Predigen in einem säkularen Zeitalter

Buchauszug von John Starke
6. August 2021 — 13 Min Lesedauer
Der folgende Buchauszug stammt aus Our Secular Age (dt. „Unser säkulares Zeitalter“), herausgegeben von Collin Hansen. Anlass für das Buch war das zehnjährige Jubiläum der Veröffentlichung von Ein säkulares Zeitalter von Charles Taylor. In diesem 1300 Seiten starken Werk versucht Taylor nichts Geringeres, als die Ausbreitung des Säkularismus und den Niedergang des Glaubens in den letzten 500 Jahren zu erklären. In Our Secular Age reflektieren verschiedene Autoren, was die von Taylor erarbeiteten Veränderungen für den Auftrag der Gemeinde in der Gegenwart bedeuten. Im vorliegenden Artikel skizziert John Starke drei Elemente, die die Arbeit von Pastoren und Predigern in einem säkularen Zeitalter betreffen.

Charles Taylors Ein säkulares Zeitalter hilft dem geistlichen Leiter zu verstehen, dass unsere moderne Gesellschaft sich den „selbstgenügsamen Humanismus“ einverleibt hat. „Unter ‚Humanismus‘“, so Taylor, „verstehe ich in diesem Zusammenhang eine Einstellung, die weder letzte Ziele, die über das menschliche Gedeihen hinausgehen, noch Loyalität gegenüber irgendeiner Instanz jenseits des Gedeihens akzeptiert. Diese Beschreibung trifft auf keine frühere Gesellschaft zu” (Ein säkulares Zeitalter, S. 41).

Mit anderen Worten: Unsere Nachbarn und Mitmenschen finden Sinn und Bedeutung des Lebens nicht in irgendetwas jenseits der unmittelbaren Erfahrungswelt, jenseits von Erfolg, Sex, Macht und Beziehungen. Gleichzeitig ist jedoch ein „Unbehagen“ inmitten dieses selbstgenügsamen Humanismus zu beobachten: „Hier kann leicht das Gefühl aufkommen, daß wir etwas verpassen, von etwas abgeschnitten sind oder hinter einem Schutzschirm leben. [...] Ich denke dabei eher an ein allgemeines Unbehagen an der entzauberten, als fade und leer wahrgenommenen Welt und an ein vielgestaltiges Suchen nach etwas Innerem oder Jenseitigem, das den zusammen mit der Transzendenz verlorengegangenen Sinn wettmachen könnte.“ (S. 512)

„Auch unter den Säkularen gibt es die Versuchung zur Transzendenz. Ohne diese Transzendenz scheinen wir nicht leben zu können.“
 

Die Furcht und Angst bestehen darin, dass es „unseren Handlungen, Zielen, Leistungen und so weiter [...] an Gewicht und Gesetzlichkeit, an Dichte und Substanz – an einer tieferen Resonanz, die nach unserem Gefühl vorhanden sein sollte“ (S. 521) fehlen könnte. Auch unter den Säkularen gibt es also die Versuchung zur Transzendenz. Ohne diese Transzendenz scheinen wir nicht leben zu können.

Zugleich leben und atmen auch wir Christen in diesem säkularen Zeitalter. Dieser selbstgenügsame Humanismus wird Teil unseres eigenen Denkens, auch wenn wir uns dessen Wirkung oftmals gar nicht bewusst sind. Was Taylor über die säkulare Welt schreibt, betrifft uns auch als Kirchen. Während also die modernen, selbstgenügsamen Säkularisten versucht sind, zu glauben, sind die Gläubigen ständig versucht, selbstbestimmt zu denken und zu handeln.

Die Aufgabe des Predigers in der Moderne besteht darin, sich auf diese doppelte Versuchung zu fokussieren. Wir sprechen also die Sehnsüchte der Ungläubigen und die Verirrungen der Gläubigen an. In diesem Kontext kann Charles Taylors Buch eine Art Leitfaden für Pastoren sein, der eine unspezifische Beschreibung bietet, wie unsere Herzen durch unsere Gesellschaft geformt werden. Das Wort „unspezifisch“ ist hier nicht als Kritik gemeint. Ich beobachte jedoch, dass Pastoren und Gemeindeleiter das, was Taylor über die Gesellschaft im Allgemeinen schreibt, im Einzelnen durch persönliche Erfahrungen und Erlebnisse erkunden müssen.

Auf den 1300 Seiten von Taylors Werk lassen sich sowohl hilfreiche Narrative als auch Kategorien finden, die einen tieferen Einblick in unsere gegenwärtige Kultur gewähren. Wir leben in einem entzauberten Zeitalter und Taylor zeigt uns das Warum und Wie.

Im Folgenden soll das Vorgehen Taylors auf drei grundlegende Aspekte heruntergebrochen werden, die für Pastoren und Prediger in ihrer Arbeit von unmittelbarer Bedeutung sind: (1) Das abgepufferte Ich, (2) Das Unbehagen an der Moderne und (3) Das Zeitalter der Authentizität.

Das abgepufferte Ich

Der grundlegende Unterschied zwischen dem abgepufferten Ich der Moderne und einem durchlässigem Ich früherer Epochen ist seine Verwundbarkeit. In früheren Jahrhunderten ging man davon aus, dass wir als Menschen Angriffsflächen für Geister sind, sowohl böse als auch gute. Wir können von etwas, das jenseits des Menschlichen und Physischen liegt, beeinflusst werden, dachte man. So hat beispielsweise Martin Luther im 16. Jahrhundert bei der Übersetzung des Neuen Testaments nicht nur mit Tintenfässern nach dem Teufel geworfen, sondern auch Gemeinden betreut, die glaubten, der Wald sei von Geistern und Kobolden verhext. Die Gesellschaft der Vormoderne und Antike glaubte an eine verzauberte Welt und nahm sich selbst als verwundbar und durchlässig wahr. Diese Mächte konnten böswillig oder wohlwollend sein, heidnisch oder christlich. Ein verwundbares Ich sieht nicht nur die mögliche Gefährdung durch solche Mächte, sondern gewinnt auch Bedeutung und Sinn außerhalb von sich selbst.

Diese Verwundbarkeit ist mit dem abgepufferten Ich verloren gegangen. „Die Dinge jenseits dieser Grenze“ müssen mich „nicht erreichen“ (S. 73). „Dieses Ich kann sich selbst als unverwundbares Wesen sehen, als Gebieter der Bedeutungen, die die Dinge für es haben.“ (S. 73) Der letzte Satz ist hier entscheidend: Das Ich wird nun zum „Gebieter der Bedeutung von Dingen“. Der Glaube an Gott ist mit anderen Worten nicht ganz verschwunden, er wird jedoch nicht mehr benötigt, um Sinn und Bedeutung zu stiften. Das abgepufferte Ich ist in einen Rahmen eingebunden, „der bestimmte Formen, in denen die Transzendenz im Laufe der Geschichte auf die Menschen eingewirkt und ihr Leben geprägt hat, unterbindet oder aussperrt“ (S. 409). Noch direkter benennt Robert Bellah, was wir beobachten und spricht von „expressivem Individualismus“.

Diese Form des Individualismus sieht ihr höchstes Ziel im persönlichen, menschlichen Gedeihen. Wenn man also an einen Gott oder eine Gottheit glauben sollte, dann muss dies in erster Linie im Dienste des menschlichen Gedeihens stehen. Der moderne Mensch, ein abgepuffertes Ich, der das persönliche Wohlbefinden als höchste Verpflichtung ansieht, betrachtet dann jede Beziehung oder Verpflichtung (sowohl persönlich, zwischenmenschlich, religiös oder gemeinschaftlich) lediglich als eine Steigerung der primären Verpflichtung gegenüber dem persönlichen Gedeihen: „Man konnte also auf mehreren verschiedenen Wegen zur Ablehnung des Christentums gelangen, denn insofern es mehr verlangte als menschliches Gedeihen, war es der unversöhnliche Feind des menschlichen Wohls und leugnete zugleich die Würde der eigenständigen, abgepufferten Identität“ (S. 450).

„Das Christentum ist kein Mittel zum menschlichen Gedeihen. Das schafft natürlich einen Konflikt mit der Idee des abgepufferten Ichs.“
 

Das Christentum ist kein Mittel zum menschlichen Gedeihen. Es weist uns an, dem Ich zu sterben, andere höher zu achten als uns selbst, die andere Wange hinzuhalten, uns selbst als ein Opfer darzubringen, mit anderen zu trauern und zu weinen. Das schafft natürlich einen Konflikt mit der Idee des abgepufferten Ichs. Diese sieht sowohl Gott als auch den Nächsten als Erweiterung, die wir nutzen können, wenn es uns passt, und die wir wieder fallen lassen können, wenn sie uns zu lästig werden oder zu viele Opfer abverlangen. Das Christentum sieht diese Dinge eher als Verpflichtungen und nicht als Erweiterungen des Ichs. Sinn, Moral und Zufriedenheit kommen im Christentum von außerhalb des Ichs. Ein abgepuffertes Ich sucht all diese Eigenschaften in sich selbst.

Der heutige Gemeindeleiter oder Pastor muss erkennen, dass die Leute, mit denen sie es zu tun haben, diese Art zu Denken schon lange verinnerlicht haben und aus diesem Grund jegliche religiöse Verpflichtung als Eingriff in ihre Selbstgenügsamkeit betrachten. Wir müssen aber auch erkennen, dass unsere Gemeinden potentiell mit Menschen gefüllt sind, die ihr gegenwärtiges kirchliches Engagement und die Investition in die Gemeinde nur zur Erweiterung ihres persönlichen Gedeihens gebrauchen. Wenn diese „Erweiterungen“ beginnen, das „Gedeihen“ zu behindern, etwa weil sie zu viele Opfer verlangen und Unannehmlichkeiten fordern, wird die Versuchung groß sein, den Glauben als einen unerträglichen Eindringling in das abgepufferte Ich abzuschieben. Dies mag noch nicht mal ein bewusster oder explizit geäußerter Zustand sein. Aber genau auf diese Weise ist das Herz der westlichen Gesellschaft geformt, ganz gleich ob jemand religiös ist oder nicht.

Das Unbehagen der Moderne

Das abgepufferte Selbst bietet scheinbar manche Vorteile. Es bringt ein Gefühl der Freiheit von den traditionellen Sitten der autoritären Gesellschaften und der noch „unaufgeklärten Massen“, „das Gefühl der Kraft, der Befähigung, die es ermöglicht, Ordnung in unsere Welt und uns selbst zu bringen“, ein Gefühl der Unverwundbarkeit, das die Angst vor einer Welt voller Geister und böser Mächte nimmt, das „Gefühl der Selbstbeherrschung, der sicheren Innenwelt des Geistes“ (S. 509–510).

Dennoch hält mit dieser Freiheit auch das Gefühl Einzug, etwas zu „verpassen, von etwas abgeschnitten“ zu sein oder „hinter einem Schutzschirm [zu] leben“ (S. 512). Es ist das, was Charles Taylor ein Gefühl des „Unbehagens“ nennt, das die Welt als einen flachen, leeren Ort wahrnimmt, wo das, was wir mit unserem abgepufferten Ich gewonnen haben nicht das kompensiert, was wir mit der Transzendenz verloren haben.

„Wir suchen die Transzendenz innerhalb des immanenten Rahmens. Dies entlarvt jedoch nur die Winzigkeit unserer Realität und verstärkt das Gefühl des Verlusts.“
 

Das Gefühl des Unbehagens vertieft sich, weil wir zwar die transzendente Realität aufgegeben haben, nicht aber transzendente Gefühle und Erfahrungen. Stattdessen suchen wir die Transzendenz innerhalb des immanenten Rahmens. Dies entlarvt jedoch nur die Winzigkeit unserer Realität und verstärkt das Gefühl des Verlusts. Taylor beschreibt dieses Unbehagen in drei Formen:

Erstens haben wir Schwierigkeiten eine Bedeutung für unser Leben zu finden. Wie kommen wir zu einem „höheren Ziel“, das all die niederen Ziele transzendiert und ihnen Bedeutung gibt? Man kann das auch so beschreiben, dass unser Leben ohne einen Telos von irgendeinem transzendenten Ort außerhalb von uns selbst nur eine fragile Bedeutung hat. Führt mein Leben irgendwo hin? Ein Pastor wird unbedingt darauf hinweisen müssen, dass Sinnstiftung außerhalb eines Transzendenzverständnisses äußerst zerbrechlich ist.

Zweitens verstärken die entscheidenden Momente des Lebens, wie etwa Geburt, Heirat und Tod das Gefühl dieses Unbehagens. In unserer Tradition haben wir diese Momente feierlich begangen, indem wir sie mit etwas Transzendentem verbunden haben. „Jedoch hinterläßt die Einschließung ins Immanente hier ein Lücke. Viele Menschen, die ansonsten keinen Bezug und keine empfundene Affinität zur Religion haben, machen sich auch weiterhin das kirchliche Ritual zunutze, sobald es um diese Übergangsriten geht“ (S.524).

Drittens verspüren wir in den alltäglichen und profanen Momenten des Lebens einen Mangel. „Manche Menschen haben zum Beispiel den Eindruck, der Alltag sei schrecklich seicht; und dieser Eindruck wird vor allem mit dem Kommerz, der Industrialisierung und der Konsumgesellschaft in Verbindung gebracht. Man spürt die Leere des wiederholten, beschleunigten Zyklus von Wunsch und Erfüllung in der Konsumkultur“ (S. 524). Wir, als abgepuffertes Ich, empfinden das Unbehagen; aber weil wir nach Lösungen innerhalb des immanenten Rahmens suchen, funktionieren unsere Lösungen nicht.

„Pastoren und geistliche Leiter müssen das unbefriedigende Resultat des abgepufferten Ichs zunächst erkennen und dann der Gemeinde enthüllen.“
 

Pastoren und geistliche Leiter müssen das unbefriedigende Resultat des abgepufferten Ichs zunächst erkennen und dann der Gemeinde enthüllen. Sie müssen die Folgen des Ichs aufzeigen, das menschliches Gedeihen und Glück als höchste Verpflichtung ansieht und alle anderen gemeinschaftlichen sowie religiösen Verpflichtungen als bloße Ergänzungen wahrnimmt, die abgelegt werden können, wenn sie nicht mehr nützlich sind. Das abgepufferte Ich entfremdet uns letztlich von Sinn, Zufriedenheit, Intimität und Liebe.

Das abgepufferte Ich wurde einerseits von aller Transzendenz und aller moralischen und religiösen Verpflichtungen befreit, aber: Auf dem Weg dorthin wurde es andererseits auch von Erfüllung befreit, sodass nur noch eine nagende Traurigkeit übrig bleibt. Die pastorale Aufgabe des Seelsorgers besteht darin, den säkularen Menschen mit Fülle und Freude dazu zu verführen, Christus zu folgen. Er hatte stets die Freude vor Augen, selbst als er das menschliche Glück beiseite legte und das Kreuz ertrug (Hebr 12,2). Christen wussten schon immer, dass das persönliche Glück (bzw. die Erfüllung) ein Nebenprodukt ist. So lehrt das Christentum, dass man menschliches Gedeihen in Form von Freude als Frucht des Heiligen Geistes bekommt, wenn man sich selbst verleugnet und im Glauben und Gehorsam Anteil an Christus hat. Aber wenn man lediglich auf menschliches Gedeihen abzielt, bleibt letztlich nur ein Zustand des Unbehagens.

Das Zeitalter der Authentizität

„Nennen wir diese Epoche das Zeitalter der Authentizität“, so Taylor. Wir sind dem persönlichen menschlichen Gedeihen verpflichtet und finden dieses Gedeihen in uns selbst. Demnach muss unsere Spiritualität auch durch „authentische“ Emotionen angetrieben werden, die aus uns selbst kommen, niemals aber von bloßem Gehorsam oder „theologischer Korrektheit“ abhängig sind (S. 815). In gleicher Weise ist unsere Sexualität in erster Linie dem inneren Begehren treu und nicht den moralischen oder kulturellen Erwartungen. Anders ausgedrückt erzieht unsere säkulare Kultur unsere Herzen dazu, sich selbst treu zu sein und jede Einmischung von außen abzulehnen.

Es gibt eine Form von Authentizität, die Christen und Besucher unserer Gemeinden heutzutage anzieht, die sich aber nicht auf die christliche Ethik stützt. Sie rühmt sich der „Schwäche“ bzw. „Unordnung” des Lebens. Leiter können so allein durch das Aufzeigen der „rohen“ Elemente in ihrem Leben, die Unvollkommenheiten und der „Schönheit des Chaos“ eine Anhängerschaft gewinnen. Aber auch das ist eine Form des abgepufferten Ichs. Diese Bekenntnisse der Unvollkommenheit kommen zu unseren selbstbestimmten Konditionen. Es ist eine Laissez-faire-Geistlichkeit, die sich ihrer Schwäche rühmt, aber von Kritik und Vorwürfen abgepuffert ist. Das Christentum ist ganz anders. Zwar rühmt sich auch das Christentum der Schwäche (siehe Apostel Paulus), aber es macht das Ich fähig (anders als nur authentisch) für Veränderung und Transformation.

„Zwar rühmt sich auch das Christentum der Schwäche, aber es macht das Ich fähig für Veränderung und Transformation.“
 

Das authentische Ich spricht: „So bin ich, du musst mich so akzeptieren, wie ich bin.“ Das verwundbare Ich spricht: „So bin ich, nimm mich und verändere mich.“ Das verwundbare Ich kommt nicht nur in der Form des Bekenntnisses, sondern auch der Buße. Es sucht nicht nach dem Ich, um Macht und Zustimmung zu bekommen, sondern göttliche Hilfe und Errettung.

Keines dieser drei Elemente mag den christlichen Pastor zwingend überraschen. Die Bibel zeigt sogar, dass diese Themen eher uralt sind denn spezifisch modern. Taylor zeigt jedoch, wie sie sich heute ausdrücken und wie wir die Wahrheit Christi präziser ausrichten können. Schon die Bibel warnt uns, dass das Ich ohne den Reichtum Christi verkümmert. Taylor zeigt jedoch auf, wie Einzelne in der westlichen Gesellschaft diese Verkümmerung spüren, auch wenn sie es vielleicht nicht beschreiben können. Er gibt dem Pastor bzw. Gemeindeleiter Werkzeuge an die Hand, um ein abgepuffertes Ich mit der Fülle der Freude Christi zu locken.