Warum sich mit der Fastenzeit aufhalten?

Artikel von Chuck Colson
2. März 2022 — 9 Min Lesedauer

Evangelikale stehen der Fastenzeit in der Regel reserviert gegenüber. Die 40 Tage vor Ostern – mit Ausnahme der Sonntage – sind im Volksmund als eine Zeit bekannt, in der man auf Schokolade oder andere Extras verzichtet, um Gott zu zeigen, wie sehr man ihn liebt. Bei solch dürftigen Vorstellungen ist es kein Wunder, dass die Fastenzeit auf eine harte Probe gestellt wird.

Sollten sich Evangelikale also mit der Fastenzeit beschäftigen?

Unabhängig von den landläufigen Vorstellungen kann die Fastenzeit eine evangeliumszentrierte Frömmigkeit fördern. Doch bevor wir uns mit dem Wert dieser Zeit befassen, wollen wir kurz auf den Nutzen des Kirchenkalenders im Allgemeinen eingehen.

Einige evangelikale Traditionen lehnen das Konzept des Kirchenkalenders grundsätzlich ab, weil sie den Tag des Herrn für das einzige von Gott gegebene Zeitmaß für die Kirche halten. Einige Puritaner verwarfen nach diesem Prinzip alle besonderen Feiertage. Und trotzdem ist es so, dass wir unser Leben nach einem jahreszeitlichen Kalender strukturieren, der so nicht von Gott vorgeschrieben ist (z.B. nach Semestern, Finanzquartalen und Monaten).

Der liturgische Kalender der Kirche ist sich dessen bewusst und versucht, die Zeit nach den Schlüsselereignissen unserer Erlösung in Christus zu ordnen. Während dieser Zeiten betonen wir bestimmte theologische Schwerpunkte, geistliche Praktiken und entsprechende Emotionen, um die Gemeinde in Frömmigkeit zu unterweisen und zu schulen. Natürlich beschränkt der Kirchenkalender die Feier einer Wahrheit oder das Erleben eines bestimmten Gefühls nicht auf eine Jahreszeit oder einen Tag. Wenn beispielsweise der Ostersonntag als freudiger und festlicher Feiertag begangen wird, wird damit nicht geleugnet, dass an jedem Tag des Herrn die Auferstehung Jesu gefeiert wird. Vielmehr verankert ein fröhlicher Ostersonntag alle anderen Sonntage des Jahres und verleiht ihnen Gestalt. So verhält es sich auch mit dem liturgischen Kalender.

Fünf Nutzen

An dieser Stelle wollen wir uns nun fünf Nutzen der Fastenzeit ansehen.

1. Die Fastenzeit bietet uns die Gelegenheit, die Tiefen unserer Sünde zu ergründen und die Höhen der Liebe Gottes zu erfahren.

Mit dem nahenden Karfreitag erinnern uns die Bilder von Jesu grausamem Tod an die schreckliche Realität der Sünde. Der Tod des Herrn der Herrlichkeit, der unter der Last des uns geltenden, gerechten Urteils stirbt, zeigt uns unsere individuelle und gemeinschaftliche Gebrochenheit, was zur persönlichen Selbstprüfung anregt. Diese darf allerdings nicht als eine Form von Narzissmus missverstanden werden. Es geht vielmehr darum, eine gottgefällige und demütige Form der Selbstprüfung zu entwickeln, die Demut, Reue und Abhängigkeit von Christus fördert.

Aber damit eine solche Selbstprüfung gesund bleibt, müssen wir zwei Realitäten zusammenhalten, die am Kreuz zusammenlaufen – unsere Verdorbenheit und Gottes Gnade. Trennen wir diese, verlieren wir entweder das Bewusstsein für unsere Sündhaftigkeit und unser Herz wird stolz und selbstgerecht, oder aber wir vergessen die Barmherzigkeit Gottes und versinken in ängstlicher Verzweiflung und Ungewissheit.

Das Vertrauen auf Gottes Gnade in Jesus Christus befreit uns dazu, das Innere unseres Herzens zu erforschen und die Verschmutzungen der Sünde aufzudecken. Gottes Gnade macht uns frei, unser Herz zu erforschen und uns seinem Schmutz zu stellen, anstatt ihn zu unterdrücken oder ihm zu erliegen. Mit David dürfen wir beten:

Erforsche mich, o Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich es meine; und sieh, ob ich auf bösem Weg bin, und leite mich auf dem ewigen Weg! (Ps 139,23–24)
„Gottes sanfte Prüfung deckt nicht auf, um zu beschämen, sondern um zu heilen.“
 

Wenn Gott uns erforscht, entdeckt er nichts, was ihm unbekannt ist (Ps 139,1–3), sondern er enthüllt uns die Geheimnisse unseres Herzens, sodass wir uns selbst erkennen können. Gottes sanfte Prüfung deckt nicht auf, um zu beschämen, sondern um zu heilen. Der Blick hinein führt uns hinauf, wo Trost, Hoffnung und Veränderung durch Jesus Christus zu finden sind. Sicherlich ist diese Form von Frömmigkeit nicht irgendeiner Kirchenjahreszeit exklusiv vorbehalten, aber die Fastenzeit bietet einen großartigen Rahmen für diese Selbstprüfung.

2. Die Fastenzeit bietet uns die Gelegenheit, die Aufrichtigkeit unserer Nachfolge zu prüfen.

Jesus hat für uns das Kreuz getragen und unsere Erlösung vollbracht, aber er legt uns auch ein Kreuz auf (Mt 10,38–39; Lk 9,23). Wenn wir ihm nachfolgen, garantiert uns Jesus unsagbaren Trost, aber auch Ungewissheiten (Joh 16,32–33). Diese Ungewissheiten sind oft ein Prüfstein für die Aufrichtigkeit unserer Nachfolge. Betrachten wir die folgenden Beispiele aus dem Wirken Jesu.

In Matthäus 8,18–22 erklären zwei Menschen, dass sie Jesus nachfolgen wollen. Der eine, ein Schriftgelehrter, bietet seine unbedingte Hingabe an und sagt: „Lehrer, ich will dir folgen, wohin du auch gehst.“ Jesus klärt den Schriftgelehrten über die Kosten der Nachfolge auf und macht deutlich, dass Füchse und Vögel mehr Komfort genießen als er. Jesus erkennt den egoistischen Ehrgeiz des Schriftgelehrten und erinnert ihn daran, dass Nachfolge kein Mittel ist, um in der Welt voranzukommen, sondern dass er gerade diese aufgeben muss. Wir wissen nicht, wie dieser Schriftgelehrte auf die Herausforderung reagierte, aber Jesus lässt uns mit der Frage zurück: „Folgen wir ihm auch in schwierigen Lagen, oder nur dann, wenn es bequem und zu unserem Vorteil ist?“

Der zweite, ein Jünger, bittet darum, an der Beerdigung seines Vaters teilnehmen zu dürfen, bevor er mit Jesus weiterzieht. Jesus ergreift die Gelegenheit, um das Herz des Jüngers zu offenbaren, indem er ihm seine wahren Absichten aufdeckt. Er sagt: „Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben“ (Mt 8,22). Bedenke: Jesus warnt uns davor, Vater oder Mutter oder irgendetwas anderes mehr zu lieben als ihn (Mt 10,37). Natürlich verbietet Jesus nicht, unsere Eltern zu lieben oder an ihren Beerdigungen teilzunehmen, aber er besteht darauf, dass er in unseren Herzen an erster Stelle steht. Jesus ist nicht eine Verpflichtung unter vielen, sondern ihm gebührt die Hingabe unseres Lebens. Deshalb müssen wir, wie Augustinus betont, darauf achten, unsere Liebe richtig zu ordnen und sicherstellen, dass unsere Zuneigung auf Christus und nicht auf einen anderen gerichtet ist.

Auf diese Weise bietet die Fastenzeit Gelegenheit, uns selbst zu hinterfragen und zu prüfen, um so die Aufrichtigkeit unserer Nachfolge zu erforschen.

3. Die Fastenzeit bietet uns die Gelegenheit, über unsere Sterblichkeit nachzudenken.

Auf der Suche nach ewiger Jugend scheint unsere Kultur in der Verleugnung des Todes zu leben. Aber das Ignorieren des Todes hebt seine Unparteilichkeit nicht auf – jeder, der einen ersten Atemzug tut, wird einen letzten tun. Das ist eine Tatsache, der wir nicht entkommen können (Hebr 9,27). Zum Glück aber hat der Tod nicht das letzte Wort. Für alle, die zu Christus gehören, gibt es eine Verheißung, die stärker ist als der Tod – wir werden sterben, aber Jesus wird wiederkommen, um unsere Leiber aufzuerwecken, die Tränen von unseren Augen abzuwischen und alles neu zu machen (1Kor 15,12–28; Offb 21,1–8).

Der schwierigste Moment, den ich als anglikanischer Pastor jedes Jahr erlebe, ist das Auftragen der Asche auf die Stirn meiner Frau und meiner Kinder im Zeichen des Kreuzes am Aschermittwoch. Es ist ein intimer und ergreifender Moment. In Anlehnung an 1. Mose 3,19 sage ich: „Gedenke, dass du Staub bist und zu Staub zurückkehren wirst.“ Es ist erschütternd. Jedes Jahr muss ich weinen.

Doch die Asche wird in Form des Kreuzes Jesu aufgetragen – das einzige Mittel, um dem Staub des Todes zu entkommen. Als Gott Jesus auferweckte, besiegte er den Tod und zerstörte seine Macht. Die Auferstehung Jesu markiert den Tod des Todes und heißt uns in einer lebendigen Hoffnung willkommen (1Petr 1,3). Das ist unser Trost und unsere Freude inmitten unserer Sterblichkeit.

Die Fastenzeit bietet eine unverkennbare Gelegenheit zum disziplinierten Nachdenken über diese vernachlässigte Gewissheit und Gottes radikale Lösung.

4. Die Fastenzeit bietet uns die Gelegenheit, in Nächstenliebe auf unseren Nächsten zuzugehen.

Auch wenn man es lange Zeit als eine Form der Werksgerechtigkeit missverstanden hat, geht es beim Fasten nicht darum, bei Gott zu punkten, sondern vielmehr um die Einfachheit um der anderen willen. Indem wir vorübergehend auf einige Annehmlichkeiten verzichten, die uns Gott selbst geschenkt hat, hoffen wir, unser hektisches Leben zu entrümpeln und uns zu fokussieren. Ein einfaches Leben ermöglicht es uns, Zeit für andere zu freizumachen und gleichzeitig unsere Ausgaben zu begrenzen. Diese Ersparnisse können dann zusammen mit anderen Gaben für wohltätige Zwecke verwendet werden, insbesondere für die Armen und Ausgegrenzten.

„Die Fastenzeit bereitet uns darauf vor, uns den Jüngern in ihrer Freude und Verwunderung an jenem seltsamen Morgen vor langer Zeit anzuschließen.“
 

Erforsche also dein Herz und entrümple dein Leben. Ziehe in Erwägung, auf bestimmte Lebensmittel, Technologien und/oder Unterhaltungsangebote zu verzichten. Lebe sparsam – aus Liebe zu deinem Nächsten. Suche eine Sache, oder besser noch einen Menschen, und gib aufopferungsvoll. So erfährst du etwas von der Freude Jesu, der sich uns ganz hingegeben hat.

5. Die Fastenzeit bereitet uns darauf vor, das Wunder und die Verheißung der Auferstehung Jesu am Ostersonntag zu feiern.

Jesus hat die Sünde, den Tod und den Teufel besiegt (Hebr 2,14–15). Nach einer Zeit der Verderbtheit, die die düstere Realität unserer zerbrochenen Schöpfung verdeutlicht, überflutet die Auferstehung Jesu unsere Trauer mit Licht und Leben. Mit anderen Worten: Die Fastenzeit bereitet uns darauf vor, uns den Jüngern in ihrer Freude und Verwunderung an jenem seltsamen Morgen vor langer Zeit anzuschließen (Mt 28,8; Mk 16,8; Lk 24,12). Unser Ostergottesdienst ist eine Generalprobe für die Wiederkunft unseres Herrn Jesus, wenn er kommt, um Himmel und Erde zu vereinen und alles neu zu machen (Eph 1,10; Offb 21,1–8).

Ich lade dich also zu einer heiligen Fastenzeit ein. Nimm die Gelegenheit wahr, über den Kummer unserer zerbrochenen Welt, die Sünde in deinem Herzen und die tiefe Liebe Gottes nachzudenken, die über diese Realitäten hinausgeht. Denke über die Gastfreundschaft Gottes nach, denke an die Nöte deiner Mitmenschen, vor allem an die, denen es an den Grundbedürfnissen des Lebens fehlt. Und das Wichtigste: In der Fastenzeit darfst du eines nicht vergessen – Ostern kommt!