Wusstest du, dass Spurgeon mit Depressionen zu kämpfen hatte?

Artikel von Michael Reeves
31. Januar 2022 — 11 Min Lesedauer

Eine überraschende Tatsache

Es mag für manchen eine Überraschung sein, dass Charles Spurgeon sein Leben lang gegen Depressionen kämpfte. Er hat den Ruf eines angesehenen und kraftvollen Predigers, man kennt seinen beschwingten Humor, sieht ihn als gestandenen, Zigarre rauchenden Mann. Das kann uns zu der Annahme verleiten, es könne in der Rüstung dieses viktorianischen Engländers keine Schwachstelle gegeben haben. Doch eigentlich sollte es uns nicht überraschen: Inmitten einer gefallenen Welt voller Leben zu sein, muss Kummer bedeuten. Und tatsächlich gab es in Spurgeons Leben reichlich körperlichen und seelischen Schmerz.

Im Alter von 22 Jahren war er bereits Pastor einer großen Gemeinde und hatte zu Hause für Zwillingsbabys zu sorgen. Als er in der Surrey Gardens Music Hall vor Tausenden von Menschen predigte, geschah es: Scherzbolde riefen „Feuer!“ und lösten dadurch eine Massenpanik aus. Bei dem Versuch, das Gebäude zu verlassen, wurden sieben Menschen getötet und 28 schwer verletzt. Spurgeon war danach nicht mehr derselbe wie zuvor. Seine Frau Susannah schrieb: „Die Verzweiflung meines Geliebten war so tief und stark, dass die Herrschaft des Verstandes zu wanken schien; bisweilen fürchteten wir, er würde niemals wieder predigen.“[1]

Ab seinem 33. Lebensjahr wurden körperliche Schmerzen zu einem bedeutenden und dauerhaften Teil seines Lebens. Er litt an einer brennenden Nierenentzündung namens Brightsche Krankheit, außerdem an Gicht, Rheuma und Neuritis. Die Schmerzen waren so stark, dass sie ihn bald während eines Drittels seiner Zeit am Predigen hinderten. Zudem begannen Überarbeitung, Stress und Schuldgefühle wegen des Stresses ihren Tribut zu fordern. All dies fand vor den Augen der Öffentlichkeit statt und wurde von seinen vielen Kritikern gerne aufgegriffen – was die Sache nicht gerade erleichterte. Wie zu erwarten war, behaupteten sie, die Leiden seien Gottes Gericht.

Schmerzen, Machtkämpfe, Gegenwind und Überarbeitung (außerdem Verluste wie der seines kleinen Enkels) machten ihm schwer zu schaffen, wenn auch in Wellen. Und zwar in einem solchen Maß, dass man bei ihm heute mit ziemlicher Sicherheit eine klinische Depression diagnostizieren und ihn medikamentös und therapeutisch behandeln würde. Die Depression konnte ihn so stark ergreifen, dass er einmal sagte: „Ich könnte mit Hiob sagen, ‚daß ich lieber erwürgt sein möchte, lieber den Tod sähe als dies mein Gerippe‘ (Hiob 7,15; MENG). Ich hätte bereitwillig Hand an mich legen können, um dem Elend meines Geistes zu entkommen.“[2]

Leiden und Dienst

Bei alledem war Spurgeon überzeugt, dass Gott durch all dies Leiden ein gutes Ziel verfolgte, und er hatte das Gefühl, dadurch ein besser vorbereiteter und mitfühlenderer Pastor geworden zu sein. Auf dieser Grundlage konnte er vor seinen Studenten eine bemerkenswerte und äußerst ungewöhnliche Vorlesung mit dem Titel „The Minister’s Fainting Fits“ (dt. etwa: Die Ohnmachtsanfälle eines Geistlichen) halten. Dabei sagte er:

„Ich weiß aus schmerzlicher Erfahrung, was es um diese Niedergeschlagenheit ist, denn ich leide oft darunter; darum denke ich, es könnte für manchen meiner Brüder tröstlich sein, meine Gedanken darüber zu erfahren; junge Leute können daraus lernen, daß ihnen nichts Sonderliches widerfährt, wenn sie einmal eine Zeit lang bedrückt sind, und traurige Herzen können sehen, daß einer, dem die Sonne freundlich strahlt, doch nicht immer im Licht gewandelt hat.“[3]

Wichtiger, als von dieser Melancholie frei zu werden, war für Spurgeon, Gottes Ziel in diesen Gegebenheiten zu verstehen, um Nutzen aus dieser Erfahrung ziehen zu können. Die Schrift zeigt sehr deutlich, dass Gott die Gläubigen durch Leiden läutert wie Gold im Schmelzofen (vgl. 1Petr 1,6–7). Doch, so schreibt Spurgeon, „wenn das Gold weiß, warum und wozu es im Feuer ist … wird [es] dem, der es läutert, dafür danken, dass er es in den Schmelztiegel gelegt hat, und es wird selbst in den Flammen süße Zufriedenheit finden“.[4]

„Erwartest du, mit Gold gekrönt zu werden, wenn er mit Dornen gekrönt wurde? Sollen für dich Lilien wachsen und Disteln für ihn?“
 

Spurgeon erkannte, dass unser himmlischer Vater den Gläubigen Leiden verordnet. Mögen unsere Prüfungen auch von der Welt, dem Fleisch und dem Teufel ausgehen, sie werden von Gott, der das letzte Wort hat, angeordnet. Gott betrachtet sie als einen wichtigen Teil unseres neuen Lebens in Christus.[5] So können wir Christus z.B. einfach nicht ähnlich sein, wenn wir nicht auch so behandelt werden wir er – wenn wir ein leichtes Leben haben, während er so viel Schmerz erlitt. „Erwartest du, mit Gold gekrönt zu werden, wenn er mit Dornen gekrönt wurde? Sollen für dich Lilien wachsen und Disteln für ihn?“[6]

Theologie für die Leidenden

Das alles scheint sich nach schlechten Nachrichten für Gläubige anzuhören, denn wer möchte schon leiden? Doch Spurgeon studierte das Leben von bedeutenden Männern. Dadurch kam er zu dem Schluss, dass diejenigen, die sich nie durch Wogen von Problemen kämpfen müssen, keine solche Stärke und Reife erlangen wie die, die das tun müssen. Wer nur Wohlleben kennt und nie die Erziehung durch Schwierigkeiten erfährt, neigt stets dazu, in seinem Glauben zerbrechlicher und schwächer zu sein. Deshalb ist es aufs Ganze gesehen „gut für einen Menschen, das Joch zu tragen; es ist gut für einen Menschen, gegen die Wogen anzukämpfen; es ist gut für einen Menschen, durch Feuer und Wasser zu gehen und auf diese Weise erhabene Lektionen zu lernen“.[7] Schwierigkeiten können stark machen. Und Schwierigkeiten können aufdecken, was in uns noch getan werden muss. Spurgeon lernte durch eigene Erfahrung, dass Tränen uns einen klareren Blick schenken können, sodass wir mit besserem Sehvermögen und neuer Perspektive schauen. Verluste zeigen uns die Unzulänglichkeit all der Dinge um uns herum, die uns so viel bedeuten, und wir gelangen dahin, die Allgenugsamkeit Christi mehr zu schätzen.

Als Pastor achtete er sehr sensibel darauf, wie man diese Theologie Menschen vermitteln kann, die von Schmerz gepeinigt werden. Vor denen, die wanken und weinen, kann man nicht kühl referieren, auf welche Weise ein Gläubiger aus Leid Gewinn ziehen kann. Es gibt Zeiten, in denen man sich einfach zu einem Menschen setzen und mit ihm weinen sollte. Und doch erkannte er, dass das Wissen um Gottes väterliche Vorsehung für alle Gläubigen – unabhängig von ihrem emotionalen Zustand – einen wunderbaren Trost bereithält.

Wenn Christen mitten im Leid stecken, muss ihnen Gottes liebevolle und mächtige Vaterschaft vor Augen geführt werden. Doch ebenso müssen sie hören, auf welche Weise Leid ein Bundeszeichen ist. Von Natur aus meinen wir schnell, Leid müsse bedeuten, dass Gott gegen uns ist oder dass seine Liebe und Fürsorge für uns irgendwie nachgelassen haben. Aber so ist es nicht. „Niedergeschlagenheit des Geistes ist kein Anzeichen für schwindende Gnade; gerade der Verlust von Freude und fehlende Gewissheit kann mit dem größten Fortschritt im geistlichen Leben einhergehen.“[8] Wir sollten uns daher nicht zu leicht von unseren Problemen entmutigen lassen. In einer kaputten Welt werden uns Freunde im Stich lassen, werden wir verletzt, spüren wir unsere Schwäche und Leere. Aber nichts davon ist ein Zeichen dafür, dass uns unser Vater vergessen oder verlassen hätte oder dass wir vielleicht nicht mehr gebraucht würden.

Bewältigungsstrategien

Ab 1871 versuchte Spurgeon jeden Winter, der Dunkelheit, Kälte und dem Schmutz Londons zu entfliehen und sich nach Mentone an der Französischen Riviera zurückzuziehen. Die milde Wärme und das Licht belebten auf natürliche Weise seinen Körper und Geist. Und wenn er nicht so weit reisen konnte, brachte ihm ein einfacher Spaziergang in der Natur Hilfe. Aus seiner Sicht waren auch Zigarren ein akzeptables und angenehmes Mittel der Entspannung, wenn das Leben ansonsten erdrückend war. „Ich war Gott dankbar“, schrieb er an den Daily Telegraph, als „ich feststellte, dass die starken Schmerzen nachließen, dass ein müder Kopf Ruhe fand und mir eine Zigarre einen ruhigen, erfrischenden Schlaf verschaffte.“[9]

„Statt uns in solchen Zeiten um ein gründliches Verständnis des ‚Was‘ und ‚Warum‘ unserer Situation zu mühen, sollten wir einfach an Gottes Verheißungen festhalten.“
 

Abgesehen davon, dass er seelisch Leidenden solche Mittel der körperlichen Linderung empfahl, mahnte Spurgeon zu Geduld und Vorsicht, die Situation in irgendeiner Weise zu deuten. Er wusste: Wenn wir angeschlagen und deprimiert sind, denken wir schnell, die Gnade hätte uns verlassen oder unser Leben sei sinnlos geworden. Statt uns in solchen Zeiten um ein gründliches Verständnis des „Was“ und „Warum“ unserer Situation zu mühen, sollten wir einfach an Gottes Verheißungen festhalten. Sie besitzen zu allen Zeiten eine objektive Wahrheit, die nicht davon abhängig ist, ob wir diese Wahrheit auch fühlen können. Gottes Verheißungen sind wie ein Licht, das von unserer Finsternis nicht überwunden werden kann. Sie sind ein unerschütterlicher und unendlicher Trost jenseits unserer endlichen Schwierigkeiten und Zweifel. Susannah Spurgeon ließ aus diesem Grund Matthäus 5,11–12 rahmen, um diesen Text täglich in ihrem Schlafzimmer vor Augen zu haben: „Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und lügnerisch jegliches böse Wort gegen euch reden um meinetwillen! Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß im Himmel; denn ebenso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch gewesen sind.“

Trost in Christus

Wenn Pastoren sich um Niedergeschlagene kümmern, dann verweisen sie sie in der Regel auf die Auferstehung und den Sieg Christi. Auch für Spurgeon war der Gedanke ein wichtiger Trost, dass der Tod besiegt ist, dass die Tränen abgewischt werden und dass wir anstelle der Helme und Schwerter unseres Kampfes Kronen und Palmzweige erhalten werden. Doch in der Seelsorge an den Leidenden und Depressiven scheint er zumeist die Menschen auf Christus, den Gekreuzigten, auf ihn als Mann der Schmerzen hingewiesen zu haben.

Spurgeon stellte für sich selbst fest, dass in Zeiten großen Schmerzes das „Mitleiden Jesu die zweitkostbarste Sache nach seinem Opfertod ist“.[10] Daher berief sich Spurgeon immer wieder auf den Gedanken von Christi Mitgefühl mit seinem leidenden Volk. Zum Beispiel sprach er 1890, als er seine eigene Schwäche spürte, in einer Predigt mit dem Titel „The Tenderness of Jesus“ (dt. etwa: Die Sanftmut Jesu) über Christus als den Hohenpriester, der mit unseren Schwachheiten mitfühlt. Er sagte:

„An diesem Morgen, an dem ich selbst mehr als sonst mit Schwächen behaftet bin, möchte ich als schwacher und leidender Prediger über jenen Hohenpriester sprechen, der voller Mitgefühl ist. Und mein Wunsch ist, dass jeder, der niedergeschlagen, matt, verzagt oder gar vom Weg abgekommen ist, sich ein Herz fasst und sich an den Herrn Jesus wendet …
… es ist nicht euer Gefühl von Stärke, sondern eure Schwäche, die Jesus bewegt. Armselige, schwache Nichtse hier unten berühren das Herz ihres großen Hohepriesters in der Höhe, der mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist. Wie eine Mutter mit der Schwachheit ihres Säuglings mitfühlt, so fühlt Jesus mit den Ärmsten, Traurigsten und Schwächsten unter seinen Erwählten.“[11]

Leiden bringen uns daher nicht nur dazu, uns Christus zu nähern, indem wir ihm ähnlicher werden und uns in höherem Maß auf ihn stützen. In solchen Zeiten kommt Christus uns nahe, um mit seinem Volk durch den Schmelzofen zu gehen. Und nicht nur, um mit uns zu gehen, sondern um uns hindurchzutragen.


[1] Charles Ray, „The Life of Susannah Spurgeon“, in: Morning Devotions by Susannah Spurgeon: Free Grace and Dying Love, Edinburgh: Banner of Truth, 2006, S. 166.

[2] C.H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, Bd. 36, London: Passmore & Alabaster, 1855–1917, S. 200.

[3] Charles Haddon Spurgeon, „Des Predigers schwache Stunden“, in: Ratschläge für Prediger, 21 Vorlesungen, 5. Taschenbuchaufl., Wuppertal/Kassel: Oncken/Verlag Evangelische Gesellschaft, 1996, S. 78.

[4] C.H. Spurgeon, The Sword and Trowel, London: Passmore & Alabaster, S. 36.

[5] C.H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, Bd. 38, S. 2–3.

[6] C.H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, Bd. 23, S. 270.

[7] C.H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, Bd. 31, S. 327–328.

[8] C.H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, Bd. 48, S. 461.

[9] Brief vom 23. Sept. 1874 an den Daily Telegraph, zitiert in: Lewis A. Drummond, Spurgeon: Prince of Preachers, Grand Rapids: Kregel, 1992, S. 506.

[10] C.H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, Bd. 19, S. 124–125.

[11] C.H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, Bd. 36, S. 315 u. 320.