Calvin als Seelsorger in seinen Briefen

Artikel von Andreas Münch
19. Februar 2021 — 9 Min Lesedauer

Dem Calvin-Kenner und Biografen Herman J. Selderhuis zufolge ist Calvin auf den ersten Blick nicht mehr als „ein Buch mit einem Spitzbart, jemand, der sein ganzes Leben lang an einer trockenen Dogmatik herumdoktert und in seiner Freizeit Ketzer verbrennt“[1]. Diese Einschätzung dürfte ziemlich genau dem öffentlichen Calvinbild entsprechen.

Calvin ist weithin als Dogmatiker bekannt, was insbesondere seinem Hauptwerk, der Institutio, zu verdanken ist. Wenn man an den Menschen Calvin denkt, kommt einmal nicht als erster der Begriff der Seelsorge in den Sinn, obwohl Calvin als Genfer Pfarrer natürlich seelsorgerlich tätig war. Aus naheliegenden Gründen liegen uns heute keine Gesprächsprotokolle vor, wie sie zeitgenössische Seelsorger anfertigen, anhand derer wir Calvin als Seelsorger kennenlernen könnten. Dennoch besitzen wir heute eine ergiebige Quelle, um Calvin als Menschen und Seelsorger besser kennenzulernen, nämlich sein umfassendes Briefwerk.

Calvin – ein treuer Brieffreund

Während seiner gesamten Wirkungszeit hat Calvin fleißig Briefe an verschiedene Leute und zu verschiedenen Themen und Fragen geschrieben, sodass wir mit ihnen eine unverzichtbare Quelle besitzen, um ein deutliches Bild von Calvin als Seelsorger zu zeichnen. Von Calvin selbst sind uns etwa 1200 Briefe erhalten geblieben. Ein Großteil dieser Briefe wurden für die deutsche dreibändige Ausgabe von Rudolf Schwarz übersetzt, die heute antiquarisch zu erhalten ist.[2]

Calvin schrieb an alle möglichen Leute, angefangen vom einfachen Mann mit Glaubensfragen, über seine Mitstreiter in der Reformation bis hin zum europäischen Adel seiner Zeit.

Einer der frühen Briefe an den Adel ist der Trostbrief an Herrn de Richebourg, den Calvin Anfang April 1541, anlässlich des Todesfalles eines der Söhne, verfasste. Hans Scholl bezeichnete diesen Brief als „das vielleicht schönste Seelsorgedokument aus Calvins Hand“[3] Wer diesen Brief aufmerksam gelesen hat, kann diesem Urteil durchaus zustimmen. Denn in diesem Brief vereinen sich sowohl der emotionale Calvin, der mit den Leidenden mitfühlt, als auch der klar denkende Calvin, der trotz aller Not den Blick klar auf Gott gerichtet hält – zwei Eigenschaften, die jeden Seelsorger auszeichnen sollten.

Trostbrief an einen trauernden Vater

Zunächst einmal erstaunt uns die Offenheit Calvins, die so gar nicht zum öffentlichen Calvinbild zu passen scheint. Calvin schreibt:

„Als ich zuerst die Nachricht vom Tode des Magisters Claude und Ihres Sohnes Louis erhielt, war ich so erschreckt und bedrückt im Gemüt, daß ich mehrere Tage nichts anders konnte als weinen. Und obwohl ich mich der Gegenwart Gottes etwas stärkte und mich tröstete an der Hilfe, die er uns im Unglück bietet, so kam’s mir vor den Leuten doch vor, als sei ich nicht mehr ich selbst. Wahrhaftig, zu all meinem gewohnten Tun war ich nicht mehr fähig, wie wenn ich selbst halbtot wäre.“ (Briefe, S. 185).
„Calvin war keineswegs der gefühlskalte Dogmatiker, als der er oftmals angesehen wird, sondern er konnte mit den Weinenden weinen.“
 

Calvin war keineswegs der gefühlskalte Dogmatiker, als der er oftmals angesehen wird, sondern er konnte mit den Weinenden weinen (vgl. Röm 12,15). Dass er diesen Brief auch nicht mal eben aus dem Ärmel schüttelte, wiederholt er mehrere Male. Auch will er nicht „die gewöhnlichen Trostgründe anführen, die man gewohnheitsmäßig vorbringt unter Leuten von Bildung und Ansehen nach der Welt“; vielmehr verweist er auf den

„sichern und festen Trost, an dem Sie und die in gleicher Lage sind wie Sie festhalten müssen ganz und gar. Der geht hervor aus dem innerlichen Bewußtsein der Kenntnis Gottes, das Sie, wie ich weiß, in reicher Fülle besitzen“ (Briefe, S. 186).

Calvin weiß, dass bei dem Verlust eines geliebten Kindes fromme Floskeln unangebracht und wenig hilfreich sind. Deshalb schreibt er:

„Der Herr hat den Sohn zu sich zurückgenommen, den er Ihnen gegeben und gleichsam zur Bewahrung Ihren Händen anvertraut hat. Da verlieren ihre Macht und fallen ihn die leeren, ungeschickten, unvernünftigen Klagen, die man hört aus dem Mund törichter Leute: O blinder Tod! O ungerechtes Schicksal! O schreckliches Unglück, unvermeidlich und widerwärtig! O grausames Geschick! Der Herr, der ihm bestimmt hat, für eine gewisse Zeit seinen Aufenthalt zu nehmen in diesem Leben, hat ihn nun zurückgerufen. Wenn wir hören, daß der Herr etwas getan hat, wo wollen wir doch je und je denken, daß es nicht blindlings geschehen ist noch zufällig, noch durch Schicksalsfall, noch aus irgendeiner andern Ursache, als durch seinen Willen, durch den er nichts anderes anordnet und tut, als was ihm nicht nur recht und billig, sondern auch gut für uns und unser Heil erscheint.“ (Briefe, S. 186–187).

Hier tritt die Lehre von der Vorsehung Gottes in den Vordergrund, ohne die es nach Calvin keinen wirklichen Trost in dieser Welt geben kann. Er bringt seine Überzeugung sehr gut auf den Punkt, wenn er fortfährt:

„Freilich bietet schon allein die Vorsehung Gottes an sich selbst den Gläubigen genug, ja reichlich und in aller Fülle Stärkung und Erleichterung, mag ihnen widerfahren, was will. Denn nichts raubt uns mehr die Kraft und schlägt den Geist nieder, als wenn wir uns in Klagereden ergehen in den Fragen: Warum ging’s so? Warum nicht anders? Warum gerade hier so?“ (Briefe, S. 187).

Das bedeutet nicht, dass es keinen Platz für emotionalen Schmerz im Leben eines Gläubigen geben kann, denn Calvin schreibt:

„Denn solche Lebensklugheit lernen wir in Christi Schule nicht, daß wir die uns von Gott gegebenen menschlichen Gefühle ablegen und aus Menschen Steine werden.“ (Briefe, S. 190).

5 Gedanken, um die Trauer ins rechte Licht zu rücken

Sowohl Herr der Richebourg als auch Calvin litten sehr unter dem Tod von Louis. Doch Calvin gibt dem trauernden Vater folgende Gedanken mit auf den Weg, die dessen Trauer ins rechte Licht rücken sollen:

1. Louis war und blieb ein Geschöpf Gottes und damit dessen Eigentum

„So ist’s also Gott, der den Sohn zurückforderte, den er uns anvertraut, damit wir für ihn sorgten, aber unter der Bedingung, daß er stets sein Eigentum bleibe“ (Briefe, S. 187).

2. Der plötzliche Tod war sowohl für Louis als auch für den Vater von irgendeinem Nutzen, auch wenn Letzterer noch nicht ersichtlich war

„Wenn Sie es jetzt noch nicht verstehen können, daß es Ihnen so gut und nützlich war, so soll Ihr erstes sein, Gott zu bitten, daß er es Ihnen zeige, und selbst wenn er es Ihnen verbirgt, um Sie noch mehr in Trübsal zu üben, so müssen Sie ihm doch die Ehre geben und glauben, daß er weiser ist, als unser mangelhaftes Verständnis es erfasst“ (Briefe, S. 187).

3. Das Leben in dieser gefallenen Welt ist hart und es liegt kein geringer Trost darin, dass Louis früh aus dieser gottlosen Welt befreit wurde; anstatt verpassten zukünftigen Gelegenheiten hinterher zu trauern, sollte man sich über die Gott gewirkten Früchte im Leben von Louis freuen:

„Übrigens, da der Herr selbst, der unser aller Vater ist, gewollt hat, daß Louis ihr Sohn sei, so hat er Ihnen in seiner unbegrenzten Freigebigkeit die Gnade verliehen, noch vor Ihres Sohnes Tod die schöne Frucht Ihrer Erziehung an ihm sehen zu dürfen. ... Denn so alt ist er geworden, daß er mit wahrem Zeugnis bekräftigen konnte, er sei ein Glied Christi. Nachdem er solche Frucht getragen, erlosch sein Leben, und er ward uns genommen“ (Briefe, S. 187–189).

4. Es würde eines Tages in der Ewigkeit ein Wiedersehen zwischen Vater und Sohn geben:

„Glauben Sie nicht, Sie hätten den verloren, den Sie in der seligen Auferstehung, im Gottesreich wiederbekommen werden“ (Briefe, S. 189).

5. So schmerzhaft auch der Verlust von Louis war, so blieb de Richebourg noch sein Sohn Charles, der ihm ebenso Freude bereitete wie sein Bruder:

„Sie haben ja noch Charles, der nach unser aller Urteil so ist, daß jeder sich einen solchen Sohn wünschte“ (Briefe, S. 189).

Letzteres sagte Calvin nicht einfach so daher, denn er beteuert einen weiteren Grundsatz seines Hirtendienstes, der sich durch all seine Briefe zieht:

„Glauben Sie nicht, daß ich das Ihren Ohren zuliebe sage oder irgend etwas Ihnen zuliebe übertreibe. Das ist nicht meine Art und Gewohnheit.“ (Briefe, S. 189)

Das war es tatsächlich nicht. Was Calvin schrieb, das meinte er auch so. Abschließend wünschte er de Richebourg alles Gute, wenn er schreibt:

„Der Herr Jesus Christus behüte Sie und Ihr Haus und leite Sie alle mit seinem Geist, bis Sie dahin kommen, wohin Louis und Claude vorausgegangen sind“ (Briefe, S. 190).

Was wir von Calvin lernen können

Wenn „Leuten von Bildung und Ansehen nach der Welt“ großes Leid widerfährt, dann brauchen sie genauso wie jeder andere sowohl ehrliche Anteilnahme als auch solide Theologie, die ihnen dabei hilft, das Leiden richtig einzuordnen. Das Leid und insbesondere der Tod lassen sich von irdischen Titeln und menschlichen Erfolgen nicht beeindrucken und nehmen darauf auch keine Rücksicht.

„Das Leid und insbesondere der Tod lassen sich von irdischen Titeln und menschlichen Erfolgen nicht beeindrucken und nehmen darauf auch keine Rücksicht.“
 

Calvin war sich bewusst, dass fromme Floskeln, wie man sie vielleicht aus Scheu vor besonders hochrangigen oder erfolgreichen Menschen schnell äußert, fehl am Platz sind. Menschen in Führungspositionen sind naturgemäß von vielen Menschen umgeben, was nicht automatisch heißt, dass sie auch gute Freunde besitzen, die sie wirklich auffangen und trösten können, wenn sie von Leid getroffen werden.

Aus Calvins Brief wird ersichtlich, dass er de Richebourg persönlich kannte und mit dessen Familie befreundet war. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so hätte Calvin sich wahrscheinlich nicht in der Position gesehen, sich so auszudrücken, wie er es letztendlich tat. Hieran wird ersichtlich, dass der besten Seelsorge eine persönliche und echte Freundschaft vorausgeht. Pastoren und Christen sollten daher die Notwendigkeit sehen, echte Freundschaften zu den de Richebourgs dieser Welt zu pflegen, insbesondere wenn es sich um Mitglieder unserer Gemeinden handelt. Es mag verhältnismäßig leicht (und vermutlich auch angenehm) sein, zu den bessergestellten Gemeindemitgliedern eine Beziehung aufzubauen, einfach aus dem Grund, weil ihr Lebensstil einen gewissen Reiz auf uns ausübt. Doch an dieser Stelle mag es für uns hilfreich sein, uns zu fragen, wie intensiv diese Freundschaften sind? Stehen wir auch dann noch an ihrer Seite, wenn ihre schöne Welt ins Wanken gerät? Können wir sowohl echtes Mitgefühl als auch eine hoffnungsvolle Sichtweise auf Gott vermitteln oder gehören wir zu denen, die es bei frommen Floskeln belassen?


[1] Herman J. Selderhuis, Johannes Calvin – Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel: Eine Biografie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2009, S. 10.

[2] Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen – Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung von Rudolf Schwarz, Neukirchener Verlag, Neukirchen, 1961

[3] Hans Scholl, „Calvin“, in Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Hg. Christian Möller, Bd. 2, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1996, S. 107.