Das Evangelium in jeder Predigt
„Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du willst tatsächlich eine Predigtserie über die zu Beginn des 3. Buch Mose beschriebenen Opfer machen?“ Das war eine Reaktion, als ich vor einiger Zeit genau das plante – eine Predigtserie zu den fünf Opfern, die im 3. Buch Mose, Kapitel 1–7 beschrieben werden. Und tatsächlich ist es wohl so, dass für viele Christen viele Teile des Alten Testaments für uns heute vollkommen irrelevant erscheinen. Und so werden weite Teile des Alten Testaments nie gepredigt.
Andere Prediger vertrauen den Worten des Paulus aus dem 2Tim3,16f[1]: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“ Und so predigen sie alttestamentliche Texte und finden dabei mit viel Mühe Morallehren, die dann auf die Gemeinde hin angewandt werden. Der Bericht von David und Goliath (1Sam 17) lehrt uns, was wir erreichen können, wenn wir uns voller Gottvertrauen mutig Feinden entgegenstellen. Und der scheinbar obskure Bericht über die Schandtat von Gibea (Ri 19–21) dient uns zur Ermahnung, dass wir nachdenken sollten, bevor wir handeln.
Doch ist das wirklich die zentrale Funktion alttestamentlicher Texte? Geht es hier primär um Glaubensvorbilder und Morallehre?
Wir tun gut daran zu bedenken, was Paulus in 2Tim 3 im Vers vor den oben zitierten Versen schreibt. Dort erklärt er dem jungen Timotheus, dass die heilige Schrift (und das war zur Zeit des 2. Timotheusbriefs vor allem das Alte Testament) „dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus“ (2Tim 3,15).
Ziel dieses Artikels ist es, 1) dem Leser deutlich vor Augen zu führen, dass jeder Textabschnitt der Bibel in einem Zusammenhang mit dem Evangelium von Jesus Christus[2] steht und deshalb auch in seinem Bezug zum Evangelium gepredigt werden sollte und dann 2) praktische Hilfestellung dafür zu geben, wie der Evangeliumsbezug eines Textabschnitts erkannt werden kann. Mit „Textabschnitt“ ist dabei eine komplette literarische Einheit, z.B. ein Satz, ein Absatz oder ein längerer erzählender Abschnitt, gemeint. Wie lang ein solcher Abschnitt ist, hat immer auch mit dem Genre, rhetorischen Mitteln und dem Zusammenhang, in dem ein Text steht, zu tun. Es geht also nicht darum, dass jeder Bibelvers einen zwingend unmittelbaren Bezug zum Evangelium hat, aber eben in einer Sinneinheit steht, die wiederum einen Bezug zur Gesamtaussage der Bibel und ihrer Hauptbotschaft hat. Dieser Zusammenhang sollte deutlich gemacht werden. Jede textauslegende Predigt sollte also eine Evangeliumspredigt sein.
„Wenn eine Predigt so auch in einer jüdischen Synagoge gepredigt werden könnte, dann sollte uns das zu denken geben.“
Wenn eine Predigt zu einem alttestamentlichen Text so auch in einer jüdischen Synagoge gepredigt werden könnte, ohne Widerspruch hervorzurufen, dann sollte uns das zu denken geben. Dann war diese Predigt letztendlich keine christliche Predigt und der Text ist nicht getreu seinem gesamtbiblischen Kontext ausgelegt worden.
Natürlich ist es auch möglich, einen Text aus dem Neuen Testament „Evangeliums-los“ zu predigen. Dies geschieht dann, wenn man vergisst, dass alle biblischen Imperative in den Indikativen des Heilshandeln Gottes durch Jesus Christus verwurzelt sind, und indem wir vergessen, dass alle Dinge, die wir tun sollen, in dem verwurzelt sind, was Christus für uns schon getan hat.
Deshalb möchte dieser Artikel biblische Prinzipien erläutern und Hilfestellung geben, damit dies vermieden werden kann und jeder Text ungezwungen und ganz natürlich in seinem Bezug zum Evangelium verkündet werden kann. In diesem Artikel soll der Fokus jedoch auf das Alte Testament gelegt werden, denn das Problem von Evangeliums-losen Predigten ist sicherlich sehr viel häufiger bei Textauslegungen zu AT-Texten vorzufinden.
Dabei soll zuerst erklärt werden, warum es tatsächlich gerechtfertigt und sogar notwendig ist, jeden Text in Bezug auf das Evangelium zu predigen. Im Anschluss sollen dann Wege aufgezeigt werden, wie das getan werden kann. Dabei steht das Wort „predigen“ hier synonym auch für sonstige Bibelarbeiten, ja selbst für das persönliche Bibelstudium.
Die These dieses Artikels ist also, dass das Evangelium ganz natürlich und textbezogen in jeder Auslegungspredigt vorkommen sollte. Denn jeder Bibeltext hat einen ganz natürlichen Bezug zum Evangelium und wird nur dann treu ausgelegt und gepredigt, wenn dieser Bezug hergestellt wird.
Jeder Bibeltext hat einen Evangeliumsbezug
Jeder Bibeltext hat einen Bezug zum Evangelium. Dies schon allein deshalb, weil die Bibel ein Buch ist, das von einem Autor stammt und eine Kernbotschaft hat! Und diese Kernbotschaft ist das Evangelium von Jesus Christus.
Bevor anhand einiger Bibeltexte aufgezeigt werden soll, dass das Evangelium von Jesus Christus die Kernbotschaft der ganzen Bibel ist, soll kurz diese grundlegende These, „die Bibel ist ein Buch von einem Autor mit einer Kernbotschaft“,[3] begründet werden.
Die Bibel ist ein Buch von einem Autor mit einer Kernbotschaft
Die Bibel ist ein Buch
Das Neue Testament offenbart, dass die Schriften des Alten Testaments als ein Buch anerkannt wurden. So schreibt Paulus im 2Tim 3,15 von der Heiligen Schrift (Singular) und vom Wort Gottes (Eph 6,17). In ähnlicher Weise legt das Neue Testament an vielen Stellen Zeugnis davon ab, dass die 39 Bücher des Alten Testaments zusammen eine Einheit bilden. Zur Zeit der Apostel war der alttestamentliche Kanon klar definiert. Der sogenannte Tanach bestand aus den drei Teilen Tora („Weisung“), Nevi‘im („Propheten“) und Ketuvim („Schriften“). Petrus macht dann später deutlich, dass auch neutestamentliche Bücher zu diesen Schriften hinzugefügt wurden (2Petr 3,15f).
Die Bibel ist also zweifelsohne viel mehr als nur eine Sammlung von einzelnen Büchern. Diese Bücher nehmen Bezug aufeinander und bestätigen und erklären einander. So finden sich im Neuen Testament an manchen Stellen Zitate aus dem Alten Testament, die sich aus verschiedenen Zitaten aus verschiedenen Büchern des AT zusammensetzen (z. B. Röm 3,10–18 zitiert verschiedene Psalmen und den Propheten Jesaja; Röm 10,11–13 zitiert Jes 28,16 und Joel 3,5) und sogar eine Stelle, an der ein Zitat aus dem AT und ein Zitat aus dem NT zusammen genannt werden (1Tim 5,18 zitiert aus 5Mose 25,4 und Lk 10,7).
Die Bibel ist ein Buch von einem Autor
Zweifelsfrei wurden die Bücher der Bibel durch eine Vielzahl menschlicher Autoren niedergeschrieben. Doch Petrus erklärt, dass diese Menschen die Schriften nicht aus menschlichem Willen hervorgebracht haben, „sondern getrieben von dem Heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet“ (2Petr 1,21). Paulus bestätigt dies in seinem zweiten Brief an Timotheus in Kapitel 3, Vers 16: „Denn alle Schrift [ist] von Gott eingegeben“.[4]
Wenngleich diese Aussagen im Bezug auf die alttestamentlichen Schriften gemacht wurden, so wird im Neuen Testament deutlich, dass die Schreiber des Neuen Testaments für ihre eigenen Schriften einen ähnlichen Anspruch geltend machten. Sie waren davon überzeugt, dass ihre Lehre ebenfalls das Wort Gottes selbst war (z.B. 1Kor 14,37; 1Thess 2,13; 2Petr 3,16).
Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Bibel von Menschen geschrieben wurde. Ihre Bücher wurden zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Autoren verfasst und spiegeln die unterschiedlichen Persönlichkeiten ihrer Autoren und die unterschiedlichen historischen Situationen ihrer Zeit wider. Trotzdem hat Gott durch seinen Geist sichergestellt, dass alles, was die menschlichen Verfasser niedergeschrieben haben, exakt das war, was er wollte, dass sie schreiben sollten. Deshalb ist Gott der letztendliche Autor der Bibel. Die Bibel ist Gottes Wort.
Die Bibel ist ein Buch von einem Autor mit einer Kernbotschaft
Die Bibel deckt einen großen Bereich ab. Und doch hat die Bibel eine zentrale Botschaft, die „Gute Nachricht“ von dem Retter und Herrn Jesus Christus, durch den allein Menschen zum ewigen Leben in der herrlichen Gegenwart Gottes gerettet werden können.
Weitestgehend unbestritten ist, dass sich diese Botschaft durch die ganze Bibel hindurch zieht. Kaum jemand wird bestreiten, dass 1Mose 3,15 ein erster Hinweis auf das Evangelium von Jesus Christus ist. Bestimmte Prophetien im Alten Testament werden ebenfalls weitestgehend unstrittig als auf das Evangelium von Jesus Christus hinweisend anerkannt.
Strittig ist, inwieweit es gerechtfertigt ist zu behaupten, dass das gesamte Alte Testament oder eben auch die gesamte Bibel auf das Evangelium von Jesus Christus hinweist.
„Die Bibel ist in gewisser Weise wie ein großes Puzzle. Alle Teile zusammen ergeben ein komplettes Bild.“
Im Folgenden soll diese These sowohl exegetisch, wie auch systematisch-theologisch bestätigt werden. Dabei wird deutlich werden, dass die Bibel in gewisser Weise wie ein großes Puzzle ist. Alle Teile zusammen ergeben ein komplettes Bild. Das Bild ist dabei weitestgehend auch dann erkennbar, wenn einige Puzzlestücke nicht richtig zugeordnet werden können. Aber jedes Puzzlestück hat seinen Platz und trägt etwas zum Gesamtbild bei. Und ein Puzzlestück, das losgelöst vom Gesamtbild betrachtet wird, wird kaum vollständig verstanden werden.
Man könnte das auch mit den vielen verschiedenen Sequenzen eines Films illustrieren. Jede Sequenz hat etwas mit der Botschaft des Films zu tun, doch der Film ist auch dann noch verständlich, wenn man einzelne Sequenzen verpasst hat. Eine einzelne Sequenz aber, so spannend oder lehrreich sie auch sein mag, ist ohne Bezug zum Rest des Films bestenfalls nur teilweise verständlich.
Und so wie jedes Puzzlestück etwas zum Gesamtbild beizutragen hat und jede Sequenz eines Films nur im Kontext des Films verständlich ist, so hat auch jede Bibelstelle einen Bezug zur Kernbotschaft der Bibel und kann nur im Gesamtkontext der Bibel komplett verstanden werden.
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Der gesamte Artikel findet sich in dem Buch Schätze der Gnade. Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert. Das Buch wurde von Ron Kubsch und Matthias Lohmann herausgegeben.
Weitere Infos, eine PDF und die Bestellmöglichkeit gibt es hier.
[1] Alle Bibelzitate aus: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Revidierte Fassung von 1984. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2006.
[2] In diesem Artikel wird bewusst regelmäßig die Formulierung „das Evangelium von Jesus Christus“ (Apg 5,42) gewählt, um deutlich zu machen, dass selbst wenn in Textabschnitten im Alten Testament kein unmittelbarer Bezug zur Person Jesu Christi erkennbar sein mag, doch immer zumindest ein Bezug zum Evangelium erkennbar sein sollte, das wiederum untrennbar von der Person und dem Werk Jesu Christi ist.
[3] Vaughan Roberts erklärt diese Basisthese sehr anschaulich in: Vaughan Roberts. Gottes Plan – kein Zufall. Waldems: 3L, 2011.
[4] Ein weiteres selten beachtetes Beispiel wäre die Aussage aus Apg 1,16–17: „... das der Heilige Geist durch den Mund Davids vorausgesagt hat ...“.