eher katholisch als reformatorisch ist?

Reeves und Chester wenden sich in ihrem elften und letzten Kapitel dem Thema „Freude und Herrlichkeit“ zu und beginnen das Kapitel mit dem Verweis auf die erste Frage aus dem Kürzeren Westminster Katechismus:

Frage: Was ist das höchste Ziel des Menschen?
Antwort: Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen.

Reeves und Chester fassen zusammen, dass „die Herrlichkeit Gottes und die Freude an ihm“ als zwei „unzertrennliche Zwillingswahrheiten Leitlichter für die Reformatoren waren“ (S. 166). Wenn das Buch Why the Reformation Still Matterseines bei mir bewirkt hat, dann ist es sicherlich, die Freude an der Herrlichkeit Gottes anzufeuern, dass das Heil durch Christus allein, durch Gnade allein, durch Glauben allein und zur Ehre Gottes allein ist! Das macht dieses Buch auch so empfehlenswert.

Buch

Tim Chester, Michael Reeves, Why the Reformation still matters, London: Inter-Varsity Press, 2016, 156 Seiten.