Recovering the Lost Art of Reading
Viele Menschen lesen heute mehr denn je. Vor allem im Internet. Gleichzeitig haben viele die Freude daran verloren (oder nie entdeckt), literarische Werke und „echte“ Bücher konzentriert und mit Genuss zu lesen. Auf dieses Problem weisen Leland Ryken und Glenda Faye Mathes in ihrem aktuellen Buch Recovering the Lost Art of Reading: A Quest for the True, the Good, and the Beautiful (dt. „Die verlorene Kunst des Lesens wiederentdecken: Eine Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen“) hin. Ryken ist ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, was z.B. sein Mitwirken als „literary stylist“ bei der English Standard Version zeigt, einer ausgezeichneten englischsprachigen Bibelübersetzung. Er und Mathes bezeichnen sich als zwei „erfahrene und begeisterte Leseratten“ (S. 11). Ihr erklärtes Ziel mit diesem Buch: „Wir wollen, dass du – ob du nun ein Viel- oder Wenigleser bist – größere Freude am Lesen (und damit auch am Leben) findest“ (S. 17).
Aber: Ist das Problem, das in diesem Buch behandelt wird, überhaupt relevant? Geht es hier vielleicht nur um eine Debatte unter Bücherfreunden und Nostalgikern?
Gibt es überhaupt ein Problem?
Diesem Einwand begegnen die Autoren im ersten Teil des Buches. Sie untermauern darin ihre These, dass wir das gründliche Lesen verlernt und dadurch etwas verloren haben. Es geht nicht nur um veränderte Gewohnheiten, sondern um einen Verlust an Tiefgründigkeit und Weisheit. In einem Kapitel beschreiben sie sieben verschiedene Aspekte dieses Verlustes, z.B. dass wir uns nur durch das Eintauchen in Bücher für einen Moment von unseren Gedanken, die normalerweise um uns selbst kreisen, lösen können. Im Gegensatz dazu befreit uns beispielsweise sportliche Betätigung zwar vorübergehend vom Arbeitsalltag, aber nicht von uns selbst (vgl. S. 30).
„Viele gängige Freizeitbeschäftigungen schaffen es nicht, den menschlichen Geist anzuregen, zumindest nicht in der Tiefe, wie ein gutes Buch es kann.“
Besonders angesprochen hat mich in diesem Kapitel der von ihnen angeführte „Verlust von sinnstiftender Freizeitgestaltung“ (S. 28). Viele gängige Freizeitbeschäftigungen schaffen es nicht, den menschlichen Geist anzuregen, zumindest nicht in der Tiefe, wie ein gutes Buch es kann. Unserer Erholung geht damit ein wichtiges Element verloren. Aus persönlicher Erfahrung kann ich diese Beobachtung bestätigen. Nachdem ich jahrelang nur mehr oder weniger berufliche und theologische Sachbücher las, habe ich vor einiger Zeit wieder bewusst angefangen, Romane zu lesen. Das „Versinken“ in diese Bücher hat etwas Erfrischendes.
Das gesamte Kapitel ist sehr lesenswert, macht nachdenklich und weckt den Appetit darauf, mal wieder zu einem guten Buch zu greifen. Die Autoren illustrieren den möglichen Gewinn mit einem schönen Bild:
„Viel zu viele Menschen treiben ziellos in einem Ruderboot ohne Ruder umher, obwohl sie auf einem voll ausgestatteten Kreuzfahrtschiff segeln könnten. Sie könnten köstliches Essen genießen, faszinierende Häfen besuchen, an weißen Stränden entspannen und in eine erstaunliche Unterwasserwelt eintauchen. Doch leider merken sie wahrscheinlich nicht einmal, was sie verpassen.“ (S. 37)
Ein Gespür für Literatur entwickeln
Im zweiten Teil bereiten Ryken und Mathes den Leser auf die Expedition vor. Um die Liebe zu Büchern neu zu entfachen, müssen wir ein Gespür für verschiedene Literaturgattungen entwickeln. Die Autoren stellen in Kürze Gattungen vor und geben erste Hinweise, wie man sich an die jeweiligen Texte heranwagen kann. Sie gehen auf Romane, Gedichte, Erzählungen, Fantasy, Kinderbücher und Sachbücher, die ein gewisses kreatives Element enthalten (z.B. Biographien), ein. Im Kapitel zu Gedichten zeigen sie dabei beispielsweise, dass das Lesen von Gedichten in einer zunehmend hektischen Kultur eine willkommene Atempause bietet (vgl. S. 98). Im Kapitel über Fantasy untermauern sie, dass diese Art von Literatur zwar nicht reale, aber wahre Elemente enthält (vgl. S. 116). Zudem entkräften sie in diesem Zusammenhang auch das Argument der Weltflucht. Welche Empfehlung sie zu Harry Potter geben, findet sich im Kapitel über Kinderbücher (S. 132). Sie ermutigen Eltern stark, Bücher in den Familienalltag zu integrieren und Kindern täglich laut vorzulesen, weil „Bücher eine entscheidende Rolle dabei spielen, das Denken und die Sichtweise des Kindes zu prägen“ (S. 134). In diesem Kontext weisen sie auch darauf hin, dass gerade bei Büchern für Teenager leider häufig eine ziemlich düstere Weltanschauung vorherrscht: „Egal wie klein das Problem ist, egozentrische Protagonisten sehen sich als Opfer, die ein schweres Leben haben. Niemand versteht sie (vor allem ihre Eltern nicht) und sie müssen ihre Kämpfe alleine bestehen. Gott ist abwesend, Christen werden negativ dargestellt“ (S. 124). Deshalb geben sie Eltern einige praktische Hinweise, wie sie gute, lesenwerte Bücher finden können, z.B. indem man die erste Seite eines Buches liest.
In einem herausragenden letzten Kapitel in diesem zweiten Teil, das man auch für sich allein lesen könnte, erklären sie, dass auch die Bibel als Literatur gelesen wird. Es ist kein Zufall, dass Gott sich in einem Buch offenbart hat. Sie gehen dabei auf häufig angeführte Gegenargumente ein und zeigen, dass der Ansatz, die Bibel als Literatur zu lesen, nicht zur Herabsetzung der Bibel führt. C.S. Lewis bringt es auf den Punkt:
„Die Bibel, die ja nun einmal Literatur ist, [kann] gar nicht anders richtig gelesen werden als so, dass man sie als Literatur liest; und ihre verschiedenen Teile nicht anders denn als die verschiedenen Arten von Literatur, die sie sind.“ (S. 147)[1]
Hier zeigt sich für die Autoren ein großer Verlust, der aus der Unkenntnis der unterschiedlichen Literaturgattungen entsteht: „Wir würden so viel besser mit der Bibel umgehen, wenn wir sie im Lichte dessen lesen und interpretieren würden, was wir bereits über Literatur im Allgemeinen wissen“ (S. 153). Allein dieses Argument sollte Bibelleser dazu motivieren, sich verstärkt mit guter Literatur zu beschäftigen.
Die Kunst des Lesens neu beleben
Im dritten Teil beleuchten Ryken und Mathes deshalb, wie die Kunst des Lesens wiederentdeckt und neu belebt werden kann. Sie lassen sich dabei von dem bekannten Dreiklang der Suche nach dem Wahren, dem Guten und dem Schönen leiten. Ihre Argumentation entspringt immer wieder der Bibel. Literatur ist kein nettes Add-on für Lesebegeisterte, sondern ein Teil unseres (geistlichen) Lebens, dem wir neu Beachtung schenken sollten. Im Kapitel „Freiheit, zu lesen“ ermutigen sie den Leser deshalb beispielsweise vor dem Hintergrund des biblischen Sabbat-Gebotes zu einem Perspektivwechsel: Die Zeit, die wir uns zum Lesen nehmen, ist uns von Gott verordnet! Bedenkenswert ist auch das Kapitel „Literatur und unser geistliches Leben“, wo Beispiele von Menschen angeführt werden, die durch Literatur zum Glauben gekommen sind oder merklich im Glauben gestärkt wurden.
Resümee
Die Autoren erreichen mit diesem Buch ihr Ziel, neue Freude am Lesen von Literatur zu wecken. Sie tun dies biblisch begründet und aus einer christlichen Perspektive. Sie vermeiden dabei den Fehler, zwischen „christlicher“ und „säkularer“ Literatur zu trennen. Das Wahre, Gute und Schöne lässt sich nicht nur in Büchern finden, die wir als „christlich“ klassifizieren. Zudem sind viele der heute als „christlich“ bezeichneten Bücher in Sachen künstlerische Qualität (und zu häufig auch in ihrer Theologie) leider mangelhaft, urteilen die Autoren zurecht (vgl. S. 46–48).
„Das Wahre, Gute und Schöne lässt sich nicht nur in Büchern finden, die wir als ‚christlich‘ klassifizieren.“
Ein großes Manko für den deutschsprachigen Literaturliebhaber ist die Tatsache, dass Ryken und Mathes sich nahezu nur im englischsprachigen Raum bewegen und die deutschen Klassiker außen vor lassen.
Insgesamt liegt hier ein sehr gutes Buch vor, das ein unterschätztes Thema aufgreift. Da eine Übersetzung in die deutsche Sprache kaum erfolgen wird, da das Buch so stark auf die englische Literatur zugeschnitten ist, kann Pastoren und Jugendleitern nur ans Herz gelegt werden, das hier behandelte Problem z.B. in Vorträgen oder Workshops aufzugreifen und die Gemeinden zu unterweisen. Um zuletzt noch einen ganz praktischen Tipp für jeden zu geben: Geh mit der Frage „Hast du in letzter Zeit irgendein gutes Buch gelesen?“ (vgl. S. 15) in das nächste Treffen mit Freunden. Das wird ein guter Anfang sein, um das Gespräch auf gute Bücher zu bringen.
Buch
Leland Ryken und Glenda Faye Mathes, Recovering the Lost Art of Reading: A Quest for the True, the Good, and the Beautiful, Illinois: Crossway 2021, 304 Seiten, ca. 20 Euro.
[1] C.S. Lewis, Das Gespräch mit Gott. Beten mit den Psalmen, Gießen: Brunnen 2016, Kindle-Pos. 133.