Martyn Lloyd-Jones und der streitsüchtige Pastor

Artikel von Justin Taylor
17. Juli 2021 — 6 Min Lesedauer

Ian Murray erzählt die Geschichte von einem Treffen der Pastoren T.T. Shields (1873–1955) aus Toronto und Martin Lloyd-Jones (1899–1981) aus London. Eine Geschichte, die auch in unseren Tagen von Bedeutung sein könnte:

T.T. Shields war dafür bekannt, jegliche konfessionelle Irrlehre sehr entschieden anzuprangern. Shields und Lloyd-Jones vertraten ähnliche theologische Positionen: Beide waren Calvinisten und hatten eine amillennialistische Sicht auf die noch unerfüllten Prophetien.
Aber mit einem wichtigen Aspekt von Shields‘ Dienst war Lloyd-Jones nicht einverstanden. Ihm war dieser Anführer der Baptisten manchmal zu streitsüchtig, zu anklagend und zu übertrieben kritisch. Während Shields glaubte, jungen Christen durch die Kraft seiner Polemik gegen liberale Protestanten und römische Katholiken zu helfen, verpasste er in den Augen Lloyd-Jones‘ die Gelegenheit zur Beeinflussung derer, die zunächst vor allem gesunde Lehre dringend nötig hatten.

Murray berichtet von einer Gelegenheit, als Lloyd-Jones und Shields ein gemeinsames Treffen planten:

Dr. Lloyd-Jones sprach mit [seiner Frau] Bethan über dieses bevorstehende Treffen sprach und sie zudem beteten dafür. Er kam zu der Überzeugung, dass er – wenn Shields ihm irgendeine Gelegenheit dazu bieten würde – ansprechen wolle, was seine Bewunderung für den älteren Prediger trübte.

Lloyd-Jones erzählte später, was sich bei diesem Treffen ereignete:

Shields holte mich ab und wir aßen gemeinsam zu Mittag. Wir sprachen über dieses und jenes bevor wir uns in den Garten setzten.
Während wir dort Kaffee tranken, wandte er sich plötzlich an mich und sagte: „Lesen Sie gerne Joseph Parker?“ (Parker war ein englischer kongregationalistischer Prediger des 19. Jahrhunderts, Anm. des Autors)
Ich antwortete: „Nein, das tue ich nicht.“
„Warum?“, fragte er.
„Ich habe nichts davon.“
„Mann!“, rief er, „Was ist los mit Ihnen?“
„Nun“, sagte ich, „seine Kritik an den Liberalen mag zwar berechtigt sein, aber sie bringt mich geistlich nicht weiter.“
„Aber sicherlich hilft Ihnen doch die Art und Weise, wie er die Liberalen auseinander nimmt?“
„Nein, das hilft mir nicht“, antwortete ich. „Man kann die Liberalen auseinander nehmen und trotzdem Nöte in seinem eigenen Herzen haben.“
„Nun“, sagte Shields, „ich lese Joseph Parker jeden Sonntagmorgen. Er bringt mich auf die Palme – und er stellt mich auf den rechten Weg.“
Damit sah ich den Startschuss für mein Anliegen gegeben. Wir hatten eine großartige Debatte. Er war ein sehr fähiger Mann und wir diskutierten die Sache, in der ich nicht mit ihm übereinstimmte.
Zu seiner Verteidigung brachte er vor: „Wissen Sie, jedes Mal, wenn ich mich auf das einlasse, was Sie einen ‚Hundekampf‘ nennen, steigen die Verkaufszahlen der Gospel Witness. Was sagen Sie dazu?“ (Gospel Witness war eine Zeitung, die Shields 1922 gegründet hatte und die zu diesem Zeitpunkt 30.000 Abonnenten hatte, Anm. des Autors).
„Nun gut“, antwortete ich, „ich habe schon oft beobachtet, dass sich bei einem Hundekampf eine neugierige Menschenmenge versammelt. Das wundert mich überhaupt nicht. Die Leute mögen so etwas.“
Er brachte ein anderes Argument: „Stellen Sie sich vor, Sie sind Arzt und es kommt ein Patient zu Ihnen, der Krebs hat. Sie wissen, dass der Krebs, wenn er nicht entfernt wird, den Patienten töten wird. Sie wollen ihn nicht operieren, aber Sie müssen es trotzdem tun, weil nur eine Operation sein Leben retten kann. In genau dieser Position befinde ich mich. Ich möchte solche Dinge zwar nicht tun, aber da ist dieser Krebs, der entfernt werden muss. Was sagen Sie dazu?“
Ich entgegnete: „Ich bin zwar Arzt, aber es gibt so etwas wie eine ‚Chirurgen-Mentalität‘, die man auch als ‚Schneidefreudigkeit‘ bezeichnen könnte. Sicherlich gibt es Fälle, in denen man unbedingt operieren muss, aber die Gefahr bei einem Chirurgen ist immer, dass er sofort operieren will. Er denkt nur noch in Kategorien des Operierens. Man sollte aber niemals eine Operation durchführen, ohne die zweite Meinung eines anderen Arztes einzuholen.“
Jetzt stand Shields auf, ging durch den Garten und kehrte schließlich zurück, um das Gespräch wieder aufzunehmen.
„Nun“, fragte er, „wie wäre es damit: Sie wissen doch, was Paulus in Galater 2 schreibt? Er musste Petrus ins Gesicht widerstehen. Er wollte es nicht tun. Petrus war ein älterer Apostel, ein Leiter und so weiter. Paulus tat das sehr widerwillig, aber um der Wahrheit willen musste er es tun. Das beschreibt die Situation, in der ich mich befinde. Was sagen Sie dazu?“
Ich antwortete: „Das Ergebnis dessen, was Paulus hier tat, war, dass er Petrus für seine Position gewann und ihn dazu brachte, ihn ‚unseren geliebten Bruder Paulus‘ zu nennen. Können Sie dasselbe über die Leute sagen, die Sie angreifen?“
Shields war geschlagen. Dann, nachdem unser Streitgespräch beendet war, richtete ich mit Nachdruck einen Appell an ihn. Ich sagte: „Dr. Shields, Sie waren früher als der kanadische Spurgeon bekannt, und das waren Sie auch. Sie sind ein herausragender Mann, sowohl was Ihren Intellekt und Ihre Predigtbegabung angeht, als auch in jeder anderen Hinsicht. Aber durch die Sache mit der McMaster University in den frühen Zwanzigern haben Sie sich plötzlich verändert und wurden negativ und anklagend. Ich habe das Gefühl, dass das Ihren Dienst ruiniert hat. Warum kommen Sie nicht zurück? Lassen Sie all das fallen, predigen Sie den Menschen positiv das Evangelium und gewinnen Sie sie damit!“
„Paulus gewann Petrus für seine Position und brachte ihn dazu, ihn ‚unseren geliebten Bruder Paulus‘ zu nennen. Können Sie dasselbe über die Leute sagen, die Sie angreifen?“
 

Zum Schluss berichtet Murray:

Während der Rückfahrt im Auto führte Dr. Lloyd-Jones seinen Appell weiter aus. Mit Tränen in den Augen gestand Shields – damals neunundfünfzig Jahre alt –: „Ich bin in meinem Leben noch nie so angesprochen worden, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Sie haben mich sehr tief getroffen. Ich will Ihnen sagen, was ich tun werde. Morgen Abend werde ich eine Sitzung meines Vorstandes einberufen, ihnen genau berichten, worüber wir gesprochen haben und mich in ihre Hände begeben. Wenn sie Ihnen zustimmen, werde ich tun, was Sie sagen. Wenn nicht, werde ich es nicht tun.“
Wie Dr. Lloyd-Jones später erfuhr, fand das Treffen wie beabsichtigt statt, aber Shields‘ Mitarbeiter rieten ihm, nicht auf Lloyd-Jones‘ Rat zu hören.
So sollte auf das denkwürdige Treffen dieser beiden Männer keine Veränderung folgen, außer dass Dr. Lloyd-Jones nun noch fester davon überzeugt war, dass ein rechtgläubiger Dienst durch einen falschen Geist und durch falsche Methoden verdorben werden kann.