Wie Christen im öffentlichen Raum argumentieren können
Es gab Zeiten, in denen die christlichen Werte von den Menschen des Westens als richtungsweisende Norm betrachtet wurden. Man fand sie einleuchtend und nicht von der Hand zu weisen. Seien es die allgemeinen Menschenrechte, Nächstenliebe oder die Fürsorge für Benachteiligte – im Großen und Ganzen wurden diese Werte als „Goldstandard“ angesehen.
Aber das ist heutzutage immer seltener der Fall.
Unsere Gesellschaft entfernt sich von einer christlich geprägten Sicht auf moralische Fragestellungen, und daher sind einige der christlichen Standpunkte inzwischen umstritten. Man denke nur an heiße Eisen wie Abtreibung und Sterbehilfe, von dem Themenkomplex rund um Gender und Sexualität ganz zu schweigen. Als Reaktion darauf könnten sich Christen nun aus den Werte-Debatten zurückziehen (oder in manchen Fällen auch zum Schweigen gebracht werden). Vielleicht beschließen wir bei uns selbst, dass die Sache den darauf folgenden Kampf oder sogar Hass einfach nicht wert ist.
Aber wir sind als Gottes Volk dazu berufen, unseren Nächsten zu lieben und dort, wo wir Gelegenheit haben, den Menschen um uns herum Gutes zu tun (Gal 6,10). Dazu gehört oft auch, sich für Gerechtigkeit und das Wohlergehen anderer einzusetzen (vgl. Mi 6,8), ob nun an den Schulen unserer Kinder, an unserem Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder auf der politischen Ebene.
Aber wie können wir uns als Christen in diesen Kontexten einbringen, wenn doch unsere Ansichten zunehmend abgelehnt werden? Wie können wir für eine Gerechtigkeit eintreten, die sich mehr an Gottes Maßstäben orientiert als an den Maßstäben unserer Kultur?
Ich lese momentan ein Buch, in dem diese Problematik behandelt wird: How The Nations Rage – Rethinking Faith and Politics in a Divided Age (dt. etwa: „Wie die Völker toben – Glauben und Politik in einer gespaltenen Zeit neu überdenken“) von Jonathan Leeman.[1] Leeman hat einiges dazu zu sagen, wie wir uns in unserer Gesellschaft verhalten sollten, und seine Perspektive ist es wert, sich damit zu befassen.
Wenn es darum geht, im öffentlichen Raum moralische Fragen zu diskutieren, bezeichnet Leeman sich selbst als einen „prinzipientreuen Pragmatiker“:
„Nutze für das Ziel der biblischen Gerechtigkeit und innerhalb der Grenzen der biblischen Moral (prinzipientreu) alle Argumente, die funktionieren (Pragmatiker).“[2]
Mit anderen Worten: Wenn wir in unserer Gesellschaft biblische Gerechtigkeit anstreben, dann steht es uns frei, verschiedene Arten von Argumenten zu verwenden, um andere zu überzeugen (so lange sich diese Argumente innerhalb der Grenzen biblischer Moral befinden). Natürlich gibt es keine Garantie, dass diese – oder überhaupt irgendwelche – Argumente Nichtchristen überzeugen werden. Aber sie können uns helfen, weise und treu zu handeln, besonders in unserer pluralistischen Demokratie.
Dies sind nun die vier unterschiedlichen Arten von Argumenten:
1. Der Luther-Ansatz: Die Berufung auf das Gewissen
Wer so argumentiert, beruft sich auf sein Gewissen als Grund, weshalb er etwas tut oder nicht tut. Die Stärke dieses Arguments liegt darin, dass man sich auf etwas beruft, das in unserer westlichen Gesellschaft immer noch hochgehalten wird (jedenfalls zu einem gewissen Grad): die Überzeugung, dass man das Gewissen eines anderen nicht beschweren darf – die Gewissensfreiheit. Auch wenn diese Freiheit abnimmt (vor allem im Bereich der Sexualität), so ist sie momentan doch noch vorhanden.
Dieses Argument kann helfen, sich (und/oder anderen) Freiraum zu verschaffen, um sich an bestimmten Aktivitäten nicht beteiligen zu müssen.
Es gibt viele Bereiche, in denen eine solche Argumentation für Christen sinnvoll sein kann – ob es nun darum geht, ihre Kinder von bestimmten Arten des Sexualkunde-Unterrichts abzumelden, oder ob ein Arzt sich weigert, Abtreibungen vorzunehmen.
2. Der „Naturrechts“-Ansatz in Anlehnung an Martin Luther King
Leeman schreibt:
„Ein Naturrecht beruft sich auf ein externes transzendentes Gesetz; dabei wird aber vorausgesetzt, dass jeder Mensch es auf solche Weise wahrnehmen kann, dass er es anerkennt. Dies war der Ansatz von Bewegungen wie der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Martin Luther King berief sich darauf, als er schrieb: ‚Ein gerechtes Gesetz ist ein von Menschen gemachter Kodex, der mit dem Moralgesetz oder dem Gesetz Gottes übereinstimmt. Ein ungerechtes Gesetz dagegen ist ein Kodex, der mit dem Moralgesetz nicht harmoniert.‘“[3]
Die meisten säkularen Nichtchristen sind nach wie vor der Meinung, dass Moral nicht etwas rein Subjektives ist, sondern dass sie auf zeit- und kulturübergreifend gültigen Grundsätzen beruht. So beispielsweise, dass es immer falsch ist, unschuldiges Leben zu töten – selbst wenn die jeweilige Regierung oder Kultur das für zulässig erklären sollte (z.B. im NS-Staat). Christen können sich daher auf Richtlinien wie die von der UNO verabschiedete, internationale Erklärung der Menschenrechte berufen. Dort wird versucht, solche unveräußerlichen Rechte einschließlich der Rede- und Religionsfreiheit zu formulieren.
Hier ist ein Beispiel dafür zu finden, wie ich Religionsfreiheit unter Berufung auf die Versammlungsfreiheit verteidigt habe – da letztere von säkularen Menschen als ein unveräußerliches Recht für andere Minderheiten betrachtet wird.
3. Der evidenzbasierte Ansatz
Dabei handelt es sich um einen soziologischen Ansatz, nämlich vielfältiges Datenmaterial zu verwenden, um eine Aussage zu belegen. Entsprechend können Christen beispielsweise auf diese Weise argumentieren, um für solide Religionsfreiheit zu werben: Sie können darauf verweisen, dass Religionen (wie das Christentum) sowohl diejenigen, die sie praktizieren, wie auch auf die Gesellschaft als Ganze positiv beeinflussen.
Die Schwäche dieser drei Ansätze
Die bisher genannten Ansätze können bei verschiedenen Gelegenheiten hilfreich sein, da sie auch für Nichtchristen nachvollziehbar sind. Sie beruhen auf einer gemeinsamen Basis, die wir mit anderen – unabhängig von ihrer Weltanschauung – teilen. Und so sind diese Ansätze für unsere pluralistische Demokratie gut geeignet.
Und doch haben sie laut Leeman eine gemeinsame Schwäche:
„Allen dreien fehlt es an Überzeugungskraft, weil gerade ihr Vorzug – eine gemeinsame Basis zu finden – unsere moderne Intuition bestätigt, dass jegliche Autorität und moralische Legitimität auf der Zustimmung des einzelnen Individuums beruht. Wenn man es nicht schafft, mich davon zu überzeugen, dass etwas für meine Begriffe wahr ist, dann muss es nicht wahr sein. Daher liegt es bei dir, mich zu meinen Bedingungen zu überzeugen. Ironischerweise birgt gerade der Versuch, jemanden zu überzeugen, die Gefahr, dass sich Menschen noch tiefer in ihrer Überzeugung, recht zu haben, verhärten.“[4]
Es ist ein bisschen, als ob wir ein Spiel spielen, dessen Regeln besagen: „Du musst mich überzeugen, sonst kann es nicht wahr sein.“ Es ist ein riskantes Spiel, denn der Schuss kann nach hinten losgehen. Aber es hat seine Berechtigung.
4. Der Polykarp-Ansatz
Aber es gibt im Unterschied zu diesen ersten drei Arten von Argumenten noch eine vierte Art, die Leeman den Polykarp-Ansatz nennt:
„Polykarp war im 2. Jhdt. Pastor in Smyrna (heutige Türkei). Er wurde 155 n.Chr. verhaftet und von einem römischen Prokonsul aufgefordert, den Kaiser zu verehren und Christus zu verfluchen. Polykarp antwortete: ‚Sechsundachtzig Jahre diene ich ihm, und er hat mir nie ein Leid getan; wie könnte ich meinen König und Erlöser lästern?‘“
Er berichtet weiter:
„Der Prokonsul drohte ihm damit, ihn auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Doch Polykarp antwortete, der Prokonsul könne lediglich ein Feuer anzünden, das für kurze Zeit brennt. Gott drohe aber ihnen beiden mit einem ewigen Feuer, das niemals verlöscht. So befahl der Prokonsul, ihn zu töten, und Polykarp wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“[5]
Polykarp versuchte nicht, den römischen Konsul mit einem der drei oben genannten Argumente zu überzeugen, sondern er erklärte einfach, dass sein Handeln vom Glauben an Christus bestimmt ist.
„Jeder moralische Standpunkt ist im Kern ein ‚religiöser‘ Standpunkt, da solche stets auf einer Reihe von unterschwelligen Glaubenssätzen basieren.“
Allerdings: Wenn wir erklären, dass unser Handeln von unserem Glauben an Jesus bestimmt wird, dann werden wir in öffentlichen Diskussionen wohl nicht besonders viel Begeisterung ernten. Aber die Treue zu Christus – ganz zu schweigen von der intellektuellen Redlichkeit – wird dies oft erfordern.
Abgesehen davon müssen wir erkennen, dass jeder moralische Standpunkt im Kern ein „religiöser“ Standpunkt ist, da solche stets auf einer Reihe von unterschwelligen Glaubenssätzen basieren. Wir alle verhalten uns „religiös“, wenn wir moralische Positionen vertreten – von der säkularen Pro-Choice-Feministin bis hin zu jenen, die die Scharia einführen möchten. Es ist unmöglich, moralische Positionen zu beziehen, ohne von unterschwelligen Glaubenssätzen motiviert zu sein. Daher ist die Öffentlichkeit kein „neutraler“ Raum, sondern ein Kriegsschauplatz der Götter, von denen jeder versucht, sich durchzusetzen.
Ehrlichkeit und Weisheit im öffentlichen Raum
Zusammenfassend kann gesagt werden: Angesichts der Zeit und des Ortes, in die Gott uns gestellt hat – in eine pluralistische Demokratie –, werden wir gut daran tun, diese unterschiedlichen Arten von Argumenten zu verwenden, um unsere Gesellschaft möglichst davon zu überzeugen, Schritte in Richtung Gerechtigkeit zu gehen.
Aber wir werden ebenfalls gut daran tun, offen und ehrlich zu sagen, was uns zu unseren Standpunkten motiviert – die Treue zu Jesus Christus –, bevor wir dazu übergehen, den Menschen darzulegen, weshalb unsere Version von Gerechtigkeit zu den besten Gesetzen führen wird.[6]
[1] Jonathan Leeman, How the Nations Rage – Rethinking Faith and Politics in A Divided Age, Nashville, Tennessee: Thomas Nelson, 2018.
[2] Leeman, How the Nations Rage, S. 181.
[3] Zitiert in Leeman, How the Nations Rage, S. 183.
[4] Leeman, How the Nations Rage, S. 184 (Hervorhebungen im Original).
[5] Leeman, How the Nations Rage, S. 185.
[6] Leeman, How the Nations Rage, S. 186.