Gott ist keine Illusion

Rezension von Andreas Dück
2. August 2021 — 8 Min Lesedauer

Als ich das Buch Gott ist keine Illusion von Francis Schaeffer das erste Mal in den Händen hielt, machte es einen unscheinbaren, ja fast langweiligen Eindruck. Ein sehr schlichtes Cover und ein etwas altertümliches Schriftbild weckten nicht den Eindruck, dass ich mich dadurch mit relevanten Fragen beschäftigen würde. Doch je länger ich las, desto stärker wurde mir bewusst, dass ich darin als Christ und als Pastor einen wichtigen Leitfaden für eine bedeutende Frage finde: Wie erreiche ich meine Mitmenschen mit dem Evangelium?

Francis Schaeffer (1912–1984) hat mit seinen Vorträgen und Veröffentlichungen seinerzeit durchaus Anklang in der evangelikalen Welt gefunden. Dieses Buch ist eines seiner frühen und grundlegenden Werke.

Natürlich gab es seit den Anfängen des Christentums Menschen, die an Christus glaubten und welche, die es nicht taten. Obwohl im Glauben getrennt, hatten sie dennoch viel gemeinsam. Vor allem teilten sie ein und dieselbe Vorstellung über die Wahrheitsfindung. So hatten sie in Bezug auf Gott und die Glaubensinhalte sehr ähnliche Auffassungen – nur mit dem Unterschied, dass die einen Gott glaubten und die anderen ihn ablehnten. Die Aufforderung: „Tue Buße und glaube an Jesus“ konnte ohne große Vorbereitung verstanden und umgesetzt oder bewusst abgelehnt werden.

„Schaeffer ist überzeugt, dass am Ende des 19. Jahrhunderts Veränderungen eines solchen Ausmaßes einsetzten, dass Christen und Nichtchristen sich in zwei völlig verschiedenen Denkwelten wiederfanden.“
 

Schaeffer ist überzeugt, dass am Ende des 19. Jahrhunderts Veränderungen eines solchen Ausmaßes einsetzten, dass Christen und Nichtchristen sich in zwei völlig verschiedenen Denkwelten wiederfanden. Während Christen weiterhin zum Glauben an Jesus aufrufen, besteht das Problem nicht einfach im Ungehorsam, sondern in der Tatsache, dass Ungläubige den Inhalt der Botschaft schlichtweg nicht verstehen. Das tragische Ergebnis dieser misslungenen Kommunikation liegt auf der Hand: Menschen finden nicht zum Glauben. Schaeffers Anliegen ist es nun, Christen einen Zugang zur Welt seiner Mitmenschen zu geben, damit die Botschaft des Evangeliums Verstand und Herz erreicht.

Seine Vorgehensweise soll kurz dargestellt werden:

Schaeffers Methode

Zu allererst führt der Autor eine gründliche Diagnose durch. Wie kommt es zur Aufspaltung in jene beiden Denkwelten? Schaeffer skizziert den Prozess der Veränderung wie folgt: In der Philosophie werden die Grundlagen für das Umdenken gelegt. Diese Ideen werden dann in der Kunst, Musik und Kultur aufgegriffen und treiben die Transformation der Denkkultur durchschlagend voran. Zuletzt wird auch die Theologie im neuen Sinn reformiert.

Inhaltlich besteht der Bruch zum Vorherigen vor allem darin, dass die Antithese als Weg der Wahrheitsfindung zugunsten der Synthese aufgegeben wurde. Vorher galt etwa, dass entweder die These „A = wahr“ oder aber die Antithese „A = nicht wahr“ stimmt, denn die beiden Aussagen schließen einander aus. In der Synthese hingegen, werden jene beiden Thesen als Teilwahrheiten verstanden und zu einer neuen, höheren Wahrheit verknüpft. Dieser neue Weg zur Wahrheitsfindung führt zu einem folgenschweren Dilemma. Er lässt dem Menschen (als reines Zufallsprodukt) nämlich keinen Grund für Sinn und Hoffnung, doch ohne Hoffnung kann ein Mensch nicht leben. Folglich muss er sich Hoffnung aus irrationalen Quellen verschaffen. Da er seine Hoffnung nicht auf Fakten begründen kann, muss er einen „Sprung“ vollziehen, um der Sinnlosigkeit als Konsequenz seines Denkens zu entkommen. Das Weltbild des Menschen ist nun in einen rationalen und irrationalen Teil aufgespalten. Für Schaeffer führt die Spannung zwischen diesen beiden Polen den modernen Menschen in die Verzweiflung.

In diesem Denken gehört der Glaube ganz klar zum irrationalen Bereich. Er hat keinen Bezug zu realen Fakten und kann völlig beliebig sein. Mit dieser Vorstellung als Denkvoraussetzung greift die Verkündigung des Evangeliums nicht, denn die gute Nachricht scheint völlig absurd zu sein. Daher muss in einer Vorarbeit zur Verkündigung zuerst die Voraussetzung für das Verständnis des Evangeliums hergestellt werden. Nach Schaeffer geschieht dies, indem unser Gegenüber die Inkonsequenz seines gespaltenen Weltbildes begreift. Dies ist äußerst schmerzhaft, da ihm somit der Boden des Lebenssinns unter den Füßen weggezogen wird. Dann allerdings greift die Botschaft des Glaubens, in der begründete Hoffnung vermittelt wird: Gott wirkt in Raum und Zeit um uns zu retten. Gott ist keine Illusion, sondern Wirklichkeit.

Beeindruckend ist für mich Schaeffers enorme Kenntnis in den Bereichen Philosophie, Kultur und Theologie. Als Prediger ist mir bewusst, dass zu einer gelungenen Kommunikation zur Exegese der Bibel auch die Exegese des Mitmenschen gehört. Diese Kulturexegese betreibt Schaeffer sehr, sehr gründlich und liefert dazu bemerkenswerte hermeneutische Werkzeuge. Bezeichnend für sein Kunstverständnis ist für mich eine kurze Episode in einem Museum. Schaeffer fällt auf, dass ein Bild von Mondrian eingerahmt ist. Da er weiß, dass dieser seine Bilder bewusst nie eingerahmt hat, geht er bestürzt zum Direktor, um ihm deutlich zu machen, dass Mondrian sein Bild zerschmettern würde, wenn er es so vorfände. Schaeffer hatte sich intensiv mit der Botschaft des Künstlers auseinandergesetzt. Dass er sich so gut auskannte, verdankte er dem Einfluss seines Freundes Hans Rookmaaker (1922–1977), der sich als Kunstkritiker einen Namen gemacht hatte.

Wenn Schaeffer versucht, die Zerrissenheit des modernen Menschen in Kunst, Musik, Literatur und Film aufzuzeigen, habe ich hier und dort Rückfragen. Er bezieht sich beispielsweise in der Musik fast ausschließlich auf die sogenannte „ernste“ Musik[1], die jedoch nur von einer sehr kleinen intellektuellen Minderheit gehört wird. Dort kann ich seinen Beispielen sehr gut folgen, aber für die „Unterhaltungsmusik“ hat sich mir seine These nicht unbedingt auf Anhieb erschlossen.

Liebe macht den Unterschied

Schaeffer liebt seine Mitmenschen. Seine Ausführungen dienen nicht dazu, den intellektuellen Ringkampf zu gewinnen. Er leidet sichtbar mit der Zerrissenheit seiner Zeitgenossen. Er macht sich weder über seine Mitmenschen lustig noch findet man herablassendes Mitleid. Seine Überzeugung führt zur Praxis. Allein die Gesprächsbeispiele im Buch zeigen, dass Schaeffer intensive Konversationen führte, um Menschen zum Glauben an Jesus zu führen.

Er ist überzeugt, dass die Schaffung von Denkvoraussetzungen für das Evangelium entscheidend ist. Dafür muss man jeden Aufwand betreiben, der notwendig ist. Somit befasst sich der größte Teil des Buches mit eben diesem Thema. Das Evangelium muss nach Schaeffer dann sehr klar verkündet werden: Gott als Schöpfer, die Verlorenheit des Menschen, Jesu Werk am Kreuz sowie die Auferstehung und der Ruf zum Glauben – all dies jedoch nicht, ohne zuvor die Voraussetzungen geschaffen zu haben.

Schaeffer liefert überzeugende Schlüssel für die Werke vieler zeitgenössischer Theologen, Künstler und Philosophen. Seine Anmerkungen helfen, ihre Aussage zu verstehen und einzuordnen. Es öffnet sich dadurch aber auch ein Vorhang zu einer beklemmenden Leere. Für die Theologie beschreibt Schaeffer etwa den Kunstgriff liberaler Theologen, Begriffe zu gebrauchen, die im „kollektiven Gedächtnis“ einen Sinn haben (wie beispielsweise der Begriff „Gott“). Da diese Begriffe den rationalistischen Konzepten nicht entsprechen, werden sie umdefiniert. Wenn nun liberale Theologen Begriffe wie „Gott“, „Liebe“ oder „Glaube“ gebrauchen, dann lassen sie ihre Zuhörer in Bezug auf ihr Verständnis der Begriffe im Dunkeln. Der Zuhörer versteht beispielsweise unter dem Begriff „Gott“ ein persönliches Wesen, während der Sprecher mit „Gott“ eigentlich ein unpersönliches Wesen meint. Da diese Definition den Zuhörer irritieren würde, behält der Theologe sie für sich. Somit bleibt er sich treu (weil er an einen persönlichen Gott nicht glauben kann) und belässt den Zuhörer in der Illusion, es gäbe diesen persönlichen Gott. Erklärungen wie diese helfen mir, theologische Winkelzüge zu durchschauen, auch wenn es sehr ernüchternd wirkt. Fromme Sprache bedeutet leider nicht, dass dahinter ein frommes Denken steckt.

Fazit

Ich muss gestehen, dass ich einige Zeit gebraucht habe, bis ich an Schaeffers Konzept andocken konnte. Der Schreibstil wirkt sehr konzentriert und verdichtet. Es lohnt sich aber, dranzubleiben. Die vielfältigen von ihm aufgeführten Beispiele helfen, die grundsätzlichen Gedankengänge zu erfassen und zu verinnerlichen.

Das Buch erschien vor mehr als 50 Jahren (1968) und wurde 2011 nachgedruckt. Ist es vernünftig, ein derart altes Buch zum Verständnis der heutigen Zeit heranzuziehen? Absolut! Für mich ist es fast erschreckend, zu erkennen, mit welchem Scharfblick Schaeffer die Denkvoraussetzungen des heutigen Relativismus beschreibt. Seine Darstellung des innerlich zerrissenen Menschen wird mich sicher noch lange begleiten – aber auch seine Liebe zu den Menschen. Diese zeigt sich im immensen Aufwand, sie wirklich zu verstehen und zu Gott zu führen: zu dem Gott, der wirklich da ist. Besonders Christen, die einen eher intellektuellen Zugang zur Auseinandersetzung mit Nichtchristen suchen, werden in diesem Buch grundlegende Anregungen zum Nachdenken und ein leidenschaftliches Vorbild im Einsatz für Menschen finden.

Buch

Francis Schaeffer, Gott ist keine Illusion, Haus der Bibel: Genf 2011, 194 Seiten, 21 Euro.


[1] Die Einteilung ist umstritten; gemeinhin werden unter „ernster“ Musik Werke aus der Richtung Barock, Klassik, Expressionismus, minimale Musik usw. gezählt und zur „Unterhaltungsmusik“ Volksmusik wie Popmusik usw.