Wenn christliche Leiter fallen
Drei Beobachtungen von John Owen
Alle paar Jahre suche ich mir einige Männer aus meiner Gemeinde, um gemeinsam John Owens beeindruckende Sünden-Trilogie zu lesen: The Mortification of Sin (1656), On Temptation (1658) und Indwelling Sin (1668). (Wir greifen dafür auf den Sammelband Overcoming Sin and Temptation, hrsg. von Kelly Kapic und Justin Taylor, zurück.)[1] Wie man das von der Lektüre von Klassikern generell kennt, so auch hier: Bei jedem erneuten Lesen fallen neue Einsichten ins Auge. Letztes Mal haben mich einige Seiten gefesselt, die man in Indwelling Sin leicht übersehen kann.
Owen befasst sich dort mit den Auswirkungen der den Gläubigen innenwohnenden Sünde. Dabei nennt er drei Beobachtungen zu einigen Bibelstellen, in denen es um skandalöse Sünden von Gläubigen geht. In einer Zeit, in der der Evangelikalismus immer wieder von Berichten über christliche Leiter erschüttert wird, die sich in skandalöse Sünden verstrickt haben, tun wir gut daran, uns Owens Überlegungen zu Herzen zu nehmen.
Ich möchte hier drei Lektionen nennen, die wir von Owen lernen können:
1. Leiter kommen zu Fall
Es geht ihm nicht darum, dass wir das von vornherein erwarten sollten (sollten wir nicht!). Aber Owens Blick fällt auf die erstaunliche Tatsache, dass es sich bei den biblischen Beispielen von Heiligen, die gefallen sind, nicht um normale Gläubige handelt, sondern um solche, die „im Hinblick auf ihren Wandel mit Gott auf eigentümliche Weise aus ihrer Generation herausragten“ (S. 363). Er nennt hier Noah, Lot, David, Hiskia und andere. „Das waren keine Männer von gewöhnlichem Format, sondern größer als ihre Brüder; sie überragten sie um Haupteslänge, in ihrem Bekenntnis des Glaubens, ja, in wirklicher Heiligkeit“ (S. 363).
Man kann hier viele Fragen stellen, über das Wie und Warum, oder was zu jedem einzelnen dieser sündigen Umwege führte und wie damit umgegangen wurde. Aber darum geht es Owen hier nicht. Er richtet das Augenmerk vielmehr darauf, was wir daraus mitnehmen sollen. Auf welche Weise sollen uns diese biblischen Beispiele des Abrutschens warnen? Wie uns in unserem eigenen Kampf gegen das Fleisch helfen?
Seine Folgerung ist, Sünde ernst zu nehmen. Nur ein außerordentlich starker Feind ist in der Lage, solche Glaubenshelden auf Abwege zu bringen:
„Sicherlich musste hier etwas von mächtiger Wirksamkeit im Spiel sein, um solche in Gottes Wegen erprobte Giganten in derart abscheuliche Sünden zu stürzen, wie die, in die sie fielen. Ein gewöhnlicher Anreiz hätte sie niemals aus ihrer Bahn des Gehorsams werfen können. Es war ein Gift, dem keine noch so trainierte Konstitution geistlicher Gesundheit, kein Gegengift Widerstand leisten konnte.“ (S. 363)
Wenn wir Giganten fallen sehen, dann soll uns das wachrütteln und daran erinnern, dass wir einem Feind gegenüberstehen, der uns haushoch überlegen ist.
2. Erfahrene Leiter kommen zu Fall
Mit seiner nächsten Beobachtung geht Owen noch einen Schritt weiter. Er kommt nochmals auf seine biblischen Beispiele zurück – Noah, Lot, David, Hiskia – und stellt fest, dass sie nicht als junge Gläubige gefallen sind, sondern nachdem sie schon viele Jahre mit dem Herrn unterwegs waren:
„Und diese Männer fielen nicht in ihre großen Sünden, als sie sich neu zum Glauben bekannten, als sie noch wenig von Gottes Güte erfahren hatten, von der Süße und Freude des Gehorsams, von der Macht und List der Sünde, von deren Antrieben, Verlockungen und Überraschungen; sondern nachdem sie bereits eine lange Strecke in ihrem Lauf mit Gott zurückgelegt hatten, nachdem sie all diese Dinge kennengelernt hatten, und zudem unzählige Gründe, wachsam zu sein.“ (S. 363–364)
Mit anderen Worten: Sie waren keine jungen Christen, die es wie eine umherirrende Antilope in Serengeti erwischt hat. Nein, das waren gewaltige Löwen, die schon viele Jahre den Segen des Gehorsams erlebt hatten und denen auch die Gefahren und der Betrug der Sünde wohlbekannt waren. Sie wussten sehr wohl, wie man der Berufung würdig lebt. „Und doch sehen wir, wie furchtbar sie besiegt wurden“ (S. 364).
3. Erfahrene Leiter, die erst kürzlich neue Gnadenerfahrungen gemacht haben, kommen zu Fall
Diese beiden Beobachtungen werden noch durch eine letzte erweitert. Die Bibel zeigt uns nicht nur Gläubige, die sündigen, und erfahrene Gläubige, die sündigen. Sie zeigt uns erfahrene Gläubige, die sündigen, obwohl sie soeben erst neue Erfahrungen der Gnade Gottes gemacht haben.
Owen kommt nochmals auf Noah, Lot, David und Hiskia zurück und führt einige Bibelstellen an, um seine Aussage zu untermauern. Dann schließt er:
„Mir scheint, dass ihr Fallen zu solcher Zeit aus dem Grund zugelassen wurde, um uns allen eine Wahrheit an die Hand zu geben, die wir lernen sollen; dass nämlich niemand, zu keiner Zeit, welche Gnadenausstattung er auch aufweisen mag, sich selbst vor dieser Übermacht in Sicherheit wiegen kann, abgesehen dadurch, beständig in der Nähe dessen zu bleiben, der Möglichkeiten hat, uns mit dem Nötigen in einem Maß zu versorgen, das jenseits der Reichweite und Wirksamkeit jener Macht liegt.“ (S. 365)
Owen kommt hier also zu der Anwendung zurück, die ihm so am Herzen liegt. Ganz egal, wer du bist, ganz egal, wie viel „Erfolg“ du schon hattest, ganz egal, welche Gaben du hast – niemand von uns kann es sich leisten, vom Hirten wegzugehen und herumzustreunen.
Wie sehr sollen wir uns vor der Sünde in Acht nehmen! Wie zielstrebig uns an Gott wenden, damit er uns für den Kampf stärkt! Unsere einzige Hoffnung, dort unversehrt herauszukommen, ist, uns an Christus zu klammern. Wenn wir in unserer Nachfolge nachlässig werden oder unser Verlangen, vom Geist erfüllt zu sein, der Trägheit weicht, dann kann dabei nichts Gutes herauskommen.
Sei wachsam
Ich möchte hier keinen konkreten Vergleich anstellen zwischen den Sünden moderner christlicher Leiter und den biblischen Beispielen des Zu-Fall-Kommens. In den Berichten der Bibel finden wir einen konkreten göttlichen Kommentar zu den Ereignissen; wir sehen das Leben der Person als Ganzes; wir finden detaillierte Darlegungen ihrer Motive, der Folgen, usw.
Es gibt sehr wohl gravierende Unterschiede. Und dennoch gibt es zugleich erstaunliche Ähnlichkeiten. Allem Anschein nach genügend Ähnlichkeiten, um einige der ernüchternden Warnungen, die Owen für uns skizziert hat, ernst zu nehmen. In On Temptation, einem weiteren Teil der Trilogie, sagt er:
„Gewiss wird derjenige, der gesehen hat, wie so viele Männer, die besser und stärker waren als er, scheiterten und in der Prüfung niedergestreckt wurden, es für nötig halten, sich an den Kampf zu erinnern und wenn möglich, niemals mehr dorthin zurückzukehren.“ (S. 170)
„Nirgendwo offenbart sich die Torheit der Menschenherzen heutzutage deutlicher als in diesem verfluchten Wagemut, trotz so vieler Warnungen Gottes und so vieler trauriger Erfahrungen, die ihnen täglich vor Augen sind, den Versuchungen entgegenzueilen und sich ihnen auszusetzen.“ (S. 170)
Wenn Owen heute leben würde, hätte er sicherlich einiges dazu zu sagen, dass sich christliche Leiter aufgrund von Sünde selbst disqualifizieren. Aber eine Kerbe, in die er höchstwahrscheinlich weiterhin schlagen würde, ist eine Warnung an uns alle: Wenn Sünde und Versuchung diese Leute außer Gefecht gesetzt haben, dann lass dir das eine Erinnerung sein, in deinem Kampf wachsam zu sein. Werde nicht stolz. Rede nicht nur darüber, jemandem rechenschaftspflichtig zu sein, sondern sei es wirklich. Und vor allem: Klammere dich an Jesus. Es gibt keine andere Hoffnung.
[1] In deutscher Übersetzung ist nur der erstgenannte Band erhältlich: Von der Abtötung der Sünde (Waldems: 3L, 2017). Eine Kurzversion von On Temptation und The Mortification of Sin ist: Was jeder Christ wissen muss …: Versuchung und Sieg über Sünde (Reichshof-Mittelagger: Voice of Hope, 2018).