Kurze Briefe, große Botschaft

Die Johannesbriefe

Artikel von Michael LeFebvre
21. Juni 2021 — 5 Min Lesedauer

Der greise Johannes – Apostel der Liebe

Man vermutet, dass sich der Apostel Johannes am Ende seines Lebens in Ephesus niederließ. Wahrscheinlich verbrachte er seinen Lebensabend bei den dortigen Christen und diente einer neuen Generation von Nachfolgern Jesu. Da er der letzte noch lebende Jünger aus dem Zwölferkreis um Jesus war, wurden Johannes’ Lehreinheiten von den Gläubigen in Ephesus rege besucht.

Hieronymus überliefert uns etwas von den frühen Erinnerungen der Kirche: Demnach wurde Johannes von seinen Begleitern in die Gemeinde getragen, als er zu gebrechlich geworden war, um selbst zu gehen. Die Menschen versammelten sich dort, um mit großer Ernsthaftigkeit auf das zu hören, was der betagte Apostel über seine Erlebnisse mit Jesus erzählte. Als Johannes’ Kraft weiter nachließ und selbst die Fähigkeit, zu sprechen, schwand, berichtet uns Hieronymus: „Er sagte gewöhnlich nichts mehr anderes als ‚Kindlein, liebt einander!‘“ Wie berichtet wird, wurden es die Zuhörer mit der Zeit müde, den alten Mann ständig das Gleiche sagen zu hören. Sie fragten ihn: „Lehrer, warum sagst du das andauernd?“ Laut Hieronymus antwortete der greise Apostel: „Weil es das Gebot des Herrn ist, und wenn einzig und allein dies gehalten wird, dann genügt es.“

Wir können nicht überprüfen, ob Hieronymus’ Geschichte über Johannes wahr ist. Aber diese alte Legende trifft sicherlich den Kern jener kurzen neutestamentlichen Briefe, die man seiner Feder zuschreibt: der drei Johannesbriefe. Auch wenn der erste Johannesbrief eines der kürzesten Bücher der Bibel ist, verwendet er das Wort „Liebe“ häufiger als jedes andere Buch im biblischen Kanon, ausgenommen die Psalmen. In diesen kurzen Briefen fordert uns der Apostel dazu auf, die Botschaft der Liebe, die wir von Jesus gelernt haben, zu bewahren und zu kultivieren.

Echte Liebe im Sinne Jesu

Der Aufruf, sich gegenseitig zu lieben, verliert nicht seine Gültigkeit. Im Gegenteil, je gespaltener und aufreibender, besorgter und einsamer unsere Gesellschaft wird, desto dringender ist der klare Aufruf zur Liebe. Was ist echte Liebe? Was ist die Botschaft der Liebe, die wir von Jesus gelernt haben?

„Je gespaltener und aufreibender, besorgter und einsamer unsere Gesellschaft wird, desto dringender ist der klare Aufruf zur Liebe.“
 

Die Ermutigung zur Liebe hört man nicht nur von Christen, sondern von praktisch jeder Religion, Philosophie und sozialen Bewegung. Die Verpflichtung zu lieben ist deshalb so allgemein anerkannt, weil sie so tief in die Struktur unseres Menschseins eingebettet ist – wir sind im Bild eines Gottes erschaffen, der Liebe ist (1Joh 4,8). Trotzdem sind nicht alle Versionen dieser Botschaft gleich. Kein anderer Lehrer kennt den Gott der Liebe so persönlich wie Jesus, der ihn uns auf einzigartige Weise offenbart (1Joh 1,3). Entsprechend steht nicht alles, was unter dem Etikett „Liebe“ verhandelt wird, im Einklang mit der Nächstenliebe, wie wir sie bei Jesus lernen. Johannes schrieb diese Briefe, um uns „die Botschaft, die wir von ihm gehört haben“ (1Joh 1,5), weiterzugeben, damit wir den Weg der Liebe gehen können, wie ihn Jesus lehrt.

Ein Jünger Jesu ist jemand, der „seinen Bruder liebt“ (1Joh 2,10), aber nicht „die Welt, noch was in der Welt ist“ (1Joh 2,15). Christusähnliche Liebe legt die Sünde ab und ergreift die Vergebung, die wir durch Christus empfangen, damit wir „im Licht wandeln, wie er im Licht ist“ und so „Gemeinschaft miteinander“ haben (1Joh 1,5–9). Sie ist eine Liebe zu Gott, der uns zuerst geliebt hat (1Joh 4,19). Wir zeigen unsere Liebe zu Gott – den wir nicht sehen können –, indem wir sie unseren Brüdern und Schwestern schenken, die wir sehen können (1Joh 4,20). Mit seinen Ermahnungen hilft uns der Apostel in diesen Briefen, die Lektionen zu verstehen, die er von Jesus gehört und mit Jesus erlebt hat, „damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt […] [und] mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“ (1Joh 1,3). Wenn wir diese Briefe sorgfältig studieren, werden wir in diese Gemeinschaft hineingezogen, um von ihr verändert zu werden.

Die drei Johannesbriefe sind ein häufig übersehener Schatz, der am Ende des Neuen Testaments verborgen liegt. Üblicherweise werden die drei Briefe als voneinander unabhängige Schreiben gelesen, die aufgrund eines je eigenen Anlasses geschrieben wurden. Es könnte aber auch sein, dass diese drei als ein „Bündel“ von Briefen zusammengehören, das im Ganzen verschickt wurde. Der Hauptbrief, den wir als Ersten Johannesbrief kennen, ist eine Predigt des Apostels über Jesu Botschaft, einander zu lieben. Er enthält keine für Briefe typischen Grüße oder Abschiedsworte, nur eine schriftliche Predigt des Johannes. Der Zweite Johannesbrief beinhaltet persönliche Grüße des Apostels an die Versammlung, die den Grüßen ähneln, die Paulus normalerweise in der Anrede seiner Briefe formuliert. Und der Dritte Johannesbrief enthält spezifische Anweisungen für den Pastor der dortigen Gemeinde (einen Mann namens Gajus; 3Joh), ähnlich denen, die Paulus in der Regel an das Ende seiner Briefe stellte. So sind diese drei Schriftstücke vermutlich alle auf einmal zugestellt worden.

Wenn diese Sicht zutrifft, dass ein Zusammenhang zwischen den drei Briefen besteht, dann bieten sie uns sowohl allgemeine Lektionen über die christliche Liebe (in 1. Johannes), als auch konkrete Beispiele, wie diese anzuwenden ist (in den persönlichen Anweisungen für die Versammlung und für den Pastor in 2. und 3. Johannes). Liest man die Briefe auf diese Weise, dann findet man in ihnen umfassende Einsichten in die christliche Liebe, theoretisch und praktisch – und zwar weitaus mehr, als man angesichts ihrer Kürze erwarten würde.

Die Welt benötigt heute – wie zu jeder Zeit – eine klare Vision von Gottes Liebe. Ebenso muss sich die Gemeinde heute (wie zu jeder Zeit) – in ihren Spaltungen und Streitereien und ihrem Versagen – von neuem der reinen und selbstlosen Liebe verschreiben, die wir von Jesus lernen. Auch wenn sie kurz sind, enthalten die Johannesbriefe eine große Botschaft. Sie ist es wert, dass wir ihr als heutige Nachfolger Jesu unsere Aufmerksamkeit schenken.