Die Warnungen vor dem Glaubensabfall

Artikel von Collin Hansen
12. Juli 2021 — 16 Min Lesedauer

Der Hebräerbrief kann auch die begabtesten Prediger und Theologen das Fürchten lehren. Zunächst: Wir kennen den Autor nicht. Er zitiert ständig und ausführlich aus dem Alten Testament, aber seine Art, wie er diese Stellen interpretiert, ergibt für den Leser auf den ersten Blick nicht immer Sinn. Wenn er mit Engeln, Mose und dem Tempel argumentiert, benötigt man mehr als ein nur oberflächliches Verständnis der hebräischen Bibel.

Und dann gibt es da diese Stellen, die davor warnen, vom Glauben abzufallen. Es mag ja schwierig sein, auf Anhieb die Bedeutung des Priesters Melchisedek zu verstehen, aber viele Christen verstehen sehr wohl intuitiv die praktische Bedeutung dieser Warnungen. Kann ich meinen Glauben verlieren? Was ist, wenn ich zweifle? Wenn ich es nicht schaffe, Sünde zu überwinden?

Um eine Antwort auf diese und einige weitere Fragen zu bekommen, habe ich mich an den renommierten Theologen Peter O’Brien gewandt, emeritierter Professor am Moore College in Sydney (Australien). Viele, die sich mit den Briefen an die Epheser, Kolosser, an Philemon und an die Philipper befasst haben, haben von seinen ausführlichen, lehreichen und im Glauben verwurzelten Kommentaren profitiert. Er hat auch einen ungemein hilfreichen Kommentar zum Hebräerbrief geschrieben. Unter Rückgriff auf einige dieser Erkenntnisse wird er uns helfen, diese warnenden Stellen in ihrem unmittelbaren und gesamtbiblischen Kontext zu verstehen.

Collin Hansen: Für reformierte Bibellehrer kann es eine ziemliche Herausforderung sein, diese fünf Hebräer-Stellen zu lehren, in denen vor dem Glaubensabfall gewarnt wird (Hebr 2,1–4; 3,7–4,13; 5,11–6,12; 10,19–39; 12,14–29). Wie können wir unsere Theologie mit dem in Einklang bringen, was für viele die klare Bedeutung dieser Stellen zu sein scheint, nämlich dass Gläubige ihren Glauben verlieren können?

Peter O’Brien: Die Warnungen im Hebräerbrief haben Christen im Laufe der Kirchengeschichte vor viele Herausforderungen gestellt. Und die falsche Anwendung dieser Stellen führte zu seelsorgerlichen Problemen bei Christen jeglicher Tradition, einschließlich der Reformierten.

Ernsthafte Christen wurden durch diese Warnungen verunsichert, weil sie begannen, an der Sicherheit ihres Heils zu zweifeln – einer Sicherheit, die an anderer Stelle sehr deutlich unterstrichen wird, z.B. in Römer 5,1–11 und Römer 8,18–39, ebenso in Jesu Verheißungen an seine Jünger in Johannes 6,39–40.44 und Johannes 10,25–30.

Auch im Hebräerbrief gibt es kraftvolle Worte der Ermutigung, die Sicherheit zusagen – eine Sicherheit, die in Gottes Treue gegründet ist, seinem Volk seine Verheißungen zu erfüllen (Hebr 2,10; 6,10–20). Dies, weil das Opfer Christi ein endgültiges war (Hebr 9,11–28; 10,14–18) und weil er der bleibende Hohepriester ist – so kann Jesus sein Volk vollkommen und ewig erretten, weil er für immer lebt, um für sie einzutreten (Hebr 7,25; vgl. 9,24).

Collin Hansen: Zeigt uns der Hebräerbrief selbst einen Weg, wie wir diese theologischen und seelsorgerlichen Schwierigkeiten lösen können?

Peter O’Brien: Ein Schlüssel, wie wir mit dieser Spannung zwischen ernsten Warnungen und dazu scheinbar im Widerspruch stehenden Verheißungen und Ermutigungen umgehen können, liegt zunächst darin, dass wir erkennen: Im Hebräerbrief gibt es eine Unterscheidung zu „einer Art vorübergehendem Glauben, einer Sorte von Bekehrung, die wie der Same, der auf das Felsige gesät wurde [im Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld; Mk 4], alle Anzeichen von Leben aufweist, aber nicht andauert“.[1] Solcher Glaube ist unecht. Dagegen ist echter Glaube mit dem Ausharren verknüpft.

Die Konditionalsätze in Hebräer 3,6 und 14 funktionieren nach einem Evidenz-Inferenz-Schema, bei dem „die Beobachtung einer Evidenz den Beobachter dazu bringt, eine bestimmte logische Schlussfolgerung zu ziehen“.[2]

„Sein [Gottes] Haus sind wir, wenn wir die Zuversicht und das Rühmen der Hoffnung bis zum Ende standhaft festhalten.“ (Hebr 3,6)
„Wir haben Anteil an Christus bekommen, wenn wir die anfängliche Zuversicht bis ans Ende standhaft festhalten.“ (Hebr 3,14)

Dementsprechend sagt der Autor hier: Daran, dass die Zuhörer bis zum Ende im Glauben bleiben, wird sichtbar, dass sie bereits jetzt Mitglieder von Gottes Haushalt sind – sie werden das nicht erst in der Zukunft (V. 6). Und ähnlich: Daran, dass sie an ihrer Zuversicht festhalten, wird die Realität offenbar, dass sie schon jetzt Anteil an Christus haben, nicht nur, dass sie am Jüngsten Tag Anteil an ihm bekommen werden (V. 4).

„Das Ausharren der Zuhörer ist der Beweis für das, was bereits in der Vergangenheit geschehen ist.“
 

Das Ausharren der Zuhörer ist der Beweis für das, was bereits in der Vergangenheit geschehen ist. Es ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was es bedeutet, Christ zu sein, ein Teilhaber an Christus. Der Hebräerbrief „definiert geradezu wahre Gläubige als die, die bis zum Ende standhaft an der Zuversicht festhalten, die sie zu Beginn hatten“.[3]

Diese Unterscheidung von echtem und unechtem Glauben ist an anderer Stelle im Hebräerbrief deutlich zu erkennen. Darauf deutet hin, dass der Autor sein „Wort der Ermahnung“ (Hebr 13,22) an eine gemischte Zuhörerschaft richtet: Es gibt zwei Arten von Böden, die auf den reichlichen Segensregen Gottes auf dramatisch unterschiedliche Weise reagieren (Hebr 6,7–8), zwei Arten von Herzen (Hebr 3,12; 10,22) und eine Unterscheidung zwischen „wir“, die wir „glauben zur Errettung der Seele“, und „er“, der zu denen gehört, „die feige zurückweichen zum Verderben“ (Hebr 10,38–39). Der Autor hat Befürchtungen im Hinblick auf bestimmte Personen in der Gemeinde, die möglicherweise in besonderer Gefahr stehen, abzufallen („jemand“, „einige“: Hebr 3,12–13; 4,1.11; 6,11–12; 10,24–25.28; 12,15–16).

Der Hebräerbrief steht nicht allein damit, wahre Gläubige als solche zu beschreiben, die ihre Zuversicht standhaft bis zum Ende festhalten. Auch in anderen neutestamentlichen Büchern gibt es Warnungen vor unechtem Glauben oder Beschreibungen davon (Mt 7,21–23; Joh 2,23–25; Kol 1,22–23; 1Joh 2,19; vgl. 2Petr 1,10–11). Jesu Gleichnis vom Sämann (bzw. vom vierfachen Ackerfeld) weist in eine ähnliche Richtung (Mk 4,1–29 par). Das anfängliche Wachstum des Samens, der auf felsigen Boden oder unter die Dornen gefallen ist, vermittelt allen Beobachtern (außer Gott selbst) den Eindruck, als wäre hier eine Spitzenernte zu erwarten. Aber das, was da zunächst wächst, trägt keine Frucht. Es hat die Anzeichen von Leben, aber es bleibt nicht dabei. Dieses geistliche Leben erweist sich als vergänglich.[4]

Collin Hansen: Worum geht es dem Hebräerbrief, wenn er sich mit diesen Warnungen und Ermutigungen an seine Empfänger wendet?

Peter O’Brien: Im Hebräerbrief sehen wir die Unterscheidung zwischen echtem und unechtem Glauben, und die Definition von wahren Gläubigen als solchen, die an ihrem Bekenntnis zu Jesus Christus bis zum Ende festhalten. Daher gehen wir davon aus, dass sich die Bilder, mit denen die Hörer in den warnenden Stellen beschrieben werden, auf ein anfängliches Werk der Gnade im Leben der Gemeindeglieder beziehen.

Der Autor wusste, dass seinen Hörern das Evangelium gepredigt worden war und dass Gott in der Gemeinde kraftvoll gewirkt hatte (Hebr 2,1–4). Es ist offensichtlich, dass einige eine echte Bekehrung erlebt und wirklich Christi rettendes Werk für sich angenommen hatten. Wie viele das sind und wer das alles ist, weiß der Autor nicht genau. So spricht er auf der Grundlage dessen, was er beobachtet hat, die ganze Versammlung an, und mahnt sie: standhaft festzuhalten an ihrem Bekenntnis des Glaubens an Christus, an ihrer christlichen Hoffnung ohne zu wanken, an ihrem Vertrauen auf Gott (Hebr 3,6.14; 4,14; 6,18; 10,23).

Es ist jedoch bezeichnend, dass der Autor dann, wenn er sich auf jene bezieht, die abfallen, die dritte Person Plural verwendet, nicht die zweite (z.B. „die, welche einmal erleuchtet worden sind […] und die dann abgefallen sind“; Hebr 6,4–6), und sie dadurch nicht ausdrücklich mit seinen Zuhörern identifiziert. Auch wenn einige offenbar in großer Gefahr stehen, sagt er nicht, dass sie abgefallen sind. Die Warnungen wie auch die göttlichen Verheißungen sollen verhindern, dass das passiert.

Die Beschreibung der Zuhörerschaft in Hebräer 6,4–5 („die, welche einmal erleuchtet worden sind und die himmlische Gabe geschmeckt haben und Heiligen Geistes teilhaftig geworden sind und das gute Wort Gottes geschmeckt haben, dazu die Kräfte der zukünftigen Weltzeit“) deutet auf ein erstes Erfahren des Evangeliums hin. Das anschauliche landwirtschaftliche Bild aus Hebräer 6,7–8 ist mit der Warnung aus den Versen 4–6 verknüpft und erklärt ihre Bedeutung. Das Bild steht zwischen dieser Warnung und der zuversichtlichen Formulierung in den Versen 9–12. Damit werden zwei mögliche Reaktionen auf die Warnung aufgezeigt, nicht nur eine. Indem das Bild sowohl diejenigen, die nicht abfallen, wie auch die, die abfallen, einschließt, wird es ausgemalt und vervollständigt.

Die Auswirkungen des Regens auf das jeweilige Stück Land unterscheiden sich dramatisch: Im einen Fall bestätigt das Vorhandensein von reichlich Frucht bei der endzeitlichen Ernte diejenigen, die echte Rettung erfahren haben (Hebr 6,7.9). Aber das Land, das gut gewässert und kultiviert wurde und doch nur „Dornen und Disteln“ trägt, zeigt seine Untauglichkeit und wird im Endgericht nicht bestehen (Hebr 6,6.8). Der Glaube jener war nur kurzlebig (vgl. Hebr 10,38–39; 12,25). Sie waren niemals wahre Gläubige, welche Lebenszeichen sie anfangs auch gezeigt haben mögen.

Collin Hansen: Welche Art von Sünde bedroht diese Gemeinde?

Peter O’Brien: Historisch gesehen beinhaltet das Wesen der hier angesprochenen Sünde einen Rückfall ins Judentum. Die Zuhörer standen offenbar in der Gefahr, in das Vertrauen auf die kultischen Gegebenheiten des Alten Bundes im Judentum zurückzufallen.

In diesen warnenden Abschnitten des Hebräerbriefs wird die Sünde, von der die Gemeinde bedroht wurde, auf verschiedene Art und Weise beschrieben, denn sie hat viele Facetten. Doch letztendlich handelt es sich um einen unumkehrbaren Abfall vom lebendigen Gott. Sie ist die vollständige Ablehnung einer Stellung und Haltung, zu der man sich zuvor bekannt hatte.

Diese Sünde ist in ihrem Ausmaß trinitarisch. Denn sie beinhaltet eine beharrliche und schuldhafte Weigerung, der Stimme des lebendigen Gottes zu gehorchen, der durch seinen Sohn spricht und vom Himmel herab warnt (Hebr 1,1–4; 12,25). Sie behandelt Jesus mit äußerster Verachtung, indem sie ihn wiederum kreuzigt und dem Gespött aussetzt (Hebr 6,6), und indem sie sein Opfer des Neuen Bundes ablehnt, durch das das Versöhnungswerk vollendet wurde (Hebr 10,29). Und sie beleidigt hochmütig Gottes gnädigen Geist, durch den Christus sich selbst Gott als Opfer dargebracht hat und der den Gläubigen die endgültige Vergebung der Sünden zueignet (Hebr 10,29). Aufgrund der Tatsache, dass diese Sünde absichtlich, hartnäckig und trotz des Wissens um die Wahrheit begangen wird, ist die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sie auf Unwissenheit beruht (Hebr 10,26).

Für andere Sünden, Vergehen und Schwachheiten der Gläubigen, die der Hebräerbrief nennt, gibt es die wunderbare Sühnung durch Jesu Opfer des Neuen Bundes und seinen priesterlichen Dienst. Doch bei der Sünde des Abfalls ist so etwas nicht vorgesehen. Bei denjenigen, die Gottes gnädigen Plan, Menschen zu retten und zur Herrlichkeit zu führen, rigoros zurückweisen, „bleibt für die Sünden kein Opfer mehr übrig“ (Hebr 10,26).

„Die spezielle Kategorie der Sünde des Glaubensabfalls muss in diesem Licht klar erkannt werden. Sie darf nicht mit anderen Sünden und Schwachheiten von Christen durcheinandergebracht werden.“
 

Die spezielle Kategorie der Sünde des Glaubensabfalls muss in diesem Licht klar erkannt werden. Sie darf nicht mit anderen Sünden und Schwachheiten von Christen durcheinandergebracht werden – wie es im Lauf der Kirchengeschichte oft geschehen ist. Da es sich bei diesem Tatbestand um eine völlige Abkehr handelt von allem, was spezifisch christlich ist und wozu sich diese Person zuvor bekannt hat, ist das keine Sünde von Außenstehenden oder von jemandem, der sich am Rande des Gemeindelebens befindet.

Wenn jemand befürchtet, dass er diese Sünde begangen haben könnte, und sich sorgt, dass Gott ihn nicht in die Gemeinschaft mit seinem Sohn aufnehmen wird, weil seine Sünde zu groß ist, dann drängt ihn der Hebräerbrief, mutig zum Thron der Gnade zu kommen, um dort Barmherzigkeit zu erlangen und Gnade zu finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben (Hebr 2,18; 4,14–16).

Im Gegensatz dazu verwerfen die Abgefallenen trotzig und absichtlich den Sohn Gottes und seine Erlösung. Sie zeigen weder Furcht noch Sorge, da sie sich mit ihrem bewussten und endgültigen Entschluss völlig im Recht fühlen.

Angesichts der Unterscheidung im Hebräerbrief zwischen einem echten Glauben, der bis zum Ende ausharrt, und einem unechten Glauben, der anfangs einige Lebenszeichen zeigen mag, aber nicht andauert, ist der, der abfällt, kein echter Christ und war auch niemals einer – ganz gleich, wie seine ersten Reaktionen auf das Evangelium ausgesehen haben. Echter Glaube ist mit dem Ausharren bis zum Ende verknüpft. Deshalb zeigt der Gläubige, der in dem vor uns liegenden Kampf mit Ausdauer läuft und hinaufschaut auf Jesus (Hebr 12,1–2), eben dadurch, dass er oder sie ein Mitglied von Gottes Familie ist und bereits Anteil an Christus hat.

Collin Hansen: Welche Konsequenzen hat der Abfall vom Glauben?

Peter O’Brien: Die Auswirkungen dieser Gefahr, die den Empfängern des Hebräerbriefs drohte, sind schon seit frühester Zeit unterschiedlich interpretiert worden – je nachdem, wie man die Natur der Sünde verstand, die dort beschrieben wird. Wird dieses Vergehen als etwas betrachtet, das weniger ist als ein Abfall vom Glauben, eher eine Art geistliche Trägheit, die in der Gemeinde zutage tritt, dann versteht man die Konsequenzen als eine Form der Disziplinierung, die etwa zum physischen Tod führt oder zum Verlust von Belohnungen.

Aber mit diesen Überlegungen wird man den harten Formulierungen von Hebräer 6,6 oder Hebräer 10,26–31 nicht gerecht. Die Zusammenschau der fünf warnenden Abschnitte benennt als Konsequenzen: „gebührende Vergeltung“ (Hebr 2,2; Menge), keine Chance zu „entfliehen“ (Hebr 2,3), zu Fall kommen, Gottes verheißene Ruhe versäumen, den tragischen Verlust des Erbes (Hebr 4,1.11), die Unmöglichkeit der Erneuerung zur Buße (Hebr 6,4.6). Letzteres wird verknüpft mit dem Land, das „unbrauchbar“ ist und „dem Fluch entgegen[geht], dessen Ende zum Feuerbrand führt“ (Hebr 6,8; Menge).

Diese Strafe ist keine Wiederherstellungs- oder Disziplinierungsmaßnahme, sondern ist mit der Härte des eschatologischen Gerichts verbunden, das Gottes Feinde treffen wird. In der vierten Warnung werden die unumkehrbaren Konsequenzen des Abfalls mit drastischen Formulierungen („schrecklich“, „Zorneseifer des Feuers“; Hebr 10,27) und als endgültig (es gibt kein Entkommen und mündet in ein eschatologisches Gericht) geschildert. Abgefallene sind Gottes „Widersacher“ (Hebr 10,27), die eine „viel schlimmere Strafe“ (Hebr 10,29) verdienen als das, was das mosaische Gesetz für die Ablehnung des Alten Bundes vorschrieb. Das bedeutet: eine Strafe, die härter ist als nur der physische Tod. Diejenigen, die zurückweichen, laufen ins Verderben (Hebr 10,39) – was in diesem auf das Endgericht zielenden Kontext ewiges Verderben bedeutet.

„Der Autor des Hebräerbriefes behauptet nicht, dass seine Zuhörer bereits abgefallen sind. Er ist aber offensichtlich in Sorge, dass einige von ihnen unmittelbar vor dieser Gefahr stehen.“
 

Der Autor des Hebräerbriefes behauptet nicht, dass seine Zuhörer bereits abgefallen sind. Er ist aber offensichtlich in Sorge, dass einige von ihnen in unmittelbarer Gefahr stehen, in diesen Abgrund zu stürzen. Er warnt die gesamte Gemeinde vor den unumkehrbaren Konsequenzen des Abfalls. Seine Warnungen werden ergänzt durch weitere Ermahnungen und durch seine lehrhaften Darlegungen, mit denen er die Grundlage für die Ermahnungen legt. Durch all das will er verhindern, dass die katastrophalen Konsequenzen tatsächlich eintreten.

Collin Hansen: Wozu fordert der Hebräerbrief also seine Zuhörer auf?

Peter O’Brien: Die Hörer sollen an ihrem Bekenntnis zu Christus „festhalten“ (Hebr 4,14; 10,23) und auf Gott und seine Verheißungen mit ausdauerndem Glauben reagieren (Hebr 6,12.15) – nicht mit Unglauben und Abfall, was zum Verderben führen wird. Ihnen wird gesagt, dass sie standhaftes Ausharren nötig haben (Hebr 10,36), und dass sie in dem Kampf, der vor ihnen liegt, mit Ausdauer laufen sollen, indem sie auf Jesus hinschauen, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der das Kreuz erduldete und die Schande für nichts achtete, um Gottes Willen zu erfüllen (Hebr 12,1–2).

Collin Hansen: Welche Zusicherungen gibt es für Gläubige, dass sie auf ewig gerettet sind?

Peter O’Brien: Die Ermutigungen an die Gemeindeglieder, standhaft am Bekenntnis ihres Glaubens an Christus festzuhalten und geduldig auszuharren – egal, welche Prüfungen auch kommen mögen –, gründen sich fest in Gottes Treue, dass er seine erstaunlichen Verheißungen auch erfüllt (vgl. Hebr 6,12–20). Er will seine Kinder zur Herrlichkeit führen und deshalb hat er Jesus, den Urheber ihres Heils, durch Leiden vollendet (Hebr 2,10). Auch wenn die Ermahnung zum Ausharren in Prüfungen, in Verfolgung, in öffentlichen Beschimpfungen durch Gegner, in Enttäuschungen und bei so viel Grund zum Verzagtsein (Hebr 12,5) beängstigend, ja sogar erdrückend scheint – die Gläubigen sind nicht sich selbst überlassen.

„Schlussendlich liegt die Heilssicherheit des Gläubigen nicht im Gläubigen selbst, sondern im lebendigen Gott begründet.“
 

Christi ein für alle Mal geschehenes, makelloses Opfer seiner selbst ist vollkommen annehmbar und wirksam. Er hat seinem Volk den Weg in den Himmel selbst gebahnt und für sie eine ewige Erlösung erlangt. Als der Sohn, der für immer lebt, wird sein priesterlicher Dienst niemals enden; „daher kann er auch diejenigen vollkommen erretten, die durch ihn zu Gott kommen, weil er für immer lebt, um für sie einzutreten“ (Hebr 7,25).

Schlussendlich liegt die Heilssicherheit des Gläubigen nicht im Gläubigen selbst, sondern im lebendigen Gott begründet. Die abschließende Verheißung des Briefes ist eine wunderbare Zusicherung: „Ich will dich nicht aufgeben und dich niemals verlassen!“ (Hebr 13,5). Deshalb „dürfen wir auch zuversichtlich sagen: ‚Der Herr ist meine Hilfe, ich will mich nicht fürchten: was können Menschen mir antun?‘“ (Hebr 13,6; Menge).


[1] D.A. Carson, „Reflections on Assurance“, in: Thomas R. Schreiner, Bruce A. Ware (Hrsg.), Still Sovereign: Contemporary Perspectives on Election, Foreknowledge, and Grace, Grand Rapids: Baker, 2000, S. 247–276, insbesondere S. 267.

[2] C. Adrian Thomas, A Case for Mixed-Audience with Reference to the Warning Passages in the Book of Hebrews, New York: Lang, 2008, S. 184–185. Vgl. Carson, „Reflections“, S. 264 u. 267; außerdem Buist M. Fanning, „A Classical Reformed View“, in: H.W. Bateman (Hrsg.), Four Views on the Warning Passages in Hebrews, Grand Rapids: Kregel, 2007, S. 172–219. Die Mehrheit der Exegeten ist allerdings der Meinung, dass die Konditionalsätze im Sinne von Ursache und Wirkung zu verstehen sind.

[3] Carson, „Reflections“, S. 267.

[4] Carson, „Reflections“, S. 266.