Warum das Sündenbekenntnis in den Gottesdienst gehört

Artikel von Jonathan Landry Cruse
12. Juni 2021 — 6 Min Lesedauer

Kein aufrichtiger Christ würde jemals die Notwendigkeit des Sündenbekennens in Frage stellen. Doch manch einer würde durchaus bestreiten, dass dies in die gemeinsame Anbetung gehört.

Die meisten Gottesdienste sind heutzutage so strukturiert, dass sie einladend sind; Ziel ist es, möglichst viele, glückliche Menschen im Gottesdienst zu sehen. Und ganz ehrlich – Sünden öffentlich auszusprechen kann unangenehm sein. Lobpreisgebete heben die Stimmung in der gemeindlichen Versammlung, während Sündenbekenntnisse und Klagegebete eher deprimieren. Warum sollten wir allwöchentlich solche schmerzhaften Erinnerungen an vergangene Tage oder an unbequeme Wahrheiten über uns hervorrufen?

Wenn wir unseren Gottesdienst für Konsumenten und nicht für Christen gestalten, wird unsere menschliche Weisheit vor dem Gedanken zurückschrecken, solch ungeschönte und sensible Themen in der Gemeinde anzusprechen. Betrachten wir dieses Thema jedoch aus biblischer Sicht, dann stellt sich heraus, dass das gemeinsame Sündenbekennen etwas viel Schöneres ist. Es stellt sich sogar heraus, dass es eine Notwendigkeit für Gottes versammeltes Volk ist.

1. Göttliche Heiligkeit

In der gemeinsamen Anbetung begegnen wir Gott in all seiner majestätischen Herrlichkeit und Heiligkeit. Dies offenbart zwangsläufig unsere Unwürdigkeit und Sünde. Wenn wir also in die Anbetung eintreten, sollten wir Abrahams Worte auf den Lippen haben: „Ach siehe, ich habe es gewagt, mit dem Herrn zu reden, obwohl ich nur Staub und Asche bin!“ (1Mose 18,27). Beim Anblick des dreifach heiligen Gottes klagt Jesaja ebenfalls: „Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk, das unreine Lippen hat; denn meine Augen haben den König, den HERRN der Heerscharen, gesehen!“ (Jes 6,5). Und dies sind nicht nur Erfahrungen Einzelner. Als den Israeliten durch den Propheten Esra die Heiligkeit Gottes vor Augen geführt wurde, „verneigten sie sich und beteten den HERRN an, das Angesicht zur Erde gewandt. […] Denn das ganze Volk weinte, als es die Worte des Gesetzes hörte.“ (Neh 8,6.9).

„Die Tatsache, dass Gott heilig ist und wir es nicht sind, macht das Bekennen unserer Sünden zu einer absoluten Notwendigkeit.“
 

Die Tatsache, dass Gott heilig ist und wir es nicht sind, macht das Bekennen unserer Sünden zu einer absoluten Notwendigkeit. Wenn wir während des Gottesdienstes kein Bedürfnis verspüren, Gott als heilig zu loben und unser rebellisches Herz schmerzlich zu bedauern, sollten wir uns fragen, ob wir Gott überhaupt wirklich begegnet sind.

2. Geschichtliche Grundlage

Zusätzlich zu diesen biblischen Vorbildern empfiehlt die reichhaltige Weisheit unseres kirchlichen Erbes ebenfalls die Praxis des gemeinsamen Sündenbekenntnisses. Dies hat sich im Laufe der Kirchengeschichte in einer Vielzahl von liturgischen Abläufen manifestiert. In Straßburg strukturierte Johannes Calvin seine Liturgie so, dass ein Sündenbekenntnis unmittelbar nach dem Aufruf zur Anbetung stattfand. Thomas Cranmer und seine Gemeinde bekannten ihre Sünden vor der Austeilung des Abendmahls. Die Geistlichen von Westminster schlugen in ihrem „Directory for the Public Worship of God“ (Handbuch für den öffentlichen Gottesdienst) vor, das Bekenntnisgebet nicht von anderen Gebeten zu trennen, sondern vor der Predigt mit in das „große Gebet“ (was wir heute als Gemeinde- oder Pastoralgebet bezeichnen würden) aufzunehmen.

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, diesen wichtigen Bestandteil in den Gottesdienst einzubauen. Entscheidend ist, dass er im Gottesdienst präsent ist.

Unser frühester Einblick in die Liturgie der nachapostolischen Kirche lässt sich in einem Dokument aus dem ersten Jahrhundert finden, das als Didache (griechisch für „Lehre“) bekannt ist. Dessen Erläuterung zum Sündenbekenntis ist zwar kurz, aber dennoch tiefgründig, und fasst die Bedeutung dieser Disziplin gut zusammen: „Bekenne deine Sünden in der Kirche, und gehe nicht mit einem schlechten Gewissen zum Gebet. Das ist der Weg des Lebens.“

3. Geistliche Heilung, Reinigung & Befreiung (Katharsis)

Diese Erkenntnis hatte auch David in Psalm 32. Er sah, dass die Beichte der Weg des Lebens war – und sie zu unterlassen war gleichbedeutend mit einem langsamen, qualvollen Tod: „Als ich es verschwieg, da verfielen meine Gebeine durch mein Gestöhn den ganzen Tag. Denn deine Hand lag schwer auf mir Tag und Nacht, sodass mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürr wird“ (Ps 32,3–4). Das Verschweigen der Sünde verursacht Leiden. Aber in dem Moment, in dem wir unser Herz und unseren Mund öffnen und unsere Schuld bekennen, empfangen wir Heilung, wie David es erlebte: „Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg meine Schuld nicht […] Da vergabst du mir meine Sündenschuld“ (Ps 32,5).

„Wenn wir im Gottesdienstablauf Raum für das Bekennen unserer Sünden schaffen, geben wir hilflosen, gefangenen Sündern die so dringend benötigte Freiheit.“
 

Wir könnten leichtfertig annehmen, dass wir den Gottesdienstbesuchern einen Dienst erweisen, wenn wir alle eventuell unangenehmen Elemente aus dem Gottesdienst entfernen. Aber die Wahrheit ist, dass jeder seine Sünden bekennen muss – und tief im Inneren weiß auch jeder, dass er seine Sünden bekennen muss (Röm 2,15). Viele wissen nur nicht, wie. Wenn wir im Gottesdienstablauf Raum für das Bekennen unserer Sünden schaffen, geben wir hilflosen, gefangenen Sündern die so dringend benötigte Freiheit. Dieser Gottesdienstbestandteil ist alles andere als „unangenehm“ für die Gemeinde.

4. Gegenseitige Unterstützung

Das gemeinsame Sündenbekenntnis dringt auch tief in unsere düstere, egozentrische geistliche Selbstprüfung ein und erinnert uns daran, dass wir nicht allein sind: Die gesamte Gemeinde Christi kämpft damit, „der Sünde zu sterben“. Unseren gefallenen Zustand als Gemeinschaft zu erkennen, ist ein unglaublicher Trost.

In seinem Klassiker Gemeinsames Leben schreibt Dietrich Bonhoeffer: „Wer mit seinem Bösen allein bleibt, der bleibt ganz allein.“[1] Selbst in einer rappelvollen Gemeinde bedeutet ein Mangel an Bekenntnis auch einen Mangel an Gemeinschaft. Wenn wir uns fürchten, preiszugeben, welche Sünden uns bedrängen, „bleiben wir mit unserer Sünde allein, in der Lüge und der Heuchelei;  denn wir sind nun einmal Sünder“ (Bonhoeffer).[2] Ohne diese Erkenntnis werden Menschen entweder nicht willens oder nicht fähig sein, andere wirklich zu erreichen. Und dadurch verpassen sie einen entscheidenden Segen der Gemeinde – „des anderen Lasten“ zu tragen (Gal 6,2).

5. Eine vom Evangelium geprägte Identität

Bonhoeffer beklagt, dass Anbeter manchmal unwillig sind, sich mit ihrer wahren Identität abzufinden. Wir sind Sünder, aber in Christus sind wir viel mehr: Sünder, die aus Gnade gerettet sind. Der wöchentliche Rhythmus des Gottesdienstes, einschließlich dieser Elemente der Umkehr und Wiederherstellung, ist entscheidend, um diese Identität des Evangeliums in unsere Herzen einzuprägen.

Und diese Identität gehört zur Gemeinde als Leib. Öffentliche Anbetung veranlasst uns, über uns selbst hinauszuschauen und uns daran zu erinnern, dass Jesus gekommen ist, um „sein Volk [zu] erretten von ihren Sünden“ (Mt 1,21). Während wir hier auf Erden sind, ist diese Errettung noch nicht abgeschlossen. Die Gemeinde ist immer noch ein Werk im Werden, also muss sie beten. Für die Zwischenzeit gilt: Wenn wir uns als Christen versammeln, müssen wir uns auch als Sündenbekenner versammeln.

„Vergib uns unsere Schuld“ ist der Ruf der gläubigen Gemeinde. Und welch eine wunderbare Verheißung gibt uns Christus als Antwort: „Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1Joh 1,9).


[1] Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, München: Chr. Kaiser Verlag, 1980, S. 95.

[2] Ebd.