Unterdrückten Minderheiten eine Stimme geben

Bietet die Intersektionalität einen biblischen und funktionierenden Weg zu wahrer Gerechtigkeit?

Artikel von Rosaria Butterfield
23. März 2022 — 12 Min Lesedauer
In der Gerechtigkeitsdebatte dominiert ein Denkschema, das der sogenannten Intersektionalität entstammt. Dabei geht es um ein Analyseinstrument der Sozialwissenschaften, welches immer von einer Opfer-Täter-Struktur ausgeht, in der Unterdrückung herrscht. Obwohl es hier anscheinend um den Einsatz für Benachteiligte und Unterdrückte geht, ist diese Ideologie doch nicht mit dem christlichen Weg zur Gerechtigkeit vereinbar.

Vor ein paar Jahren, während einer offenen Fragestunde an der Hochschule, beschuldigte mich eine Studentin der Hassrede. In meiner Vorlesung hatte ich von einem Gespräch erzählt, welches ich 1998 in meiner Küche mit meiner Freundin Jill, die als Trans­gender lebte, geführt hatte. Ich hatte ihr gestanden, dass ich anfing zu glauben, dass das Evan­gelium wahr wäre, dass Jesus leben würde und dass wir alle in großen Schwierigkeiten steckten.

Die Studentin bat daraufhin um das Mikrofon und platzte heraus: „Das ist Hassrede! Als Sie beschrieben haben, wie Ihre Transgender-Freundin Ihre Hände mit den ihrigen umschlossen hat, während Sie ihr von Ihrem neuen Glauben erzählten, da haben Sie sie herabgesetzt. Denn Sie haben damit gesagt, dass Ihre Transgender-Freundin große Hände hat.“

Ich stockte völlig perplex bei der Antwort: „Also, … Sie wollen sagen, dass es Hassrede ist, zu erwähnen, dass Jills Hände groß sind?“

Die Studentin explodierte förmlich: „Aber sicher ist es das!“

„Jill ist ohne Stöckelschuhe 1,89 groß“, erklärte ich. „Ich komme auf 1,58. Meine Hände schaffen auf dem Klavier kaum eine Oktave. Ja, im Vergleich zu meinen sind die Hände von Jill groß. Groß ist hier ein beschreibendes Adjektiv.“

Die Studentin hob ihre eigenen Hände verärgert in die Höhe, während sie ausrief: „Transgender-Frauen werden durch solch unsensible Bemerkungen verletzt. Ja, das ist Hassrede.“

„Warum sollte es ein Ausdruck von Hass sein, wenn ich sage, dass Jills Hände groß sind?“ fragte ich.

Sie: „Das ist genau das, was LGBTQ+ Menschen in den Selbstmord treibt.“

Ich: „Aber die Größe von Jills Händen ist doch eine messbare, objektive Wahrheit.“

Sie: „Es geht doch nicht um Wahrheit! Ihre Wahrheit ist nicht meine Wahrheit. Ihre Wahrheit hasst meine Realtität!“

Wie konnten wir dahin kommen, dass es für einen Men­schen Sinn macht, eine Wahrheit abzulehnen, nicht weil sie falsch, sondern weil sie schmerzhaft ist? Wie konnten wir dahin kommen, dass wir Menschen, die doch im Bild des heiligen Gottes geschaffen sind, vor allem über ihre Zugehörigkeit zu einer politischen oder sozialen Gruppe definieren, als ob das ihr wahrstes und unauslöschlichstes Wesensmerkmal wäre? Gemäß dieser Weltsicht also könnten meine Worte einen Selbstmord verursachen, während die operative Geschlechts­umwandlung, die es einem biologischen Mann erlaubt, sich als eine Frau darzustellen, Würde und Selbstsicherheit hervorbringt?

Diese Verdrehung machte mich damals traurig, und sie tut es bis heute. Denn diese Studentin ist auch eine Frucht meines Lebens als Universitätsprofessorin ohne Glauben an Gott. Ich lebte als Professorin während der 1990er Jahre in wechselnden monogamen lesbischen Beziehungen. Was die Studentin mir da sagte, erinnert an das Gespräch Jesu mit Pilatus vor seiner Kreuzigung (Joh 18,37b–38a):

„Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe; jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme. Pilatus spricht zu ihm: Was ist Wahrheit?“

Pilatus schaute der Wahrheit kühn ins Gesicht und ging davon, aber er leugnete nicht die Realität. Wie konnte es nur dahin kommen, dass Studenten von Eliteuniversitäten objektive Wahrheit als Bedrohung für ihre Sicherheit und ihr authentisches Selbstsein ansehen?

Die Ideologie der Intersektionalität

Die Antwort heißt Intersektionalität, ein analytisches Instru­ment, das an den meisten gesellschaftswissenschaftlichen Fakul­täten in den 1990er Jahren eingeführt wurde.[1] Inter­sek­tionalität erschafft ein Metanarrativ (eine große sinngebende Erzählung) aus dem Thema Unterdrückung. Es wird behauptet, dass die Gesellschaft vor allem durch Machtkämpfe gebildet wird und jetzt die weiße, männliche und heterosexuelle Herrschaft (Patriarchat) zerstört werden muss, um diejenigen zu befreien, die davon unterdrückt werden. Innerhalb des Denkens der Intersektionalität wird das biblische Zueinander von Ehemann und Ehefrau als eine Perversion und als Waffe zur Unterdrückung verstanden. Wenn wir nur die vielen tausend Wege des menschlichen Leidens bis in die kleinsten Details entlarven und dann die Machtverhältnisse neu ordnen, dann wären wir in der Lage, die (Unterdrückungs-)Geschichte einer Person neu zu schreiben und sie in ihre Bestimmung (zur Freiheit) einzusetzen.

Leid umfasst in dieser Weltsicht sowohl tatsächliches als auch empfundenes Leiden. Das wurde etwa 2015 in der Entscheidung Obergefell v. Hodges des amerikanischen Supreme Court deutlich, als das Verfassungsgericht entschied, gleichgeschlechtliche Ehen in allen 50 Bundesstaaten der USA zu erlauben. Dabei wurde das Verständnis von Verletzung auf die Würde und Identität einer Person ausgeweitet. Somit stellt nun jede empfundene Ablehnung der persönlichen Identität, die mit der Bejahung von LGBTQ+ zusammenhängt, eine Verletzung dar. Ver­letzung bezieht sich dabei genauso auf körperliche wie auf psychische Verletzungen, ob sie nun real sind oder empfunden.

Befreiung hängt innerhalb der Intersektionalität nun von der Kraft der Stimmen ab, die tatsächliche oder empfundene Verletzung zur Sprache bringen. Das funktioniert folgendermaßen: Wenn wir solchen Menschen, bei welchen sich besonders viele entsprechende Faktoren überschneiden – sagen wir einer farbigen Transgender-Frau, die arm und taub ist und in Haft sitzt –, innerhalb unserer Kultur eine lautere Stimme zugestehen, und gleichzeitig die weißen, männlichen und heterosexuellen „Privilegierten“ zum Schweigen bringen, dann würden wir die Mauern der physischen Gewalt damit angeblich niederreißen. In der Tat misst die Intersektionalität den Einzelnen daran, auf wie viele Weisen er sich als Opfer verstehen kann – wobei seine menschliche Würde nur dadurch entsteht, dass er keinen Widerspruch daran toleriert, wie er sich selbst und die Welt sieht.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Alle Menschen sind nach dem Bild Gottes erschaffen und ungerechte Gewalt gegen sie wird in der Bibel als Sünde verurteilt. Gott weiß natürlich, dass manche Gruppen einen größeren Schutz brauchen als andere – Witwen, Waisen, Arme und Gefangene – und er befiehlt, dass wir uns unmittelbar um sie kümmern (Hebr 13,1–3). Gott warnt uns auch vor der Sünde der Parteilichkeit (Jak 2,6). Die schlimmsten Formen von Verrat und Sünde sind die, die in Familien und Kirchen begangen werden, wenn gerade diejenigen, die nach Gottes Willen andere schützen sollen, zu Geiselnehmern und Unterdrückern der Kleinen und Schwachen werden. Gott hasst das.

Eine Unterstützung des Evangeliums?

Und so stellt sich die Frage, ob Intersektionalität nicht sogar dem Evangelium dienen kann. Können wir die Botschaft der Intersektionalität dem Evangelium hinzufügen, um einen besseren Weg der Nächstenliebe zu gehen? Eine Reihe von Kirchen und christlichen Initiativen bejahen dies inzwischen. So hat Intersektionalität z.B. ein Zuhause gefunden in Schulungen, die die Kirchen sensibler und freundlicher für „sexuelle Minder­­heiten“ machen sollen.

Denny Burk hat zwei Arten benannt, auf welche die Ideen der Intersektionalität dem Evangelium entgegenwirken: Erstens festigen sie ein unbiblisches Bild von menschlicher Identität, und zweitens bewirken sie eine soziale Zersplitterung in der Kirche.

Intersektionalität versäumt, zwischen moralisch neutralen (ethnische Herkunft, soziale Schicht) und moralisch bedeutungsvollen (sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identifikation) Beschreibungen menschlichen Lebens zu unterscheiden. Ohne eine Kategorie für Sünde im biblischen Sinne kann es in der Intersektionalität auch keine Kategorie für biblische Umkehr, Versöhnung oder Gnade geben. Da sie nicht auf einem gesunden Verständnis der menschlichen Identität aufbaut – alle Menschen sind im Bild Gottes geschaffen (1Mose 1,27) –, kann sie auch kein Verständnis dafür haben, was es bedeutet, in der Erkenntnis, der Gerech­tigkeit und Heiligkeit Christi zu wachsen.

„Intersektionalität bringt stetig weitere soziale Spaltung und Zersplitterung hervor.“
 

Intersektionalität bringt stetig weitere soziale Spaltung und Zersplitterung hervor. Das hat eine gewisse Ironie, denn als in den 1990er Jahren die Intersektionalität an den Uni­versitäten aufkam, erhoffte man sich von ihr eine Infragestellung der Vorstellung, dass dominante und unterdrückende soziale Gruppen einfach erkannt werden könnten. Stattdessen führte sie zu immer mehr sozialen Gruppen, deren behauptete Existenz eigentlich nur erfunden war, was in einer Kultur der Identitätspolitik auf Steroiden resultierte.

Zum Beispiel fordert die Intersektionalität von uns, dass wir darauf achten, jeden mit seinen bevorzugten Pronomen anzusprechen, wohl wissend, dass sich diese gleich morgen wieder ändern können. Uns wird gesagt, dass gute Nachbarn einander auf diese Weise belügen, indem sie so tun als könnten Frauen einfach Männer und Männer einfach Frauen sein. Es wird uns einerseits gesagt, dass eine homosexuelle Orientierung unveränderbar und dauerhaft ist, aber gleichzeitig seien biologische Geschlechtsunterschiede eine Sache des persönlichen Erachtens.

Diese Widersprüche zur Schöpfungsordnung missachten sowohl die Liebe zum Nächsten als auch den gesunden Menschenverstand. Intersektionalität behauptet, Gemeinschaft zu schaffen, aber die erschaffene Gemeinschaft ist zersplittert, bestimmt von einer Opfermentalität, voller Zorn und ohne Trost. Dies ist das genaue Gegenteil der Gemeinschaft, die aus der Frucht des Heiligen Geistes entsteht, wo Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung vorherrschen (Gal 5,22–23). Wenn Inter­sektionalität mit dem Evangelium zusammenwirken soll, dann kommen dabei ein unreifer Glaube, eine falsche Hoffnung und eine irreführende Redeweise heraus.

Intersektionalität vertauscht Gerechtig­keit, das Gebot Gottes zur Verteidigung der Armen und Bedürftigen (Mi 6,8), mit einem unbiblischen Konzept von Gerechtigkeit. Nach der Bibel verursacht die Sünde das Leid und unterdrückte Menschen benötigen neben leiblicher Hilfe auch Hilfe für die Seele, denn auch die Unterdrückten sind Sünder und brauchen einen Retter. Sünde bringt Leiden hervor; sowohl unsere eigene Sünde, als auch die Sünde anderer, die uns verletzt. Es kommt auf die Reihenfolge von Sünde und Leid an. Wer das missachtet oder die Reihenfolge umdreht, der geht am Evangelium komplett vorbei.

Elisabeth C. Corey hat herausgestellt, dass der Ausgangspunkt für die Intersektionalität die diskutable (aber nie diskutierte) Auswahl sich stetig erweiternder persönlicher Eigenschaften ist, welche Identität und Persönlichkeit ausmachen: Alter, Rasse, soziale Klasse, biologisches Geschlecht, gelebte Sexualität, soziales Geschlecht (gender), Gewicht, Attraktivität, Gefühlswelt, Ängste – die Liste könnte fortgesetzt werden. Aber wer in die falsche Richtung losläuft, kommt garantiert am falschen Ort an, und dies ist die unbeabsichtigte Folge von Intersektionalität in der Kirche. Die Übernahme der Intersektionalität durch die Kirche als Instrument der Analyse geschah in der Absicht, den Stummen eine Stimme zu geben. Aber die Opferidentitäten, die auf dem Boden der Intersektionalität wachsen, bleiben dauerhaft unreif und benötigen ständig Therapie oder Bestärkung. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich falsche Identifizierungen häufen. Regelrechte Ausbrüche von plötzlich auftretenden Geschlechtsidentitätsstörungen unter Studentinnen weisen darauf hin. Die Tage der wachsenden Selbstbestimmung sind vorüber; Intersektionalität benötigt Lebenshilfe.

Gemeinde und Gerechtigkeit

Eine gottesfürchtige Kirche wird Gewalt und Unterdrüc­kung ernstnehmen. Sie nimmt auch Gemeindemitgliedschaft, persönliche Rechenschaft und Kirchenzucht ernst, denn diese Dinge hängen zusammen. Die beste Verteidigungsmöglichkeit für unterdrückte Menschen gegen echte Gewalt ist die Zugehörigkeit zu einer biblisch ausgerichteten Gemeinde, die Gastfreundschaft genauso praktiziert wie Kirchenzucht, eine Gemeinde, welche die Schafe vor den Wölfen schützt, indem sie die Wölfe aus dem Haus jagt. Inter­sektionalität setzt auf die Kraft menschlicher Worte, aber Gerechtigkeit für Unterdrückte kommt aus der Kraft des Evangeliums.

Kirchen und christliche Initiativen sollten sich dessen bewusst werden, dass Intersektionalität dem Evangelium nicht dienen wird. Sie wird nicht dazu helfen, gütiger zu werden, die Welt um uns bewusster wahrzunehmen oder besser mit der Vielfalt der Menschen umzugehen. Man wird mit ihr vielmehr ein System falscher Einschätzung, was positiv und was schädlich wäre, in den Dienst der Kirche einführen. Achte auf deinen Dienst. Im 1. Timotheusbrief sagt uns Paulus, wie: Er ruft die Pastoren und Ältesten dazu auf, Vorbilder der Redlichkeit zu sein (4,12); sie sollen auf das Vorlesen der Schrift, die Ermahnung und die Lehre achten (4,13); die Lehrbegabung nicht vernachlässigen (4,14); sie sollen über diese Dinge nachsinnen und ganz darin leben, und dabei auf sich selbst und auf die Lehre achten (4,15).


[1]  Im Gender Glossar der Universität Bielefeld wird der Begriff folgendermaßen definiert: „Intersektionalität betont, dass Differenzkategorien und die daraus erwachsenden Hierarchien auch in ihrer Gleichzeitigkeit und Verwobenheit betrachtet werden müssen. So ist eine Schwarze Frau nicht einfach einer Diskriminierung als Schwarze Person und als Frau ausgesetzt, sondern als Schwarze Frau – eine Erfahrung, die nicht einfach verschiedene Formen von Diskriminierung vermengt, sondern spezifische Diskriminierungen hervorruft.“, online unter: https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/sportwissenschaft/studium-und-lehre/gender-in-der-lehre/glossar/ (Stand: 21.03.2022).