Atonement and the Death of Christ
Es ist ein Ereignis mit Seltenheitswert, wenn sich ein bekannter Philosoph mit einer Lehre befasst, die allzu viele Theologen nur noch als peinlich betrachten. Doch genau das tut William Lane Craig in seinem Buch Atonement and the Death of Christ: An Exegetical, Historical, and Philosophical Exploration (dt. etwa: Sühnung und der Tod Christi: Eine exegetische, historische und philosophische Untersuchung).
Ausgehend von der Prämisse, dass eine annehmbare Sühnetheorie biblisch und philosophisch schlüssig zu sein hat, bietet er eine solide Verteidigung der Lehre von der stellvertretenden Sühne.
Der Vorwurf der Widersprüchlichkeit
Die biblischen und historischen Teile des Buches sind hervorragend, doch Craigs bedeutendster Beitrag ist seine Analyse des Vorwurfs der Widersprüchlichkeit. Dieser Vorwurf wird von zwei Seiten erhoben.
1. Theologische Schlüssigkeit
Zum einen wird behauptet, die Lehre sei theologisch nicht schlüssig: Gott ist Liebe, entsprechend fordere er keine Genugtuung als Voraussetzung für Vergebung. Ein Teil der Antwort lautet, dass Gott in der Schrift klar als jemand vorgestellt wird, der vergeltende Gerechtigkeit übt. Doch Craig stützt sich außerdem stark auf die Argumentation des niederländischen Juristen Hugo Grotius (1583–1645), und zwar speziell auf dessen grundlegende Unterscheidung zwischen dem Handeln einer Person als Privatperson und dem Handeln eines Richters in seiner Funktion als Richter. Eine Privatperson kann eine Schuld erlassen oder eine Kränkung vergeben, ohne Wiedergutmachung zu fordern. Doch einem Herrscher oder Richter steht das nicht zu, und eben das ist die Situation, in der wir uns als schuldige Sünder vor Gott befinden.
„Eine Privatperson kann eine Schuld erlassen oder eine Kränkung vergeben, ohne Wiedergutmachung zu fordern. Doch einem Herrscher oder Richter steht das nicht zu, und eben das ist die Situation, in der wir uns als schuldige Sünder vor Gott befinden.“
Zudem betont Craig die Tatsache, dass es innerhalb der göttlichen Regierung keine solche Gewaltenteilung gibt, wie wir sie in modernen westlichen Demokratien kennen. Gott übt selbst die drei Funktionen des Gesetzgebers, des Richters und der Exekutive aus. Daher besitzt er das Vorrecht, zu verkündigen, was Gesetz ist, über Verstöße gegen das Gesetz zu richten und Gesetzesbrecher zu bestrafen. An keiner Stelle haben wir das Recht, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Und am allerwenigsten haben wir ein Recht, von ihm zu fordern, er müsse Sünde einfach so vergeben. Worauf Craig hier nicht eingeht: Letzteres würde auf einen Schlag jedes menschliche Rechtssystem zunichtemachen und zu dem absurden Schluss führen, dass zwar Gott kein Recht hätte, ein Geschöpf zu bestrafen, während ein Geschöpf aber durchaus berechtigt wäre, ein anderes zu bestrafen.
Menschlich gesprochen stand Gott vor einem Dilemma: Sünde straflos durchgehen zu lassen würde bedeuten, das Universum an das uneingeschränkte Böse auszuliefern. Dem Gesetz strikt zu folgen würde bedeuten, die gesamte Menschheit zum ewigen Tod zu verurteilen. Die einzige Möglichkeit, um diesem Dilemma zu entkommen, bestand darin, eine Lockerung des Gesetzes zuzulassen. Im Rahmen der christlichen Versöhnungslehre bedeutet Lockerung, dass Gott dem Einen (Christus) erlaubt, den Platz der Vielen einzunehmen. Mit anderen Worten: die Strafe stellvertretend auf sich zu nehmen, stellvertretende Sühne zu leisten.
2. Philosophische Schlüssigkeit
Aber vorausgesetzt, die Lehre von der stellvertretenden Sühne ist theologisch schlüssig – ist sie denn auch philosophisch schlüssig? Verstößt sie nicht gegen die Prinzipien, die unserer Rechtsprechung zugrunde liegen? Es gibt diesen Vorwurf in unterschiedlichen Spielarten, aber letztendlich berufen sie sich alle auf die Tatsache, dass Christus unschuldig war, und dass es demzufolge ungerecht sei, wenn Gott ihn bestraft.
Die Antwort lautet – wie Craig zu Recht betont –, dass Jesus im Licht der Lehre von der Zurechnung rechtlich nicht unschuldig war. Auf ihm lag die Sünde der Welt.
Dagegen wird eingewandt: Fehlt nicht in der zivilisierten Rechtsprechung eine Analogie dazu, eine unschuldige Partei haftbar zu machen mit einer Strafe, die eine andere Partei verdient hätte? Anhand einer Vielzahl von Gerichtsurteilen zeigt Craig, dass es sehr wohl solche Analogien gibt und dass der Gedanke der Zurechnung in der Rechtspraxis eindeutig einen anerkannten Platz hat. Am deutlichsten wird dies im Konzept der stellvertretenden Haftung, bei der beispielsweise ein Arbeitgeber für die Gesetzesübertretung eines Arbeitnehmers haftbar gemacht werden kann; ähnlich kann ein Vorgesetzter haftbar gemacht werden, falls jemand, an den er eine Verantwortung delegiert hat, einer gesetzlichen Pflicht nicht nachkommt.
Solche Fälle zeigen zur Genüge, dass die Zurechnung unserer Sünden auf Christus keineswegs ohne Parallelen in der Rechtspraxis ist. Craig weist jedoch gewissenhaft auf die Grenzen solcher Argumente hin. Er unternimmt nicht den törichten Versuch, eine Sühnelehre auf der Grundlage menschlicher Rechtssysteme zu konstruieren. Lehre muss aus der Schrift gewonnen werden. Die Berufung auf juristische Analogien hat nur einen Zweck, nämlich den Einwand zu widerlegen, die stellvertretende Sühne sei nicht schlüssig, da das Gesetz einzig eine Bestrafung des Übeltäters selbst zulasse. Tatsächlich sieht das Gesetz aber manchmal vor, jemanden zu bestrafen, der persönlich schuldlos ist, jedoch für Unrecht haftbar gemacht wird, das eine andere Partei begangen hat.
Wie Christus zum Stellvertreter wurde
Aber auch die Zurechnung muss auf irgendeiner Grundlage beruhen. Im Fall der christlichen Sühnelehre besteht diese Grundlage in der Tatsache, dass Christus unser Repräsentant und Stellvertreter war. Was sogleich die nächste Frage aufwirft: Wie kam es dazu, dass Christus diese Positionen einnahm?
„In diesem Bund, der auf einer Übereinkunft unter Gleichrangigen beruht, ist der ewige Sohn gleichermaßen Initiator wie Ausführender: ein Stellvertreter, von Ewigkeit her bereit, die Strafe zu tragen.“
Craigs Antwort lautet im Wesentlichen, dass Gott ihn dazu bestimmt hat, als unser Vertreter zu handeln und für unsere Sünde zu haften. Die Schwierigkeit ist allerdings, dass damit ein inakzeptables Maß an Unterordnung innerhalb der ewigen Dreieinigkeit angenommen wird: Der Vater bestimmt und der präinkarnierte Sohn gehorcht. Dabei fehlt jeglicher Hinweis auf das Konzept des Bundes der Erlösung: eine Übereinkunft vor aller Zeit, so alt wie Gott selbst, in der die drei gleichrangigen Personen der Dreieinigkeit aus ihrer liebenden Gemeinschaft heraus den Entschluss zur Erlösung der Menschheit fassten. Im Rahmen dieses Bundes übernahm Christus die stellvertretende Verantwortung für unsere Sünden. Es ist dieser Bund, durch den er als unser Repräsentant und Stellvertreter eingesetzt wird. Und es ist dieser Bund, der definiert, worin „das Werk“ besteht, das ihm „gegeben“ ist, um es zu tun (Joh 17,4). In diesem Bund, der auf einer Übereinkunft unter Gleichrangigen beruht, ist der ewige Sohn gleichermaßen Initiator wie Ausführender: ein Stellvertreter, von Ewigkeit her bereit, die Strafe zu tragen.
Das großartige Resultat der stellvertretenden Sühne ist göttliche Vergebung. An dieser Stelle unterstreicht Craig nochmals die Tatsache, dass es sich dabei nicht um irgendein privates Abkommen zwischen zwei miteinander bekannten Personen handelt, sondern um einen göttlichen Akt der offiziellen Begnadigung. Dies setzt die Schuld derer, die begnadigt werden, voraus und wird (wenngleich Craig nicht darauf eingeht) stets von einem weiteren exekutiven Akt begleitet: der Adoption. Der Richter teilt dem begnadigten Sünder nicht nur mit, dass er freigesprochen ist und gehen kann. Er adoptiert ihn offiziell als sein Kind, das als solches auch Miterbe gemeinsam mit Gottes ewigem Sohn ist.
Konkrete Begnadigung
Doch dann liegt es aus Craigs Sicht ganz und gar an unserer freien Wahl, ob wir Gottes Gnadenangebot annehmen oder nicht. Craig bestätigt, dass ohne vorauslaufende Gnade niemand Gottes Angebot annehmen würde, aber wir müssen (und können) selbst mit dieser Gnade kooperieren.
Diese Sicht von der Fähigkeit des menschlichen Willens, mit der Gnade zusammenzuwirken, stand im Zentrum der reformatorischen Debatte. Die Reformatoren argumentierten mit der Schrift, dass keiner von uns von Natur aus dieses Vermögen besitzt. Und genau an dieser Stelle dient die Lehre von der begrenzten Sühne – die Craig bewusst ablehnt – als Hüterin einer Wahrheit von entscheidender Bedeutung. Das Werk unseres Stellvertreters legte nicht nur die Grundlage für das Angebot einer göttlichen Vergebung. Es sorgte auch dafür, dass durch das Wirken des Heiligen Geistes eine unüberschaubare Zahl von Menschen das Angebot annehmen wird. Ohne diese unwiderstehliche Gnade würde das Evangelium nur auf ein allgemeines „Nein!“ treffen und Christus wäre vergeblich gestorben.
Buch
William Lane Craig, Atonement and the Death of Christ: An Exegetical, Historical, and Philosophical Exploration, Baylor University Press, 2020, 328 Seiten, ca. 37,00 Euro.