Die Gender-Verwirrung

Wie Christen in den kommenden Jahren damit umgehen können

Artikel von Carl R. Trueman
5. Juli 2021 — 7 Min Lesedauer

Das Thema „Transgender-Identität“ wird für Christen auf absehbare Zeit von Bedeutung sein, sowohl in Fragen des öffentlichen Lebens als auch in der Seelsorge. Die aufgeregte Debatte um alles, was damit zu tun hat – von Unisex-Schultoiletten über Trans-Frauen im Sport bis hin zu Eltern- und Kinderrechten – wird dafür sorgen, dass die Thematik in der Politik präsent bleibt. Und die Tatsache, dass immer mehr Teenager angeben, von einer Geschlechtsidentitätsstörung betroffen zu sein, bedeutet, dass Gemeinden und Pastoren gut daran tun, sich damit zu befassen.

Drei Grundpfeiler der Transgender-Ideologie

Die Transgender-Ideologie stützt sich für ihre Plausibilität auf drei Grundpfeiler. Erstens knüpft sie an die Gender-Theorie an, wie sie von Judith Butler entwickelt wurde, die das Geschlecht als performativ betrachtet. Einfach gesagt: Ein Mann oder eine Frau zu sein bedeutet lediglich, eine Rolle zu spielen bzw. sich auf solche Weise zu verhalten, wie es die Gesellschaft von denen erwartet, die sie als Mann oder Frau bezeichnet. Tatsächlich ist die Biologie dabei kein bedeutender Faktor: Der Umstand, dass bestimmte Verhaltensweisen von jemandem mit männlichen Geschlechtsmerkmalen und wiederum anderes Verhalten von jemandem mit weiblichen Merkmalen erwartet werden, ist eine von der Gesellschaft konstruierte Haltung. Effektiv wird auf diese Weise Gender (die Rolle) vom biologischen Geschlecht entkoppelt.

Zweitens hat diese Entwicklung etwas mit der Technologie zu tun. In früheren Gesellschaften wurde zwischen Männern und Frauen ein Unterschied gemacht, weil es schon allein die physische Kraft von Männern mit sich brachte, dass sie für manche Arbeiten (für die mehr Kraft erforderlich war), besser geeignet waren. Durch die Erfindung von industriellen Maschinen und inzwischen der Computertechnologie wurde die Bedeutung dieses körperlichen Unterschieds weitgehend aufgehoben. Zudem wurden operative und hormonelle medizinische Behandlungsmethoden entwickelt. Durch sie wurde der Gedanke plausibel, dass man den Körper dazu bringen kann, sich in der Geschlechterfrage unserem Willen zu beugen.

Und drittens beruht die Transgender-Ideologie auf der verbreiteten modernen Überzeugung, dass unser Selbst – wer wir wirklich sind – im Wesentlichen eine psychologische Frage ist. Unser wahres Ich ist das, was uns unser Fühlen und Denken als unser Ich beschreibt. Es ist natürlich noch ein wenig komplizierter, wir erfinden uns nicht einfach durch einen inneren Monolog selbst. Die Gesellschaft, in der wir leben, prägt das, was wir im Hinblick auf unsere Identität für erstrebenswert und einleuchtend halten. Aber grundsätzlich gilt: Du bist die Person, die du gemäß deinem Empfinden bist. Du hast einen Männerkörper, fühlst dich aber als Frau? Dann bist du eine Frau.

Wenn das nun also die Situation ist – wie kann ein Christ damit umgehen? Einige Überlegungen dazu:

1. Politische Anliegen und Seelsorge trennen

Zunächst muss man hier (wie in allen Fragen, die mit LGBTQ+ zu tun haben) grundsätzlich unterscheiden zwischen dem Widerstand gegen die politischen Ambitionen der Bewegung im Allgemeinen und der Seelsorge an Einzelnen.

Das ist wichtig, denn falls wir das nicht tun, wird dies eine von zwei problematischen Folgen nach sich ziehen: Entweder wird man es dann versäumen, Personen, die mit Gender-Verwirrung kämpfen, mit Mitgefühl zu begegnen. Oder aber man wird einer Bewegung zu viel Verständnis entgegenbringen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, jegliche Unterscheidung zwischen männlich und weiblich im öffentlichen Raum abzuschaffen.

2. Das Wahrheitsmoment anerkennen

Es ist zudem wichtig, der Gender-Theorie zuzugestehen, dass sie – wie viele andere im Kern falsche Philosophien – ein wahres Element enthält: Die Art und Weise, wie die Rollen von Männern und Frauen verstanden werden, variiert von Zeitalter zu Zeitalter und von Region zu Region.

Angesichts dessen ist es wichtig, zwar den Unterschied zwischen Mann und Frau und die Wichtigkeit der Biologie in dieser Frage zu verteidigen. Aber wir sollten nicht in das Fahrwasser geraten, unsere kulturellen Erwartungen zu verteidigen, wie sich Männer und Frauen zu verhalten haben – wie sie ihre Rollen ausfüllen sollen –, als wären diese identisch mit der biblischen Lehre. In dem Fall würden wir ein gottgefälliges Leben mit unserer Art, Dinge zu tun, in eins setzen (womit wir andere Kulturen als grundsätzlich mangelhaft oder sündig deklarieren) und uns damit der Kritik der Transgender-Lobby aussetzen: Sie könnte uns dann mühelos vorwerfen, dass wir einfach nur einen kulturellen Chauvinismus ausleben.

3. Den Gemeinschaftsaspekt verstehen

Des Weiteren ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass das Phänomen ein gemeinschaftliches ist. Die Zahl der Teenager mit einer Geschlechtsidentitätsstörung ist in den letzten Jahren gestiegen. Aber das ist kein Beweis dafür, dass es in unserer Gesellschaft schon immer eine große Anzahl Betroffener gegeben haben muss, die nur Angst davor hatten, sich zu outen.

Vielmehr deutet es darauf hin, dass transgender zu sein momentan ein Prestige innehat, das Zugehörigkeit vermittelt – eine Art und Weise, sich selbst auszudrücken, aufgrund derer man Mitgliedschaft und Status in einer Gruppe erlangt.

4. Den größeren kulturellen Kontext verstehen

Schließlich sollten wir uns mit dem breiteren kulturellen Kontext vertraut machen, in dem die Transgender-Ideologie plausibel wurde. Wir sollten auch die Fakten und Zahlen kennen, die die tragischen Auswirkungen im Leben von so vielen offenbaren, die sich für Hormonbehandlungen und geschlechtsumwandelnde Operationen entschieden haben. In dieser Sache steht politisch eine Menge auf dem Spiel; aber noch viel tragischer sind die zahllosen herzzerreißenden persönlichen Geschichten von verstümmelten Körpern und ruinierten Leben. Die Arbeit von Ryan Anderson ist hier besonders hilfreich. In seinem Buch When Harry Became Sally findet man eine Fülle an Informationen und zahlreiche persönliche Erfahrungsberichte, die sowohl die medizinischen als auch die individuellen Probleme deutlich machen.

Die Rolle der Gemeinde

Es gibt also eine Menge Dinge, die wir als einzelne Christen tun können: uns besser über das Thema informieren und versuchen, sowohl aus Überzeugung als auch mit Mitgefühl zu handeln, wenn wir im öffentlichen Leben, am Arbeitsplatz und in unseren Familien mit Gender-Fragen konfrontiert werden. Doch auch die Gemeinde muss ihren Teil beitragen. Wie ich oben schon erwähnte, ist es die Gemeinschaft, die eine bedeutende Rolle in der aktuellen Transgender-Revolution spielt, indem sie die individuellen Erwartungen formt und unsere Wünsche lenkt. Das ist ein elementarer Teil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein: Unser Selbst-Verständnis – das Wissen, wer ich bin – wird auf einer sehr tiefgehenden Ebene von den Gemeinschaften geprägt, in denen wir uns befinden. Aus diesem Grund spielt Gemeinschaft in der Bibel eine solche Rolle, vom Volk Israel bis zur apostolischen Gemeinde. Und deshalb ist Paulus so darauf bedacht, dass Christen sich in guter Gesellschaft aufhalten, denn – wie er es ausdrückt – schlechter Umgang verdirbt gute Sitten. Wir neigen dazu, die Einstellungen und das Verhalten der Gruppe, mit der wir uns umgeben, oder der Gesellschaft, in der wir leben, zu übernehmen.

Ein Mensch, der mit Geschlechtsdysphorie kämpft, ist per Definition jemand, der sich nicht einmal in seinem eigenen Körper zuhause fühlt. Dieses Gefühl des Unbehagens lässt sich nicht über Nacht beseitigen. Aber wir sollten uns daran erinnern, dass das gewissermaßen nur eine der aktuellen Ausdrucksweisen für das Unbehagen ist, das wir alle in einer Welt empfinden, die nicht so ist, wie sie sein sollte – die sozusagen aus den Fugen geraten ist. Und an dieser Stelle kommt der Gemeinde als einer bekennenden, Jüngerschaft lebenden und anbetenden Gemeinschaft eine entscheidende Bedeutung zu.

Die Gemeinde sieht sich heute einer Kakophonie der Identitäten ausgesetzt, die unsere Welt überfluten (dabei ist das Gender-Chaos nur ein Beispiel). Wenn sie sich dagegen behaupten will, dann muss sie eine starke Gemeinschaft sein, in der die Menschen ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit empfinden und in der deshalb ein tiefes Bewusstsein dessen, wer wir selbst sind, geformt und gefördert wird. Dazu gehören drei Dinge: ein klares Festhalten an der biblischen Lehre in den Bereichen Identität (wir finden unsere Identität in Christus) und Sexualität (sexuelles Verlangen oder innere Überzeugungen im Hinblick auf das Geschlecht machen nicht maßgeblich aus, wer wir sind); ein auf Nachfolge ausgerichteter Ansatz für den Gottesdienst, denn dort begegnet Gott seinem Volk und dort werden wir daran erinnert, wer wir sind; und eine liebevolle Gestaltung der Gemeinschaft, in der wir uns aufrichtig umeinander kümmern, einander Gastfreundschaft erweisen und die Lasten des anderen tragen. All diese Elemente sind notwendig, um unsere Identität zu prägen.

Die Gemeinde der Zukunft wird sich weitaus stärker dessen bewusst sein müssen, wer sie ist. Sie kann sich nicht länger darauf verlassen, dass das moralische Empfinden der Gesellschaft da draußen ihre grundlegendsten ethischen Prinzipien bestätigt. Ganz im Gegenteil: Geht es nach dem moralischen Empfinden der Gesellschaft, dann erscheinen die Standpunkte der Gemeinde in Bezug auf Gender und Sexualität als zutiefst unglaubwürdig.