Wurde die Dreieinigkeit am Kreuz zerrissen?
Der Schrei der Verlassenheit
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
„Hörst du Jesu Worte? Kannst du sehen, was im innersten Kern der Dreieinigkeit geschieht? Zum ersten Mal in der Geschichte wird das Band zwischen Vater und Sohn zerrissen. Die Dreieinigkeit ist zerbrochen, damit du und ich gerettet werden können." – So könnte der Kommentar eines begeisterten Evangelisten am Karfreitag lauten.
Oder vielleicht ist es der Seelsorger, der versucht, mitten in den Trümmern einer zerbrochenen Ehe Hoffnung zu geben: „Selbst die ewige Liebe zwischen Vater und Sohn wurde am Kreuz für eine kurze Weile zerbrochen. Es gibt Hoffnung, dass ihr euch versöhnt."
Man kann sich wahrscheinlich eine Vielzahl ähnlicher Fälle vorstellen. Der „Schrei der Verlassenheit“, wie er genannt wird (Jesus zitiert darin Psalm 22), hat gleichermaßen für Staunen und Spekulation gesorgt. Schlussendlich werden pastorale Seelsorge und evangelistischer Eifer nicht durch schwache Theologie gestärkt, ganz egal wie wohlmeinend die obigen Beispiele sein mögen, und wie gnädig der Herr sein möge, wenn er unsere kläglichen Bemühungen für seine Absichten gebraucht. Was können wir also über diesen Schrei sagen und was nicht?
Die ungeteilte Dreieinigkeit
Zunächst und vor allen Dingen dürfen wir nicht sagen, dass die Dreieinigkeit zerrissen wurde. Wir könnten viele Gründe auflisten, warum die Aussage „die Dreieinigkeit wird zerbrochen“ dazu führt, dass wir die Grenzen biblischer Orthodoxie verlassen. Wir wollen uns hier aber auf drei Gründe beschränken.
Erstens würden wir damit die Lehre der Bibel über die Einheit der Gottheit untergraben. Es gibt nicht drei „Götter“, die alle ganz eng und in tiefer Liebe miteinander verbunden sind und alle als eine Person handeln. Es gibt einen Gott (5Mose 6,4), und dieser eine Gott besteht nicht aus drei „Teilen“ – Vater, Sohn und Heiliger Geist – als müsste man alle drei Teile zusammensetzen, um das Ganze zu erhalten. Nein. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind aus einer Substanz und besitzen voll und ganz dasselbe göttliche Wesen. Es ist unmöglich, sie zu trennen, weil diese eine Substanz nicht teilbar ist. Es gibt einen Gott.
„Vater, Sohn und Heiliger Geist sind aus einer Substanz und besitzen voll und ganz dasselbe göttliche Wesen. Es ist unmöglich, sie zu trennen, weil diese eine Substanz nicht teilbar ist. Es gibt einen Gott.“
Außerdem müssen wir bedenken, dass Gott sich nicht verändert (Jak 1,17; Mal 3,6). Wenn man impliziert, dass die Dreieinigkeit an einem Freitagnachmittag im ersten Jahrhundert für ein paar Stunden zu einer „Zweieinigkeit plus eins“ geworden ist, bedeutet das unter anderem, Gott zu einem Geschöpf zu erklären, das dem Wandel und den Beschränkungen der Zeit unterworfen ist. Aber Gottes Existenz ist nicht an Raum und Zeit gebunden. Gott bewegt sich nicht wie wir Menschen von Montag zu Dienstag zu Mittwoch.
Schließlich sollten wir uns daran erinnern, dass Gott nicht leiden kann. Er ist unempfindlich. Es ist zwar nicht einfach, diese Lehre mit ein paar Bibelversen zu belegen, aber sie ergibt sich aus der Lehre der Schrift über Gottes unveränderliches Wesen und seine Selbstgenügsamkeit. Calvin drückt es so aus: „Sicherlich hat Gott kein Blut, leidet nicht und kann nicht mit Händen berührt werden.“[1] Nichts kann ihm schaden, nichts kann seine Freude verringern, nichts kann ihn zerreißen. Gott sei Dank!
Was auch immer „verlassen“ bedeutet, es kann also kein vermeintlicher Bruch in der Dreieinigkeit sein. Wohin sollen wir uns stattdessen wenden?
Christus, der Gott-Mensch
Lasst uns mit der Fleischwerdung beginnen. Gott, der Sohn, nahm eine reale menschliche Natur an. Nicht nur einen Körper, oder eine „Hülle aus Haut“, wie ich es einmal einen Prediger sagen hörte. Er nahm voll und ganz menschliche Natur an. Jesus hat daher einen wirklich menschlichen Verstand, ein wirklich menschliches Herz, eine wirklich menschliche Seele.
Jedes Leid erlebt er in dieser wahren menschlichen Natur. Hebräer 2 trifft genau diese Aussage:
„Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise daran Anteil gehabt, um durch den Tod den zunichtezumachen, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel.“ (Hebr 2,14)
Weil wir Fleisch und Blut sind, musste Jesus desselben Fleisches und Blutes teilhaftig werden, damit er für uns sterben konnte. In seiner göttlichen Natur war das unmöglich. Sein Leid musste menschliches Leid sein. Nicht nur, weil Gott nicht leiden kann, sondern damit er uns angemessen vertreten kann. Hebräer 2 fährt fort:
„Daher musste er in allem den Brüdern gleich werden, damit er barmherzig und ein treuer Hoher Priester vor Gott werde, um die Sünden des Volkes zu sühnen; denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht worden ist, kann er denen helfen, die versucht werden.“ (Hebr 2,17–18)
„Man kann die Dreieinigkeit nicht auseinanderreißen, stattdessen leidet Gott der Sohn im Fleisch.“
Jesus „musste“ uns gleich gemacht werden, um Versöhnung für uns zu schaffen. In seiner menschlichen Natur ertrug er das für unsere Rettung nötige Leiden. Dieses Leiden ist natürlich immer noch das Leiden des Gottessohnes. Es gibt keinen Menschen Jesus Christus, der nicht Gott der Sohn ist. Aber es ist wichtig, dass wir verstehen, dass all sein Leiden – einschließlich seines Todes, mit dem er den Zorn trug und die Gerechtigkeit erfüllte – ein Leiden gemäß seiner menschlichen Natur ist. Noch einmal: Man kann die Dreieinigkeit nicht auseinanderreißen, stattdessen leidet Gott der Sohn im Fleisch.
Hinein in die Finsternis
Aber bisher haben wir noch nicht viel Positives über die Bedeutung des Schreies gesagt. Matthäus gibt uns den Kontext:
„Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde; um die neunte Stunde aber schrie Jesus mit lauter Stimme auf und sagte: Elí, Elí, lemá sabachtháni? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,45–46)
Jesus wurde um die dritte Stunde gekreuzigt, etwa um 9 Uhr morgens (Mk 15,25). Aber von der sechsten bis zur neunten Stunde bedeckte Finsternis das Land: von 12 Uhr bis 15 Uhr. Die Finsternis zeigt uns, dass Gott im Gericht gekommen ist. Amos hatte es bereits vorausgesagt:
„da lasse ich die Sonne am Mittag untergehen und bringe Finsternis über die Erde am lichten Tag.“ (Am 8,9)
Finsternis ist ein Zeichen dafür, dass Gottes Gericht gekommen ist. Erinnere dich an die neunte Plage über Ägypten. Aber die Finsternis deckt Dinge auch zu. In einer gewissen Weise wird es immer für uns verborgen sein, was genau dort in jenen drei Stunden geschah. Wir können – Gott sei Dank! – nicht genau wissen, was Christus erlebte. Es ist eine Versuchung zu denken, manche Lehren seien geheimnisvoll (wie die Dreieinigkeit, oder wie Gottes Souveränität mit menschlicher Verantwortung zusammenpasst), und andere seien unkompliziert und leicht verständlich (wie das Kreuz). Aber Gott verhüllt den Höhepunkt von Christi Werk mit Finsternis. Es gibt eine ganze Menge, was wir von dem bekräftigen können und sollen, was zu uns durchgesickert ist, aber wir sollten niemals so tun, als hätten wir es vollständig ergründet.
Können wir denn wenigstens eine flackernde Kerze in die Finsternis hineintragen? Ja, ich denke schon. Was werden wir sehen? Was wird uns der Schrei offenbaren?
Nicht die Trennung der Menschlichkeit Christi von seiner Göttlichkeit. Die Fleischwerdung wird niemals rückgängig gemacht. Obwohl im Tod Christi menschlicher Körper und Seele voneinander getrennt wurden, sein Körper begraben und seine Seele im Paradies, blieben beide mit seiner göttlichen Person vereint.
Von der Finsternis ins Licht
Noch werden wir einen Mann sehen, der seinen Glauben verliert. Hier ist ein Mann, der seinen Gott immer noch kennt: „Mein Gott, mein Gott …“ und er kennt seine Psalmen. Der Schrei ist die erste Zeile aus Psalm 22, und wie allseits bekannt, beschreibt die erste Hälfte des Psalms das Leiden Christi in bemerkenswerten prophetischen Einzelheiten. Aber ab Vers 23 verändert sich der Ton. Wir bewegen uns von der Finsternis ins Licht, vom Tod zur Auferstehung:
„Du hast mich erhört. Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern; inmitten der Versammlung will ich dich loben.“ (Ps 22,22–23)
Sicherlich hat Jesus nicht den Glauben verloren, selbst bei seinem Schrei in der Finsternis. Er weiß, dass er nicht vollständig verlassen wird, dass Auferstehung und Freude folgen werden.
„Als Sohn wusste er im Glauben, dass Gott Freude an ihm hatte – und diese hatte er auch weiterhin. Aber als Vermittler, der an unserer Stelle stand, kannte er Gottes Zorn über die Sünde.“
Manche geben sich damit zufrieden. Christus erkennt in seiner Qual an, dass der Tod ihm nicht erspart bleiben wird, während er gleichzeitig darauf vertraut, dass die Auferstehung bevorsteht. Aber ich denke, wir könnten noch einen Schritt weiter gehen. Der Puritaner Thomas Goodwin ist ein treuer Wegweiser und steht stellvertretend für viele in der reformierten Tradition. Goodwin erklärt es so: das Stehen unter dem Fluch bedeutet, (zumindest teilweise) von allem Trost Gottes abgeschnitten zu sein. Das ist es, was Christus erlebt haben muss. Es ist nicht so, dass Gott aufgehört hat, Jesus zu unterstützen, geschweige denn ihn zu lieben. Wie könnte er am Höhepunkt des Werkes seines Sohnes keine Freude an ihm gehabt haben (Joh 10,17)? Stattdessen wurde Christus „nur hinsichtlich der Freude an Gottes Angesicht und des Trostes von ihm“ abgeschnitten.[2]
„Der Schrei sagt uns nicht alles über die Sühnung oder darüber, was Jesus erlitt. Aber er sichert uns zu, dass er in eine Finsternis hineinging, der wir uns niemals werden stellen müssen.“
Christus trug den Zorn Gottes über die Sünde in seiner Seele und an seinem Körper. Während dieser Zeit stand er in zweifacher Beziehung zu Gott. Als Sohn wusste er im Glauben, dass Gott Freude an ihm hatte – und diese hatte er auch weiterhin. Aber als Vermittler, der an unserer Stelle stand, kannte er Gottes Zorn über die Sünde. Hier noch ein letztes Mal Goodwin:
„Christus konnte sich selbst als Sohn betrachten, als natürlichen Sohn, und als solcher geliebt. Er konnte sich als Sohn betrachten, als einen Sohn, der seinem Vater Gehorsam leistet, selbst im Erleiden des Zorns, und ihm niemals mehr gefiel als jetzt … und doch … als Bürge für Sünder, und als solcher bestraft, und in dieser Hinsicht konnte er Gott in dem Moment für zornig und voller Zorn gegen ihn halten.“[3]
Christi Zuversicht darauf, dass Gott als Sohn und treuer Diener „für ihn“ und als Vertreter und Repräsentant (Bürge) „gegen ihn“ war – beides fand seinen Ausdruck in diesem einen Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der Schrei sagt uns nicht alles über die Sühnung, oder darüber, was Jesus erlitt. Aber er sichert uns zu, dass er in eine Finsternis hineinging, der wir uns niemals werden stellen müssen.
[1] Calvin, Institutio II.XIV.2.
[2] The Works of Thomas Goodwin, Bd. 5, Reformation Heritage Books, 2006, S. 279.
[3] Ebd., S. 283.