Ist Glaube eine Gabe Gottes?

Artikel von Jonathan de Oliveira
14. Mai 2021 — 6 Min Lesedauer

„Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es […].“ (Eph 2,8)

Es gibt eine bekannte Illustration: Jemand, der vor dem Himmelstor steht, kann dort auf einem Schild die Worte lesen: „Jeder, der kommen will, trete ein.“ Wenn man aber durch das Tor geht und zurückschaut, sieht man ein anderes Schild mit den Worten: „Erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt“. Dieses Bild veranschaulicht eine alte Diskussion: Wo genau liegt der entscheidende Faktor für meine Errettung? Bei mir oder bei Gott? Anders formuliert: Woher kommt der Glaube, durch den man errettet wird?

Dementsprechend ist Epheser 2,8 eines der Schlachtfelder, auf denen Diskussionen über den Ursprung des Glaubens am häufigsten stattfinden. Dass der Glaube eine wichtige Rolle bei der Errettung spielt, ist nicht wirklich umstritten. Der Glaube ist das Mittel bzw. die instrumentale Ursache der Errettung. Aber woher kommt er? An dieser Stelle gehen die Meinungen auseinander, weil die grammatikalische Konstruktion von Epheser 2,8 unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Es geht dabei um die Frage, worauf Paulus sich im zweiten Satzglied bezieht, wenn er auf „die Gabe Gottes“ hinweist. Mit anderen Worten: Was genau im ersten Satzglied kommt nicht aus dem Menschen? Was genau im ersten Satzglied ist die Gabe Gottes?

Eine mögliche Interpretation ist, dass Paulus den gesamten Rettungsakt meint. Die Gabe Gottes ist dann: die Errettung aus Gnade mittels des Glaubens. Die Begründung für diese Sichtweise liegt in dem Demonstrativpronomen am Anfang des zweiten Satzglieds: τοῦτο, hier übersetzt mit ‚das‘. In der griechischen Sprache ist τοῦτο ein Pronomen im Neutrum. Somit kann weder χάρις (‚Gnade‘) noch πίστις (‚Glaube‘) das Bezugswort sein, denn beide Worte sind im Griechischen Feminina. Daher muss Paulus die ganze Klausel gemeint haben. Er wollte, so diese Position, mit „und das nicht aus euch“ dem soeben Gesagten Nachdruck verleihen, nämlich dass die Errettung ein Geschenk Gottes ist. Ein weiteres Argument für diese Interpretation bietet der nächste Vers: Vers 9 wird dann als Parallelismus zum zweiten Satzglied von Vers 8 gesehen. Folglich will Paulus seinen Lesern einfach einschärfen, dass der ganze Akt der Errettung ein Geschenk Gottes ist. Diese Interpretation genießt breiten Zuspruch, nicht zuletzt von Theologen wie Chrysostomus und Johannes Calvin.

Gibt es aber legitime Gründe, die Gabe enger zu definieren? Ja, und sogar sehr überzeugende, wenn man alle Argumente zusammen betrachtet. Zunächst muss der Gebrauch eines Demonstrativpronomens im Neutrum (τοῦτο) nicht ausschließen, dass Paulus sich auf den Glauben bezieht. Das ist grammatikalisch möglich, wenn Paulus nicht direkt das Nomen „Glauben“ als Bezugswort betrachtet, sondern den „Akt des Glaubens“. Anders gesagt: Es ist ein legitimer Gebrauch des Neutrums, wenn der Referent von τοῦτο nicht der „Glaube“ ist, sondern das Ereignis, „dass ein Mensch glaubt“. Dieser Gebrauch ist im Übrigen für Paulus nicht ungewöhnlich. Wenn Paulus an anderen Stellen auf eine Aktivität oder ein Ereignis als Ganzes hinweist, benutzt er oft das Demonstrativpronomen im Neutrum Singular (siehe z.B. 1Kor 6,6.8; Phil 1,22.28; Kol 3,20; 1Thess 5,18; 1Tim 2,1–3). An einer Stelle verwendet Paulus sogar ein Relativpronomen im Neutrum, um ein maskulines Nomen näher zu definieren (Eph 5,5). Es ist also durchaus sowohl grammatikalisch möglich als auch für Paulus konsistent, diese grammatikalische Konstruktion zu verwenden. Von der Grammatik her kann also „der Glaube“ oder „der Akt des Glaubens“ als die Gabe gelten.

„Selbst wenn Paulus den ganzen ersten Satzteil als Geschenk Gottes bezeichnet, schließt das den Glauben automatisch mit ein.“
 

Tatsächlich kann man sogar noch weiter gehen. Diese Interpretation ist nicht nur erlaubt, sondern zwingend, wenn man den unmittelbaren und den neutestamentlichen Kontext mit heranzieht. Erstens ist zu bedenken: Selbst wenn Paulus den ganzen ersten Satzteil als Geschenk Gottes bezeichnet, schließt das den Glauben automatisch mit ein. Wenn die ganze Klausel die Gabe Gottes ist, gibt es im Text keinen Anhaltspunkt, den Glauben hiervon auszuschließen.

Zweitens gibt es Schwierigkeiten mit der zuerst beschriebenen Position – dass nicht der Glaube, sondern der ganze Rettungsakt mit der „Gabe“ Gottes gemeint ist –, und zwar wegen des Problems der Tautologie. Eine Tautologie liegt vor, wenn ein Sachverhalt doppelt wiedergegeben wird. Paulus leitet den zweiten Teil des Satzes mit dem Wort καὶ (‚und‘) ein, um zu signalisieren, dass neue, zusätzliche Informationen kommten. Wenn er sich aber nur auf dem Rettungsakt beziehen würde, würde er nichts Neues aussagen. Paulus böte hier keine neue Information, denn im ersten Satzteil hat er schon deutlich gemacht, dass die Rettung aus Gnade geschieht – und Gnade ist per se ein Geschenk. Stattdessen hat Charles Hodge vorgeschlagen, dass der zweite Satzteil eher als Einschub gelesen werden sollte.[1] Das bedeutet: Paulus unterbricht seinen Satz, um dem Leser klar zu machen, dass auch der Glaube – der Teil, bei dem der Mensch scheinbar „aktiv“ wird – von Gott kommt. Die Notwendigkeit für einen solchen Einschub ist vorhanden, um dem Missverständnis vorzubeugen, dass der Mensch von sich aus irgendetwas zu seiner Errettung beitragen kann. Diese Interpretation passt zudem sehr gut in den Kontext, denn Epheser 2,1–10 will sowohl die absolute Hilflosigkeit der Menschheit als auch die aktive Barmherzigkeit Gottes skizzieren. Tatsächlich ist Gott ab Vers 4 immer der Aktive. Der Glaube ist der einzige Grund, weshalb jemand seine Errettung doch noch teilweise auf sein eigenes Werk zurückführen könnte. Doch genau darauf zielt diese Passage ab: nämlich zu zeigen, dass sich der Mensch in keinerlei Hinsicht rühmen kann (s. V. 9). Wenn jedoch der Mensch seinen Glauben unabhängig von Gott produzieren könnte, hätte der Mensch einen Grund, sich zu rühmen.

„Wenn der Mensch seinen Glauben unabhängig von Gott produzieren könnte, hätte der Mensch einen Grund, sich zu rühmen.“
 

Letztens ist anzumerken, dass diese Interpretation mit weiteren Aussagen von Paulus übereinstimmt. Wäre diese Stelle die einzige, anhand derer zu klären ist, ob der Glaube eine Gabe ist oder nicht, dann wäre der Einwand berechtigt, dass Paulus und das restliche Neue Testament nirgendwo sonst etwas derartiges lehren. Aber das ist nicht der Fall. Tatsächlich macht Paulus auch an anderen Stellen klar, dass der Glaube der Gläubigen von Gott geschenkt wurde (Phil 1,29); dass der Status der Christen als „Glaubende“ ein Resultat von Gottes mächtigem Wirken ist (Eph 1,19); dass der Glaube im Gegensatz zum eigenen Mitwirken steht (Gal 2,16; 3,2); und dass die Fähigkeit, Buße zu tun, letztlich von Gott geschenkt werden muss (2Tim 2,25). Diese Sicht vom Glauben als Gnade und Geschenk Gottes wird darüber hinaus auch von anderen neutestamentlichen Persönlichkeiten vertreten (so Petrus in Apg 5,31; Christen aus der Jerusalemer Gemeinde in Apg 11,18; Lukas in Apg 18,27), sodass man nicht behaupten kann, dies sei ein rein paulinischer Gedanke. Diese Stellen unterstreichen deutlich: Die Interpretation, dass in Epheser 2,8 der Glaube als Gabe Gottes bezeichnet wird, ist den übrigen Schriften nicht fremd – sondern diese Sicht war die grundsätzliche Annahme der Apostel und der frühen Christen.

So neigt sich nach all diesen Argumenten die Waage deutlich einer Seite zu: Epheser 2,8 lehrt, dass der Glaube eine Gabe Gottes ist. Alles Lob sei Gott für seine vollkommene Errettung!


1  Charles Hodge, A Commentary on the Epistle to the Ephesians, New York: Robert Carter and Brothers, 1858, S. 119–120.