Vorverständnis und postmodernes Denken

Drei Prinzipien für die Bibelauslegung

Artikel von Trevin Wax
9. August 2021 — 8 Min Lesedauer

In meinem letzten Artikel ging es u.a. um die wachsende Begeisterung von Evangelikalen dafür, Theologen und Bibelkommentare aus verschiedenen Ethnien und Kulturen heranzuziehen. Uns ist bewusst, dass sich der soziale Standort und der kulturelle Hintergrund des Auslegers auf seine Auslegung auswirkt. Daher erkennen wir, wie wichtig es ist, die Bibel in Gemeinschaft zu lesen und auf Menschen zu hören, die uns helfen können, einige unserer kulturellen Scheuklappen zu überwinden.

Gleichzeitig bieten sich uns verschiedene Spielarten der Standpunkttheorie an. Berücksichtigt man diese in der Hermeneutik, dann werden die Stimmen von Unterdrückten oder Minderheiten priorisiert, da sie aufgrund ihrer „gelebten Erfahrung“ exklusive Einsichten in den biblischen Text haben. Wenn man die Standpunkttheorie logisch zu Ende denkt, führt sie in die Ratlosigkeit: Uns wird gesagt, dass unser sozialer Standort so stark mit der Perspektive von Privilegiertheit und Unterdrückung verwoben ist, dass die Auslegung privilegierter Gruppen zwangsläufig voreingenommen (mit anderen Worten: falsch) ist. Doch man sagt uns auch, dass es sinnlos ist, nach der „objektiven“ Bedeutung eines Textes zu suchen. Schließlich sei alles Wissen ein kulturelles Konstrukt. Letztendlich sind wir Gefangene in einem kulturellen Käfig; der einzige Unterschied ist, dass bestimmte Käfige besser sind als andere.

Es mag sein, dass manche Evangelikale in dem ernsthaften Bemühen, auf christliche Ausleger aus anderen Teilen der Welt zu hören, in eine Form der Standpunkttheorie hineinschlittern. Diese wird ihnen den Zugang zu den Erkenntnissen der großen Theologen der Vergangenheit verbauen. Auf der anderen Seite kann es vorkommen, dass Evangelikale der Standpunkttheorie mit entschiedenem Widerstand begegnen, dabei aber postmoderne Probleme mit „modernen“ Mitteln bekämpfen. Das würde bedeuten, dass sie sich den Zugang zu den Erkenntnissen der weltweit unterschiedlichen Stimmen verbauen und dabei die Auswirkungen unserer Vorverständnisse, mit denen wir an Texte herangehen, kleinreden.

In diesem und den beiden folgenden Artikeln möchte ich auf Prinzipien verweisen, die uns vor diesen zwei Fehlern bewahren sollen. Das Ziel ist, versiertere Bibelleser zu werden. Wir wollen keinen Philosophien, die unsere Hingabe an die Autorität des Wortes Gottes untergraben (ob nun modern oder postmodern), auf den Leim gehen.

1. Wir sollten die Distanz, die zwischen uns und dem Bibeltext liegt, weder unter- noch überschätzen.

Ein evangelikales Standardwerk zur Bibelauslegung ist The Hermeneutical Spiral von Grant Osborne. Er nennt vier Bereiche, in denen eine solche Distanz vorliegt und die für uns eine Herausforderung sind, wenn wir Gottes Wort richtig verstehen wollen:

  1. Zeit
  2. Kultur
  3. Geografie
  4. Sprache

Unsere Überzeugung von der „Klarheit“ der Schrift steht gründlicher Forschungsarbeit nicht entgegen, mit der wir uns bemühen, die Distanz zwischen unserer heutigen Welt und der damaligen biblischen Situation zu verringern. Wenn wir uns zur Klarheit der Schrift bekennen, bezeugen wir damit folgende Wahrheit: Alles, was „zu erkennen, zu glauben und zu beobachten zum Heil notwendig“ ist, ist klar genug, so dass jeder – ob gelehrt oder ungelehrt – die Schrift lesen und studieren und so zu einem hinreichenden Verständnis gelangen kann.[1] Die Lehre von der Klarheit der Schrift bedeutet jedoch nicht, dass alles in der Bibel gleichermaßen klar ist oder dass das gründliche Studium von kulturellen, geografischen und sprachlichen Unterschieden überflüssig wäre.

Wenn Evangelikale sich der Standpunkttheorie oder dem Gedanken, dass wir zur Verbesserung unseres Bibelverständnisses auf Stimmen aus anderen Kulturen und Hintergründen hören sollten, widersetzen, laufen sie Gefahr, in den schottischen Common-Sense-Realismus zurückzufallen. Dieser war laut Osborne der Ansicht, dass „die Textoberfläche genügt, um aus sich heraus Bedeutung zu erzeugen. Daher ignorierte man, dass hermeneutische Prinzipien nötig sind, um die kulturelle Kluft zu überwinden, und individualistische Auslegungen nahmen überhand“. Wenn wir uns richtigerweise postmodernen interpretativen Theorien widersetzen, dann sollten wir achtgeben, dies nicht zu tun, indem wir moderne und aufklärerische interpretative Theorien verfechten, die ihre eigenen Probleme mit sich bringen.

Während es Christen gibt, die diese Distanzbereiche unterschätzen, gibt es auch Christen, die sie überbewerten: In ihren Augen darf bzw. kann keine Auslegung im Vergleich zu einer anderen als besser eingestuft werden. (Um dieses Problem der Überbewertung wird es im nächsten Artikel dieser Serie gehen.)

2. Wir alle gehen mit einem Vorverständnis an den biblischen Text heran.

Osborne fordert uns auf, die „Auswirkungen unseres kulturellen Erbes und unserer Weltanschauung auf die Auslegung“ zu berücksichtigen. „Die Wissenssoziologie erkennt den Einfluss der gesellschaftlichen Werte auf jegliche Wahrnehmung der Realität. Dies ist ein entscheidender Faktor, um dem Stellenwert des Vorverständnisses im Auslegungsprozess auf den Grund zu gehen.“

Niemand tritt als unbeschriebenes Blatt an den Text heran. Wir bringen immer schon bestimmte Fragen und Annahmen mit.

Ajith Fernando erläutert z.B. eine Reihe von Unterschieden zwischen dem Denken in Schuld/Vergebung-Strukturen und in Ehre/Schande-Strukturen. Esther Acolatse weist in ihrem Buch Powers, Principalities, and the Spirit auf die Herausforderung unterschiedlicher Denkvoraussetzungen hin: Egal, ob wir in Nordamerika oder im Globalen Süden wohnen – wir neigen dazu, die biblische Rede von den Mächten und Gewalten in Denksysteme bzw. Weltanschauungen einzupassen, die der Schrift fremd sind. In Nordamerika ist es die Aufklärung, die beim Lesen das Verständnis beeinflusst, im Globalen Süden ist es der Dualismus. Acolatse versucht, unsere Weltanschauung zu hinterfragen und fordert dabei sowohl die Bibelleser des Westens, als auch die des Globalen Südens heraus.

In ähnlicher Weise verweist auch das Buch Misreading Scripture with Individualist Eyes von E. Randolph Richards und Richard James darauf, wie wir mit unseren konzeptuellen Kategorien – die von individualistischen Intuitionen geprägt sind – leicht Aspekte der biblischen Geschichten übersehen, die auf jene alten Kulturen zurückgehen. Um nochmals das Gleichnis vom verlorenen Sohn als Beispiel zu erwähnen: Es ist nicht nur so, dass Russen mit höherer Wahrscheinlichkeit als Amerikaner die Hungersnot erwähnen werden, wenn sie die Geschichte nacherzählen. Sie sehen den unerhörten Fehler des Sohnes auch eher in seiner Forderung nach Unabhängigkeit (also in seinem Bruch mit der Familie). Dagegen ist es bei Amerikanern wahrscheinlicher, dass sie die Verschwendung seiner Mittel und den Verlust der finanziellen Eigenständigkeit als die Hauptursache für die Verzweiflung des Sohnes hervorheben. Unterschiedliche Kulturen beleuchten diese Geschichte unterschiedlich, was zum Teil dem Vorverständnis geschuldet ist, mit dem wir an den Text herangehen.

„Die Bibel ist nicht frei von Kultur. Ebenso wenig sind es Bibelleser.“
 

Die Bibel ist nicht frei von Kultur. Ebenso wenig sind es Bibelleser. David Clark erinnert in seiner meisterhaften Methodologie der Theologie To Know and Love God Evangelikale daran, dass „unser Denken unsere Kultur widerspiegelt. Wir können allzu schnell so tun, als wäre unsere Theologie frei von kulturellen Elementen, selbst wenn wir – darauf angesprochen – zugeben, dass das nicht stimmt.“

Aber bedeutet das nun, dass jegliche Bibelauslegung in einem kulturellen Gefängnis festsitzt? Heißt das Vorhandensein von Vorverständnissen, dass es unmöglich ist, zu einem wahren und unverstellten Verständnis des Textes zu gelangen? Keineswegs, und das bringt mich zu einem dritten Punkt.

3. Nicht jeder Anspruch, etwas zu wissen, steht im Dienst von Machtgewinn oder -erhalt.

Im Jahr 2007 traf sich in Limuru (Kenia) eine Arbeitsgruppe, die Teil der weltweiten Lausanner Bewegung ist. Sie wies darauf hin, dass der Postmodernismus nur insofern als Verbündeter der Evangelikalen betrachtet werden kann, als er „die modernen Mythen von vollständigem Wissen und menschlichem Fortschritt“ entlarvt. Die Postmoderne hat die Selbstüberschätzung der Aufklärung durchbrochen und das ist für Evangelikale ein Grund zur Freude.

Weiter stellt das Lausanner Dokument fest: Der Postmodernismus sei jedoch „radikal skeptisch, dass der Mensch fähig ist, Wissen zu erlangen, und betrachtet den Anspruch, Wissen zu besitzen, als den Versuch, sich Macht zu verschaffen“. Aus diesem Grund müssen sich Evangelikale der Standpunkttheorie widersetzen. Und zwar nicht deswegen, weil wir uns in eine aufklärerische Festung der absoluten Gewissheit zurückziehen wollten, sondern weil wir glauben, dass „die Bibel unsere Fähigkeit, teilweise – wenn auch nicht vollständig – zu wissen, bejaht“.

Dazu nochmals David Clark:

„Evangelikale Theologie in ihrer besten Form wird anerkennen, dass die Perspektive jegliches Denken beeinflusst. Und eine maßvolle Dekonstruktion allzu selbstbewusster modernistischer Ansprüche dient nur zum Guten. Aber eine angemessene evangelikale Theologie erkennt auch, dass bewusste Strategien nötig sind, um zu verhindern, dass die kulturelle und historische Verortung die Theologie im Denken einer bestimmten Zeit gefangen hält.“

Man beachte, wie Richardt Lints in einem hervorragenden Kapitel von The Enduring Authority of the Christian Scriptures zunächst bestätigt, dass Vorverständnisse etwas Reales sind:

„Jegliche Auslegung ist von den einzigartigen Erfahrungen des Auslegers geprägt. Teil dieser einzigartigen Erfahrungen sind der soziale Standort und der kulturelle Kontext des Auslegers. Was jemand sieht, wird davon beeinflusst, was jemand zu sehen erwartet. Diese Erwartungen wiederum werden durch das komplexe Zusammenspiel von individuellen und sozialen Ausrichtungen geformt.“

Doch dann erklärt Lints, dass das Vorverständnis ein echtes Verstehen des Textes nicht ausschließt. Ebenso wenig werden durch die Anerkennung, dass es Vorverständnisse gibt, sämtliche Auslegungen relativiert.

„Dieser Teil des kulturellen Narrativs scheint es mit sich zu bringen, dass wir alle Auslegungen für gleich gültig halten müssen, oder dass eine Auslegung nicht aus der Perspektive anderer kultureller Standorte kritisiert werden kann. Aber die größere Geschichte, innerhalb derer unsere speziellen Narrative menschlichen Wissens stattfinden, deutet in die entgegengesetzte Richtung. Auslegungen wurden nicht alle ‚gleich erschaffen‘. Es gibt bessere und schlechtere kulturell beeinflusste Lesarten.“

Dieser letzte Punkt verdient weitere Aufmerksamkeit. Eine Vielfalt von Auslegungen impliziert noch keinen hermeneutischen Relativismus. Wir werden uns im nächsten Artikel damit befassen, weshalb es so wichtig ist, diese Wahrheit im Blick zu behalten, damit wir weder in die Standpunkttheorie abgleiten, noch uns in eine aufklärerische Gewissheit zurückziehen.


[1] Thomas Schirrmacher, Der evangelische Glaube kompakt: Das Westminster Glaubensbekenntnis von 1647, Neuhausen-Stuttgart: Hänssler, 1998. S. 36 (Art. 1.7).