Säkulare Gerechtigkeitsmodelle und die Kritische Theorie

Eine biblische Beurteilung

Artikel von Timothy Keller
29. April 2022 — 62 Min Lesedauer

Das Problem, vor dem wir stehen

Welche Gerechtigkeit? Noch nie war der Ruf nach Gerechtigkeit so laut wie heute. Aber selten erkennen diejenigen, die diesen Ruf erheben, an, dass es gegenwärtig konkurrierende Visionen von Gerechtigkeit gibt, die oft stark voneinander abweichen, und dass keine von ihnen so etwas wie einen kulturellen Konsens erreicht hat. Es ist vermessen, davon auszugehen, dass andere ausgerechnet unsere Auffassung von Gerechtigkeit übernehmen, nur weil wir es so sagen.

Biblische Gerechtigkeit. In der Bibel finden Christen ein sehr altes, starkes, umfassendes, komplexes und attraktives Verständnis von Gerechtigkeit. Biblische Gerechtigkeit unterscheidet sich erheblich von allen säkularen Alternativen, ohne deren Anliegen zu ignorieren. Dennoch wissen Christen oft nur wenig über Gerechtigkeit in der Bibel, obwohl sie in der Heiligen Schrift eine so wichtige Rolle spielt. Diese Unwissenheit hat zwei Auswirkungen: Erstens verstehen weite Teile der Gemeinden gerechtes Handeln immer noch nicht als Teil ihrer Berufung als Gläubige. Zweitens übernehmen viele jüngere Christen, die dieses Versagen der Kirche erkennen und die Dinge korrigieren wollen, den einen oder anderen säkularen Ansatz von Gerechtigkeit, was zu Verzerrungen in ihrem Leben und Handeln führt.

Eine Geschichte der Gerechtigkeit

Die Traditionen. Keiner hat das aktuelle Dilemma in Sachen Gerechtigkeit besser erklärt als Alasdair MacIntyre[1]. Er zeigt auf, dass hinter jedem Verständnis von Gerechtigkeit eine Reihe von philosophischen Überzeugungen über (a) Wesen und Sinn des Menschseins, (b) Moral und (c) praktische Vernunft (wie wir etwas erkennen und unsere Überzeugungen begründen) stehen.

In seinem Buch zeichnet er vier grundlegende historische Traditionen der Gerechtigkeit nach: Es gibt die klassische (Homer bis Aristoteles), die biblische (Augustinus bis Thomas von Aquin, dessen Leistung es war, einiges von Aristoteles zu integrieren) und die Tradition der Aufklärung (besonders Locke, Kant und Hume). Letztere bereitete dann den Boden für den modernen liberalen Ansatz, der sich in eine Reihe konkurrierender Ansätze aufgespalten hat, die heute miteinander ringen.

Die Denker der frühen Aufklärung suchten die Grundlage für Moral und Gerechtigkeit nicht in Gott oder Religion, sondern allein in der menschlichen Vernunft.[2] David Hume hielt dies jedoch nicht für möglich. Er argumentierte, dass es keine moralischen Normen oder Absolutheiten außerhalb von uns gebe, denen wir ohne Rücksicht auf unsere eigenen Gefühle und Gedanken gehorchen müssten, und dass sie daher auch nicht durch die Vernunft entdeckt werden könnten. Er sah die einzige Grundlage für unsere moralischen Entscheidungen nicht in der Vernunft, sondern in unserem Empfinden – in moralischen Intuitionen, die weitgehend in unseren Gefühlen und nicht in unserem Denken begründet sind. Hume gewann die „Schlacht“ und heute haben seine Nachfolger seine Ideen zur logischen Schlussfolgerung gebracht, dass alle moralischen Ansprüche kulturell konstruiert sind und daher letztlich auf unseren Gefühlen und Vorlieben beruhen statt auf irgendetwas Objektivem.[3] [4]

Das Scheitern der Aufklärung. Doch MacIntyre macht deutlich, wie problematisch dies ist. Der gesellschaftliche Konsens über Moral und Gerechtigkeit, den die Aufklärer damit erzielen wollten, dass sie die Religion hinter sich ließen, ist nicht zustande gekommen. In seiner berühmten Illustration mit der Armbanduhr zeigt MacIntyre, warum: Wir können unmöglich feststellen, ob eine Uhr „gut“ oder „schlecht“ ist, wenn wir nicht wissen, wofür sie da ist. Soll sie Nägel einschlagen oder die Uhrzeit anzeigen?[5] Ohne Telos, also ohne den Sinn und Zweck der Uhr zu kennen, ist jegliche Bewertung unmöglich.

Solange man nicht weiß, wozu es Menschen gibt, wird man sich auch nicht darüber einigen können, was gutes oder schlechtes Verhalten ist und wie Gerechtigkeit aussieht. Aus säkularer Sicht existiert der Mensch nur durch Zufall. Es gibt gar kein Wozu. Somit kann man auf der Grundlage säkularer Prämissen und Überzeugungen nicht schlüssig begründen, dass ein bestimmtes Verhalten falsch und ungerecht ist. Die Menschenrechte werden lediglich damit begründet, dass manche Menschen sie für wichtig halten. Das teilen aber nicht alle – und was sagst du jenen Menschen, die nicht an sie glauben und sie nicht achten? Warum sollten deine Gefühle über denen anderer stehen? Nach David Hume hat keine moderne Theorie zur Gerechtigkeit eine andere Antwort darauf als: „Weil wir es sagen!“

Das Problem mit den Grundlagen

Viele säkulare Menschen antworten auf MacIntyre, dass wir keine Grundlage für Menschenrechte brauchen, weil „jeder weiß“, dass die Achtung der Rechte anderer einfach „gesunder Menschenverstand“ ist. Im Folgenden findest du einen (von mir leicht bearbeiteten) Auszug aus einem Gespräch zwischen Christian Smith, dem Autor von Atheist Overreach, und einem Atheisten in einem Podcast namens „Life After God“.

Smith: Es ist ein Unterschied, ob man instinktiv fühlt, dass es falsch ist, Menschen verhungern zu lassen, ohne ihnen zu helfen, oder ob man darauf besteht, dass wir die nötigen – oft großen – Opfer bringen müssen, um das Leid zu verhindern. Wenn ein Volk sagt: „Was jenseits unserer Grenzen geschieht, ist nicht unser Problem“ – was antwortet der [säkulare Mensch] darauf?
Die Frage ist nicht: „Haben wir ein System, um Menschen zu zwingen, sich für andere aufzuopfern?“, sondern ob wir eine Grundlage haben, um einen vernünftigen Skeptiker zu überzeugen, der fragt: „Warum sollte ich mich darum kümmern?“ Hast du nicht nur eine Begründung dafür, warum es falsch ist, Menschen verhungern zu lassen, sondern auch eine rechtfertigende Motivation, damit sie angeregt werden, die notwendigen Opfer zu bringen, um ihnen zu helfen? Ohne [Begründung und rechtfertigende Motivation] kann sich in einer Gesellschaft kein moralisches Wertesystem durchsetzen. Und wenn man [streng säkular] ist, glaube ich nicht, dass man die beiden Dinge hat. Ich sage nicht, dass Atheisten sich nicht dafür entscheiden können, gut zu sein, aber wenn sie dies tun, ist es eine willkürliche subjektive Präferenz, keine rational begründete Ansicht, die Überzeugungskraft auf andere hat.
Atheist: Das leuchtet mir nicht ein. Ich denke einfach, dass Menschen fair behandelt werden sollten, eben weil sie Menschen sind. Ich weiß, wie es sich anfühlt, freundlich oder gemein behandelt zu werden. Ich weiß, dass es anderen genauso geht, also möchte ich sie mit Würde und Respekt behandeln, weil ich das auch wollen würde. Ich habe keine objektive Quelle für die Menschenwürde – sie beruht darauf, dass ich selbst so behandelt werden möchte. Warum ist das für einen vernünftigen Skeptiker nicht überzeugend? Warum brauche ich noch mehr Gründe und Rechtfertigungen? Es entspricht dem gesunden Menschenverstand.
Smith: Ich halte das nicht für begründet. Das ist kein Argument, sondern eine Empfindung. Und solche Empfindungen (über Liebe und Menschenrechte) beruhen auf den ungebrochenen Strömungen eines Jahrtausende alten kulturellen Erbes, das stark vom Christentum und Judentum beeinflusst ist. Das macht diese Ideale für dich so einleuchtend. Wenn ich mir über irgendetwas Sorgen mache, dann darüber, dass diese moralischen Ideale – den Nächsten zu lieben und seine Menschenrechte zu achten, unabhängig davon, wer er ist und wo er lebt – uns zwar heute einleuchtend erscheinen. Aber wenn sie (wie man, meine ich, zeigen kann) auf dem kulturellen Erbe der Religion beruhen [auf der Weltanschauung, die unsere Kultur früher hatte], werden sie dann unseren Enkelkindern noch einleuchten, wenn Religion weiter zurückgeht? Werden sie nicht einfach fragen: „Klar will ich nicht leiden, aber warum sollte mich das Leid eines anderen kümmern?“ Der [Säkularismus] hat keine gute Antwort auf diese Frage.

Der Atheist sagt zu Smith, dass es einfach gesunder Menschenverstand oder pure Vernunft ist, wenn man sagt: „Ich möchte so behandelt werden, also sollte ich auch mit anderen so umgehen.“ Smith sieht darin kein rationales Argument. Du magst die goldene Regel für richtig halten, aber warum sollten andere genauso denken wie du?

Gerechtigkeit in der Bibel: ein Überblick

Um Gerechtigkeit in der Bibel mit den säkularen Alternativen zu vergleichen, gebe ich im Folgenden einen kurzen Abriss über fünf Facetten biblischer Gerechtigkeit.[6]

1. Gemeinschaft: Andere haben ein Recht auf meinen Wohlstand, also soll ich freiwillig etwas abgeben.

Die Bibel stellt die menschliche Welt als eine zutiefst miteinander verbundene Gemeinschaft dar. Darum soll der Gottesfürchtige so leben, dass die Gemeinschaft gestärkt wird. Der Alttestamentler Bruce Waltke fasst die Lehre über die „Gerechten“ im Sprüche-Buch in einem prägnanten und praktischen Grundsatz zusammen: „Die Gerechten (saddiq) sind bereit, sich selbst zu benachteiligen, um der Gemeinschaft einen Vorteil zu verschaffen; die Gottlosen sind bereit, der Gemeinschaft einen Nachteil zuzufügen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.“[7] 

„‚Die Gerechten sind bereit, sich selbst zu benachteiligen, um der Gemeinschaft einen Vorteil zu verschaffen; die Gottlosen sind bereit, der Gemeinschaft einen Nachteil zuzufügen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.‘“
 

Ein gutes Beispiel dafür sind die Gesetze des Alten Testaments über die Nachlese (5Mose 24,17–22): Den Landbesitzern wurde verboten, ihren Gewinn dadurch zu maximieren, dass sie alle Garben ernteten oder alle Oliven oder Trauben pflückten. Stattdessen sollte der Besitzer etwas für die Arbeiter und Armen auf dem Feld übriglassen, damit diese sie ernten konnten, anstatt auf Almosen angewiesen zu sein. Wenn es im Text heißt, dass die Garben, Oliven und Trauben „für die Armen sein sollen“, wird ein hebräischer Ausdruck verwendet, der Eigentümerschaft beschreibt. Du irrst dich also, wenn du all deine Gewinne und Vermögenswerte als dein Eigentum betrachtest. Dein gesamtes Vermögen gehört Gott. Du bist nur ein Verwalter davon. Deshalb hat die Gemeinschaft einen gewissen Anspruch darauf. Dennoch darf es nicht konfisziert werden. Du sollst den Anspruch anerkennen und freiwillig radikal großzügig sein. Diese Auffassung von Eigentum passt weder in eine kapitalistische noch in eine sozialistische Wirtschaft.[8]

2. Gleichheit: Alle Menschen müssen gleich und mit Würde behandelt werden.

1. Mose 24,22: „Ihr sollt ein einheitliches Recht haben, für den Fremdling wie für den Einheimischen; denn ich, der HERR, bin euer Gott.“ Das hebräische Wort mesraim bedeutet Gerechtigkeit. In Jesaja 33,15 heißt es von dem, der „in Gerechtigkeit (mesraim) wandelt“, dass er „sich mit seinen Händen wehrt, ein Bestechungsgeschenk anzunehmen“. Bestechung ist ungerecht, weil sie im Geschäftsleben, im Rechtswesen und in der Politik die Armen nicht gleich behandelt wie die Reichen. Jedes Rechts- oder Verwaltungssystem, in dem Entscheidungen oder Ergebnisse davon abhängen, wie viel Geld die Beteiligten besitzen, stinkt vor Gott.

Ein weiteres Beispiel für Ungerechtigkeit sind unfaire Geschäftspraktiken: In 3. Mose 19,13 und 5. Mose 24,14–15 ist von ungerechten Löhnen die Rede. Amos 8,5–6 spricht von Waagen, mit denen betrogen wird, und dass Spreu als Korn verkauft wird. Wer überall Kosten einspart und ein minderwertiges Produkt anbietet, um mehr Geld zu verdienen, aber dem Kunden nicht dient, handelt ungerecht.

3. Kollektive Verantwortung: Manchmal bin ich an den Sünden anderer beteiligt und dafür verantwortlich.

Manchmal macht Gott Familien, Gruppen und Völker kollektiv für die Sünden Einzelner verantwortlich. Daniel bereut die Sünden seiner Vorfahren, obwohl nicht zu sehen ist, dass er persönlich an ihnen beteiligt war (Dan 9). In 2. Samuel 21 macht Gott Israel für das Unrecht verantwortlich, das König Saul den Gibeonitern angetan hat, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. In Josua 7 und 4. Mose 16 macht Gott ganze Familien für die Sünde eines einzelnen Mitglieds verantwortlich.

„Die biblische Betonung der Bedeutung der Familie für die Charakterbildung impliziert, dass der Rest der Familie sich nicht gänzlich der Verantwortung für das Verhalten eines ihrer Mitglieder entziehen kann.“
 

In 1. Samuel 15,2 und 5. Mose 23,3–8 macht er die aktuellen Mitglieder eines heidnischen Volkes für die Sünden ihrer Vorfahren verantwortlich, die viele Generationen zuvor begangen wurden. Dafür gibt es drei Gründe:

  • Kollektive Verantwortung: Achans Familie (Jos 7) hat nicht gestohlen, doch sie war daran beteiligt, dass er zu einem Menschen wird, der stiehlt. Die biblische Betonung der Bedeutung der Familie für die Charakterbildung impliziert, dass der Rest der Familie sich nicht gänzlich der Verantwortung für das Verhalten eines ihrer Mitglieder entziehen kann.
  • Kollektive Beteiligung: Sündige Handlungen prägen nicht nur uns, sondern auch die Menschen um uns herum. Wenn wir Sünde begehen, wirkt sich das auf die Menschen in unserem Umfeld aus, wodurch sündige Muster – wenn auch subtiler – über Generationen hinweg wiederholt werden. Wie in 2. Mose 20,5 bestraft Gott also Sünde über Generationen hinweg, weil spätere Generationen normalerweise in der einen oder anderen Form die gleichen Sünden verüben.[9]
  • Institutionalisierte Sünde: Gesellschaftlich institutionalisierte Lebensweisen begünstigen die Mächtigen und Unterdrücker zu Lasten der weniger Mächtigen. Beispiele dafür sind das Ansehen vor Gericht (3Mose 19,15), Geschäftspraktiken wie hoch verzinste Kredite (2Mose 22,25–27; Jer 22,13) und ungerechtfertigt niedrige (Jak 5,4) oder verspätete Löhne (5Mose 24,14–15). Wenn diese Systeme erst einmal etabliert sind, richten sie mehr Unheil an, als ein Einzelner innerhalb des Systems beabsichtigt oder sich dessen überhaupt bewusst ist.

4. Individuelle Verantwortung: Letztlich bin ich für meine Sünden verantwortlich, aber nicht für alle Ergebnisse.

Ergebnisse: Die Bibel lehrt nicht, dass dein Erfolg oder Misserfolg ausschließlich auf individuelle Entscheidungen zurückzuführen ist. Armut kann zum Beispiel durch persönliches Scheitern verursacht werden (Spr 6,6–7; 23,21), aber auch durch Umweltfaktoren wie Hungersnöte und Seuchen oder durch schiere Ungerechtigkeit (Spr 13,23[10]; vgl. 2Mose 22,21–27). Wir haben also keine vollständige Kontrolle über die Ergebnisse in unserem Leben.

Sünden: Obwohl es kollektive Verantwortung und gemeinsames Unrecht gibt, besteht die Bibel darauf, dass unsere Erlösung letztlich an den Entscheidungen des Einzelnen liegt (Hes 18). Es gibt eine asymmetrische Balance zwischen individueller und kollektiver Verantwortung. Nach 5. Mose 24,16 sollen wir in unserem Rechtssystem für unsere eigenen Sünden verantwortlich gemacht und bestraft werden, nicht für die unserer Eltern. Wir werden durch unser Umfeld und die Gesellschaft geprägt, aber nicht vollständig. Wir können uns ihren Mustern widersetzen. Hesekiel 18 zeigt, was passieren kann, wenn wir die Verantwortung der Gemeinschaft zu sehr betonen: Das führt zu „Fatalismus und Verantwortungslosigkeit“.[11] Die Realität der kollektiven Sünde hebt die moralische Verantwortung des Einzelnen nicht auf, genauso wenig wie die individuelle Verantwortung die Realität des kollektiven Bösen aufhebt. Eines davon zu leugnen oder stark zu reduzieren, entspricht eher einer säkularen Haltung als der biblischen Sicht von Gerechtigkeit.[12]

5. Anwaltschaft: Wir sollen uns besonders um die Armen und Ausgegrenzten kümmern.

Wir sollen zwar nicht parteiisch sein (3Mose 19,15), aber unser Augenmerk soll besonders auf den Wehrlosen liegen (Jes 1,17; Ps 41,1). Das ist kein Widerspruch. In Sprüche 31,8–9 heißt es: „Tue deinen Mund auf für den Stummen, für das Recht all derer, die dem Untergang geweiht sind! Tue deinen Mund auf, richte recht und verteidige den Elenden und Armen!“

Der Aufruf, sich für die Reichen und Mächtigen einzusetzen, fehlt nicht deshalb in der Bibel, weil sie vor Gott weniger zählen würden, sondern weil sie es nicht nötig haben. Die Chancen sind nicht gleich verteilt. Wenn wir uns nicht für die Armen einsetzen, wird es keine Gleichheit geben. Bei diesem Aspekt der Gerechtigkeit geht es darum, dass wir denjenigen, die weniger haben, mehr soziales, finanzielles und kulturelles Kapital (Macht) geben. In Jeremia 22,3 heißt es: „Errettet den Beraubten aus der Hand des Unterdrückers; bedrückt nicht den Fremdling, die Waise und die Witwe.“ Jeremia spricht Gruppierungen an, die sich nicht so wie andere selbst vor ungerechter Behandlung schützen können (vgl. Sach 7,9-10).

Das Spektrum von Gerechtigkeitstheorien

Bei dieser kurzen Darstellung der verschiedenen Gerechtigkeitskonzepte in unserer Kultur ist eine gewisse Vereinfachung unvermeidlich.[13] Dennoch besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass es in etwa die folgenden vier Kategorien von Gerechtigkeitstheorien gibt.[14]

Alle Theorien dieses Spektrums sind säkular und gehen von zwei Annahmen aus:

  • Im Gegensatz zu Martin Luther King (vgl. „Letter from Birmingham Jail“) gehen sie alle davon aus, dass es keine transzendenten, absoluten Maßstäbe für Moral gibt, auf die man Gerechtigkeit gründen könnte. Sie glauben an Taylors „immanenten Rahmen“[15], in dem es keine übernatürliche Realität gibt, weshalb moralische Werte von Menschen erfunden werden und Gerechtigkeit an sich erst definiert wird.
  • Sie alle sehen das Wesen des Menschen als ein unbeschriebenes Blatt an, das mit menschlichen Mitteln völlig umgestaltet werden kann, und nicht als etwas von Gott Gegebenes, das gewürdigt werden muss, damit wir gedeihen können.

1. Libertär: „Freiheit“ – Eine gerechte Gesellschaft fördert die Freiheit.

Diese Ansicht, die unlängst von Robert Nozick vertreten wurde, glaubt an eine kleine Anzahl von individuellen Rechten, jedoch nicht an Ansprüche. Menschen haben das Recht, nicht verletzt und geschädigt zu werden, ein absolutes Recht auf Privateigentum, wenn es gerecht verdient wurde, sowie die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Das erste Prinzip, diese Rechte zu schützen, ist ein schlanker Staat, da hohe Steuern ungerecht sind und das Recht auf Privateigentum verletzen. Darüber hinaus versucht ein umfangreicher Staat unweigerlich, Reden, Denken und Versammlungsfreiheit zu regulieren.

„Die libertäre Sichtweise sieht das üble Potenzial des Staates, aber nicht so sehr jenes der Kapitalmärkte, obwohl die menschliche Sünde überall ist und alles beschädigt.“
 

Das zweite Prinzip, diese Rechte zu schützen, ist ein unregulierter freier Markt. Die libertäre Sichtweise ist in hohem Maße individualistisch und beruht auf der impliziten Annahme, dass jeder Mensch sich selbst gehört und sein Lebenserfolg ausschließlich von seinen individuellen Entscheidungen und Bemühungen abhängt.[16]

Kurze biblische Analyse

Erstens leugnet diese Sichtweise die Komplexität dessen, was wir sind – Individuen, die in von Gott eingesetzte Gemeinschaften (Familien, Staaten) eingebettet sind und nach dem Bild des dreieinigen Gottes geschaffen wurden. Die Bibel stellt ein Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und gemeinschaftlicher Verpflichtung her. Im Gegensatz zur Bibel leugnet oder verharmlost der Libertarismus die Rolle unterdrückender sozialer Kräfte, die Menschen in die Armut treiben, und weigert sich zu sehen, dass Sünde ungleiche Voraussetzungen schafft, die durch individuelle Freiheit nicht behoben werden können.

Zweitens leugnet die libertäre Sichtweise die Lehre von der Universalität der Sünde. Sie sieht das üble Potenzial des Staates, aber nicht so sehr jenes der Kapitalmärkte, obwohl die menschliche Sünde überall ist und alles beschädigt.

Drittens transportiert sie ein unbiblisches Verständnis von Freiheit. Der Libertarismus versteht Freiheit in der Regel ausschließlich negativ – als Freiheit von etwas. Aber wir wurden von Gott für etwas geschaffen – um ihn und unseren Nächsten zu lieben –, nicht nur aus Selbstzweck. Je mehr wir dem folgen, wozu wir geschaffen sind, desto freier werden wir sein.

Zuletzt ist das Verständnis von absoluten Rechten an Eigentum und sich selbst nicht mit der biblischen Schöpfungslehre vereinbar. Wir gehören Gott, nicht uns selbst. Das gilt auch für alles, was wir besitzen. Alles, was wir haben, ist letztlich ein Geschenk Gottes und muss geteilt werden.

2. Liberal: „Fairness“ – Eine gerechte Gesellschaft fördert Fairness für alle.

Diese Ansicht, die in jüngster Zeit von John Rawls vertreten wurde, erweitert die Idee der menschlichen Rechte stark zu Ansprüchen (wie Libertäre es nennen würden).[17] Liberale fügen den Freiheitsrechten (Recht auf Rede, Eigentum, Religion) auch soziale oder „ökonomische Rechte“ hinzu (Recht auf Bildung, medizinische Versorgung).[18] Rawls begründet solche Rechte wie folgt: Wenn Menschen eine Gesellschaft entwerfen müssten, ohne zu wissen, wo sie sich darin wiederfinden würden (welcher Rasse, welchem Geschlecht, welchem sozialen Status usw. sie dort angehörten), dann würde jeder aus rein rationalem Eigeninteresse eine Gesellschaft errichten, in der es bedeutende gesetzliche Maßnahmen zur Umverteilung von Reichtum und viele andere wirtschaftliche und soziale Rechte gäbe. Nur eine solche Gesellschaft wäre gerecht und vernünftig. Steht einmal fest, dass ökonomische und soziale Rechte berechtigt sind, dann ist nach liberaler Auffassung in der Gesellschaft kein Konsens über moralische Werte mehr nötig – man muss sich nicht darüber einigen, was allgemein als gut gilt. Vielmehr wird die Achtung der individuellen menschlichen Rechte zur einzig notwendigen moralischen Norm (und ihre Verweigerung zur einzigen Sünde). Dann werden die Menschen frei sein, so zu leben, wie sie es für gut halten.

Ein wesentlicher Unterschied zur libertären Sichtweise besteht darin, dass es hier als gerecht und fair gilt, wenn der Staat den Wohlstand durch Steuern und staatliche Marktkontrolle umverteilt. Dennoch glaubten auch Rawls und die Liberalen, dass eine Art freier Markt der beste Weg wäre, um den Wohlstand einer Gesellschaft zu mehren, der dann gerecht verteilt werden kann. Liberale sind im Grunde dem Kapitalismus dennoch freundlich gesinnt, weil ihr Ansatz letztlich noch sehr individualistisch ist und dem Einzelnen die Freiheit gibt, seine eigene Vorstellung von „gut“, von Moral und vom Sinn des Lebens zu schaffen. Der Liberalismus zielt also nach wie vor nicht auf gleiche Ergebnisse, sondern auf gleiche Chancen für den Einzelnen, sein Glück zu erreichen. Das Ergebnis – also der individuelle Erfolg – wird auch hier durch individuelle Anstrengungen und Arbeitsmoral bestimmt.

Kurze biblische Analyse

Wie viele jüngere Studien gezeigt haben, sind die Überzeugungen des Liberalismus zu Menschenrechten und zur Fürsorge für Arme im Christentum begründet.[19] Wissenschaftler argumentieren, dass diese Überzeugungen von der Auffassung abhängen, dass der Einzelne unbegrenzte Würde und Wert besitzt und dass alle Menschen unabhängig von Rasse, Geschlecht und Klasse gleichwertig sind. Dieser Glaube ist nur in Kulturen entstanden, die von der Bibel beeinflusst und vom Glauben an einen Schöpfergott geprägt sind. Sie zeigen auch, dass der jüdisch-christliche Glaube nicht mit der modernen, säkularen Sicht vereinbar ist, es gebe keine absoluten Moralvorstellungen und der Mensch sei ausschließlich ein Produkt der Evolution. Die Schlussfolgerung ist, dass dieser ältere Glaube an die Menschenwürde in die säkulare, moderne Kultur hineingeschmuggelt wurde. Das bedeutet, dass Christen mit vielem in dieser Gerechtigkeitstheorie einverstanden sein können. Dennoch gibt es, wie MacIntyre gezeigt hat, auch Widersprüche und fatale Fehler im Ansatz des Liberalismus:

Erstens ist die Freiheit des Einzelnen de facto zu einem absoluten Wert geworden, der alles andere außer Kraft setzt. Anders als traditionellere Gesellschaften sind liberale Gesellschaften nicht in der Lage, ein Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit einerseits und der Verpflichtung gegenüber Familie und Gemeinschaft andererseits herzustellen. Das Ergebnis ist die Auflösung von Familien, Nachbarschaften und Institutionen. Es hat sich gezeigt, dass eine Gesellschaft ohne eine Reihe gemeinsamer moralischer Werte (neben dem Bekenntnis zur individuellen Freiheit) und ohne eine gemeinsame Vorstellung davon, wer wir als Menschen sind, nicht vor dem Zerfall bewahrt werden kann. Da der Liberalismus die vorherrschende Gerechtigkeitstheorie war, können der gegenwärtige Tribalismus, der beispiellose Verlust an sozialem Vertrauen und der Zusammenbruch der Institutionen als ein Versagen des Liberalismus angesehen werden. Manche argumentieren, dass Liberalismus in der Gesellschaft nur funktioniert hat, als Religion noch einen großen Stellenwert hatte. Sie konnte den Egoismus ausgleichen, den der Individualismus fördert, und das Gefühl von Solidarität und Gemeinschaft vermitteln, das der Individualismus nicht geben kann. Jetzt, da Religion stark im Niedergang begriffen ist, ist dieses Gleichgewicht nicht mehr gegeben.[20]

Zweitens: Wenn Gerechtigkeit nur darin besteht, individuelle Rechte und Ansprüche zu respektieren, und es keine höheren, absoluten Maßstäbe für Moral gibt, stellt sich die Frage: Wie können wir ein Urteil fällen, wenn verschiedene Rechte miteinander in Konflikt stehen und sich die Rechtsansprüche der Menschen widersprechen, wie das so häufig der Fall ist? Der Liberalismus hat keine Möglichkeit zu bestimmen, ob manche Rechte Vorrang vor anderen haben. Wer gewinnt in der Debatte zwischen Feministinnen und Transsexuellen – und auf welcher Grundlage? Wer am lautesten schreit, oder wer das meiste Geld hat?

Drittens weisen auch säkulare Kritiker darauf hin, dass Rationalität nicht als Grundlage für eine gerechte Gesellschaft ausreicht. Viele haben festgestellt, dass man Rawls’ Argumentation in seinem Gedankenexperiment auch dann nicht zustimmen müsste, wenn die einzige Motivation rationales Eigeninteresse ist. Die Zahl der Armen ist eine Minderheit. Die Chancen stehen also gut, dass du nicht dazugehören wirst. Warum also nicht das Risiko eingehen, eine Gesellschaft zu errichten, die die Armen zum Vorteil der übrigen Gesellschaft ausbeutet? Warum sollte man sich nicht dafür entscheiden, solange man selbst nicht arm sein wird? Die Ausbeutung der Armen kann also durchaus als „vernünftiges Eigeninteresse“ betrachtet werden. Liberale können darauf nicht antworten, dass Ausbeutung der Armen falsch ist, denn indem sie moralische Absolutheiten leugnen, haben sie sich das Recht dazu genommen. Wer sagt denn, dass Ausbeutung in einer Kosten-Nutzen-Analyse nicht vielleicht doch praktischer ist? Es gibt also keine wirklichen Leitplanken, die eine liberale Gesellschaft davor bewahren, sich in Richtung Unterdrückung zu bewegen.

Schließlich ist das liberale Beharren darauf, religiöse Ansichten aus dem öffentlichen Diskurs herauszuhalten, scheinheilig. Religiösen Menschen wird gesagt, dass sie nicht vom Glauben her argumentieren dürfen, sondern nur mit „öffentlicher Vernunft“ und „rationalem Eigeninteresse“. Liberale schmuggeln jedoch selbst ihre eigenen Überzeugungen über das Wesen des Menschen, seine Rechte, Sexualität und viele andere Annahmen in die Debatte ein, die keine Errungenschaften der Wissenschaft sind, sondern aus unserer christlichen Vergangenheit stammen.

3. Utilitaristisch: „Glück“ – Eine gerechte Gesellschaft maximiert das größte Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen.

Dieser dritte Ansatz, der mit John Stuart Mill in Verbindung gebracht wird, ist in der formalen Rechtsprechung nicht so einflussreich, doch sein Grundgedanke leuchtet säkularen Menschen oft intuitiv ein. Man kann sagen, dass der Utilitarismus die öffentliche Debatte über Politik stark bestimmt und hinter vielen individuellen Gerechtigkeitsforderungen steht. Nach dieser Auffassung besteht das Wesen der Gerechtigkeit darin, das größte Glück für die meisten Menschen zu schaffen. Dies ist ein weiterer Versuch, Gerechtigkeit nicht auf absolute Moral zu gründen, sondern auf eine Art „pragmatische Vernunft“. Wenn etwas die Mehrheit der Menschen glücklich macht, dann ist es gerecht. Aber wo sind die Leitplanken? Heißt das, dass alles, was die Mehrheit sich für ihr Glück wünscht, in Ordnung ist? Utilitaristen verwenden das „Schadensprinzip“, um Grenzen einzuführen. Die Menschen sollten die Freiheit haben, alles zu tun, was sie glücklich macht, solange es anderen nicht schadet. Doch individuelle Glücksbestrebungen werden unweigerlich aufeinanderprallen. So ist der letzte Schiedsrichter für die Utilitaristen die Mehrheitsregel. Heute stützen sich die Nachrichtenmedien in hohem Maße auf den Utilitarismus, wenn sie direkt oder indirekt argumentieren, dass die meisten Amerikaner laut Umfragen jetzt für eine Sache sind – weshalb diese Sache jetzt in Ordnung ist. Der Utilitarismus ist nicht so individualistisch wie die ersten beiden Gerechtigkeitstheorien – er ist „mehrheitsfähig“. Viele Utilitaristen sehen individuelle Rechte als Hindernis für das Glück der Mehrheit an. „Wenn du an die Menschenrechte glaubst, bist du wahrscheinlich kein Utilitarist.“[21]

Kurze biblische Analyse

Erstens hat dieser Ansatz keine Sicht von der Schöpfung und achtet daher nicht die Würde des Einzelnen, die nicht angetastet werden darf. Könnte die Mehrheit einer nationalen Bevölkerung ihr Glück so definieren, dass es nur erreicht werden kann, wenn eine Minderheit der Bevölkerung in Internierungslager gesteckt wird? Mit den Grundsätzen des Utilitarismus ließe sich das leicht begründen (vgl. Nazi-Deutschland).

„Nur weil etwas glücklich macht, muss es nicht zwangsläufig richtig sein. Viele dumme und grausame Dinge können uns glücklich machen.“
 

Zweitens hat dieser Ansatz keine Sicht von der Sünde und geht naiv davon aus, dass das, was die Mehrheit glücklich macht, nicht böse sein kann. Nur weil etwas glücklich macht, muss es nicht zwangsläufig richtig sein. Viele dumme und grausame Dinge können uns glücklich machen. Außerdem versteht dieser Ansatz den Menschen nicht als Seele und Körper. Er geht deshalb davon aus, dass „Glück“ durch materiellen Wohlstand und Genuss erreicht werden kann, obwohl viele Kulturen schon seit langer Zeit erkannt haben, dass dies für echtes Glück nicht ausreicht.

Schließlich ist das „Schadensprinzip“ als Richtschnur oder Schutz gegen Missbrauch nutzlos. In dem Moment, in dem man etwas als schädlich bezeichnet, geht man von einer bestimmten menschlichen Natur (wie Menschen leben sollten) und einer Auffassung von richtig und falsch aus. Die Aussage, dass etwas niemandem schadet, beruht auf einem bestimmten Verständnis vom Wesen des Menschen und dem Sinn seines Lebens, was letztlich eine Glaubensfrage ist. Die Befürworter der Gesetze zur Rassentrennung in den USA beriefen sich häufig auf utilitaristische Argumente und das Schadensprinzip. So erklärten sie den Afroamerikanern, die Rassentrennung sei nicht schädlich, sondern zu ihrem Besten. Wenn es keine absolute Moral gibt, wer kann da schon sagen, was gut für eine Minderheit ist? Die Mehrheit (und nicht die Minderheit) darf das bestimmen.

4. Postmodern: „Macht“ – Eine gerechte Gesellschaft kehrt die Machtverhältnisse zugunsten unterdrückter Gruppierungen um.

Die vierte Gerechtigkeitstheorie ist in gewisser Weise die jüngste, obwohl ihr Ursprung älter ist. Auf Grundlage der Lehren von Karl Marx ist die postmoderne Kritische Theorie entstanden, die sich von den anderen Theorien deutlich unterscheidet.[22] Da sie erst in jüngster Zeit Gestalt angenommen hat und so stark in Erscheinung getreten ist, nehmen wir uns mehr Zeit, um sie zu beschreiben und uns mit ihr auseinanderzusetzen.[23] Die postmoderne Kritische Theorie argumentiert:

Erstens ist die Erklärung für ungleiche Verhältnisse bezüglich Wohlstand, Wohlergehen und Einfluss niemals auf individuelle Handlungen bzw. Unterschiede in Kulturen oder menschlichen Fähigkeiten zurückzuführen, sondern einzig und allein auf ungerechte soziale Strukturen und Systeme. Ungleiche Verhältnisse lassen sich nur durch Sozialpolitik korrigieren, nicht indem man von jemandem erwartet, sein Verhalten oder seine Kultur zu ändern.[24]

Zweitens werden Kunst, Religion, Philosophie, Moral, Recht, Medien, Politik, Bildung und Familienformen nicht von Vernunft oder Wahrheit bestimmt, sondern ebenso von gesellschaftlichen Kräften. Alles wird durch Klassenbewusstsein und die gesellschaftliche Position bestimmt. Religiöse Lehren sowie Politik und Recht sind im Grunde immer ein Mittel, um sozialen Status, Reichtum und damit Macht über andere zu erlangen oder zu erhalten.

Drittens ist die Realität darum im Grunde nichts anderes als Macht. Weil das der Fall ist, muss Macht durch „Intersektionalität“ abgebildet werden, um die Realität zu sehen. Ihre Kategorien sind Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität (und manchmal andere). Wenn du weiß, männlich, heterosexuell und cisgender (d.h. nicht transgender, Anm. d. Red.) bist, hast du die meiste Macht. Wenn du nichts davon bist, bist du am meisten ausgegrenzt und unterdrückt. Dazwischen gibt es zahlreiche Kategorien. Besonders wichtig: Je mehr eine Kategorie zum machtlosen Ende des Spektrums neigt, desto größere moralische Autorität besitzt sie und desto größer ist ihre Fähigkeit, die wahren Verhältnisse zu erkennen. Nur Machtlosigkeit und Unterdrückung führen zu moralischer Überlegenheit und wahrer Erkenntnis. Daher dürfen sich die Privilegierten nicht an einer Debatte beteiligen. Sie haben weder das Recht noch die Fähigkeit, den Unterdrückten Ratschläge zu erteilen, da sie durch ihre gesellschaftliche Stellung geblendet sind. Sie müssen einfach ihre Macht aufgeben.

Viertens wird Macht vor allem über Sprache ausgeübt – über „dominante Diskurse“. So wird ein vorherrschender Wahrheitsanspruch bezeichnet, ob er nun auf vermeintlicher Vernunft und Wissenschaft oder auf Religion und Moral beruht. Sprache beschreibt nicht nur die Realität – sie konstruiert und erschafft sie. Hinter der Sprache der Rationalität und Wahrheit verbergen sich Machtstrukturen. So versteckt die akademische Welt ihre ungerechten Strukturen hinter der Rede von „akademischer Freiheit“, Unternehmen hinter der Rede vom „freien Unternehmertum“, Wissenschaft hinter der Rede von „empirischer Objektivität“ und Religion hinter der Rede von „göttlicher Wahrheit“. All diese Wahrheitsansprüche sind in Wirklichkeit nur konstruierte Narrative, die darauf abzielen, Menschen zu beherrschen, und müssen als solche entlarvt werden. Vernünftige Debatten und „Meinungsfreiheit“ sind daher out – sie geben ungerechten Diskursen nur eine Sendezeit. Die einzige Möglichkeit, die Wirklichkeit auf gerechte Weise neu zu konstruieren, besteht darin, die dominanten Diskurse zu untergraben – und das erfordert die Kontrolle der Sprache.

Fünftens können nicht nur Personen, sondern auch Kulturen durch Intersektionalität abgebildet werden. Einerseits ist keine Kultur in irgendeiner Hinsicht besser als eine andere. Alle Kulturen sind gleichwertig. Aber Menschen, die ihre Kultur als besser ansehen und andere Kulturen als minderwertig – oder gar ihre eigene Kultur als „normal“ und andere Kulturen als „exotisch“ –, gehören einer unterdrückerischen Kultur an. Und unterdrückerische Kulturen sind (obwohl dieses Wort nicht verwendet wird) minderwertig – und darum zu verachten.

Schließlich sind weder die individuellen Rechte noch die individuelle Identität entscheidend. Die traditionelle, liberale Betonung der individuellen Menschenrechte (Privateigentum, Redefreiheit) ist ein Hindernis für die radikalen Veränderungen, die eine Gesellschaft durchlaufen muss, um Wohlstand und Macht zu verteilen. Zu glauben, dass sich die Identität des Einzelnen von anderen Menschen derselben Rasse, Ethnie, Geschlechtsidentität usw. unterscheidet oder davon unabhängig ist, ist eine Illusion. In Wahrheit geht es um die Identität und die Rechte der Gruppe. Schuld wird nicht nach individuellen Handlungen zugewiesen, sondern nach Gruppenzugehörigkeit und ethnisch-gesellschaftlichem Status.

Kurze biblische Analyse

Erstens ist diese Theorie zutiefst widersprüchlich. Wenn alle Wahrheitsansprüche und Gerechtigkeitsvorstellungen sozial konstruiert sind, um Macht zu erlangen, warum sind dann die Ansprüche und Vorstellungen der Anhänger dieser Ansicht nicht derselben Kritik ausgesetzt? Warum ist die Behauptung „Das ist Unterdrückung!“ von Verfechtern der postmodernen Gerechtigkeit unbestreitbar moralisch richtig, während alle anderen moralischen Behauptungen bloße soziale Konstruktionen sind? Und wenn jeder von Klassenbewusstsein und gesellschaftlicher Position geblendet ist, warum nicht auch sie?[25] Intersektionalität geht davon aus, dass unterdrückte Menschen die Dinge klar sehen. Doch warum sollte das der Fall sein, wenn gesellschaftliche Kräfte uns doch vollständig zu dem machen, wer wir sind, und kontrollieren, wie wir die Realität verstehen? Sind sie weniger von diesen Kräften geprägt als andere?

„Man kann nicht darauf bestehen, dass Moral immer relativ und kulturell konstruiert ist, und dann seine eigenen moralischen Ansprüche davon ausnehmen.“
 

Und wenn alle Menschen in Machtpositionen (die in sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht das Sagen haben und den öffentlichen Diskurs kontrollieren) diese zwangsläufig zur Unterdrückung anderer nutzen, warum sollten dann Revolutionäre, welche die Unterdrücker an der Spitze der Gesellschaft ersetzen, nicht selbst zu Menschen werden, gegen die man sich wehren muss? Was wäre der Unterschied? Die postmoderne Auffassung von Gerechtigkeit hat keine guten Antworten auf diese Fragen. Man kann nicht darauf bestehen, dass Moral immer relativ und kulturell konstruiert ist, und dann seine eigenen moralischen Ansprüche davon ausnehmen. Diese Schwachstelle kann nicht nur von Christen gesehen werden, was sie zum fatalen Fehler für die ganze Theorie machen könnte.[26]

Zweitens ist sie viel zu vereinfachend. Die postmoderne Auffassung von Gerechtigkeit folgt Rousseau und Marx, die den Menschen als unbeschriebenes Blatt – als von Natur aus gut – ansahen. Alles Böse wird uns von der Gesellschaft und von sozialen Systemen und Kräften eingeflößt. Jeder Missstand (Armut, Verbrechen, Gewalt, Missbrauch) ist also nur auf eines zurückzuführen: auf eine falsche Sozialpolitik. Aus der Bibel wissen wir jedoch, dass wir komplexe Wesen sind: In sozialer Hinsicht sind wir sowohl individuelle als auch soziale Geschöpfe, die nach dem Bild des dreieinigen Gottes geschaffen wurden. Auf moralischer Ebene sind wir sündig und gefallen und als Ebenbilder Gottes doch kostbar und wertvoll. Und wesensmäßig bestehen wir aus Seele und Körper. Die Gründe für das Böse und für ungerechte Lebensverhältnisse sind vielfältig und komplex.

So braucht man ein umfassendes, mehrdimensionales Verständnis menschlichen Wohlergehens, um zum Beispiel einer sozial schwachen Gruppe wirklich zu helfen. Sicherlich bedarf es sozialer Reformen und der Beseitigung systemischer Ungerechtigkeit. Die Menschen brauchen jedoch auch einen Sinn im Leben, starke Familien, Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung, gesunde, funktionierende Gemeinschaften und auch moralische Disziplin. Der postmoderne Ansatz ignoriert die Komplexität menschlichen Gedeihens, weshalb seine Programme nicht wirklich zur Befreiung unterdrückter Menschen beitragen. Er blendet zu viel von dem aus, was uns zu Menschen macht.

Drittens untergräbt sie unser gemeinsames Menschsein. Biblisch gesehen sind wir vor Gott in erster Linie Individuen, die nach seinem Ebenbild geschaffen wurden, und erst in zweiter Linie Mitglieder einer Rasse oder Nationalität. Die postmoderne Sichtweise hingegen gibt der Rassen- oder Gruppenidentität Vorrang vor allem anderen und ersetzt alle Loyalitäten gegenüber der Nation oder der „menschlichen Rasse“ als Ganzes. Hier gibt es kaum noch eine gemeinsame Menschheit, sondern eher mehrere „Menschheiten“.

Viertens leugnet sie deshalb auch unsere gemeinsame Sündhaftigkeit. Die Bibel lehrt, dass die Sünde allgegenwärtig und universell ist. Jeder von uns gehört einer Rasse oder Nationalität an, die auf einzigartige Weise Gottes allgemeine Gnade in die Welt einbringen kann. Doch jede Kultur bringt auch besondere Formen von Sünde und Götzendienst mit sich. Keine Rasse oder Volksgruppe ist von Natur aus schlechter als andere. Aber in dieser postmodernen Sicht von Gerechtigkeit wird Gruppen je nach Machtposition ein höherer oder niedrigerer moralischer Wert zugewiesen und manchen Gruppen werden gar keine heilsamen Eigenschaften zuerkannt. Ganze Rassen als sündiger und böser zu betrachten als andere, führt zu so etwas wie dem Holocaust.

Fünftens verhindert sie Vergebung, Frieden und Versöhnung zwischen den Gruppen. Miroslav Volf schreibt: „Vergebung wird verhindert, weil ich den Feind aus der Gemeinschaft der Menschen ausschließe und mich aus der Gemeinschaft der Sünder.“[27] Ohne das Wort „Sünde“ zu verwenden, tun die Vertreter dieser Auffassung dies ständig. So gerät die Versöhnung ins Wanken.

Sechstens geht sie von einer höchst selbstgerechten Identität durch Leistung aus. Christliche Identität wird aus Gottes gnädiger Hand empfangen, nicht durch unsere Taten. Wir sind geliebt, völlig unabhängig von unserer Leistung. Im Gegensatz dazu bietet dieser Ansatz zwei Formen von Identität, die in hohem Maße von Leistung abhängen: Du musst entweder ein Mitglied einer unterdrückten Gruppe sein, das für Gerechtigkeit kämpft, oder ein weißer Verbündeter, der gegen Rassismus kämpft. Beide Identitäten können (wie alle Identitäten, die nicht auf Christus beruhen) Ängste produzieren, weil man beweisen muss, dass man sich genügend für Gerechtigkeit einsetzt. Die sichere Identität der Christen braucht keine Beschämung, kein „Othering“ (das bedeutet, seine Gruppe durch Abgrenzung von bestimmten anderen Gruppierungen zu definieren, Anm. d. Red.) und keine Denunziation (was immer Teil einer hochgradig performativen Identität ist). Außerdem verändert und heilt die neue christliche Identität (dass wir gleichzeitig Sünder und unendlich geliebt sind) sowohl frühere Unterdrücker (indem auch sie einfach Sünder sind) als auch früher Unterdrückte (indem sie wertvoll sind, vgl. Jak 1,9).

Zuletzt neigt sie selbst zur Gewaltherrschaft. Diese Theorie sieht liberale Werte wie Rede- und Religionsfreiheit als bloße Mittel zur Unterdrückung. Oft wird auf sie als „Freiheiten“ unter Anführungszeichen verwiesen. Entsprechend arbeiten ihre Anhänger ständig mit Wut und Empörung, um Kritiker zum Schweigen zu bringen, und greifen auf Zensur und andere Arten von gesellschaftlichem, wirtschaftlichem und rechtlichem Druck zurück, um gegenteilige Ansichten zu verdrängen. Die postmoderne Sicht geht davon aus, dass alle Ungerechtigkeit auf menschlicher Ebene abläuft. Daher dämonisiert sie die Menschen, anstatt die bösen Kräfte („die Welt, das Fleisch und den Teufel“) zu erkennen, die immer im Leben von Menschen wirken – auch in ihrem eigenen. Letztlich hängen ihre Anhänger einer Utopie an. Sie sehen sich selbst als Retter, anstatt anzuerkennen, dass nur ein wahrer, göttlicher Retter in der Lage sein wird, endlich für Gerechtigkeit zu sorgen. Wenn wir uns mit Ungerechtigkeit auseinandersetzen, haben wir es zwar mit menschlicher Sünde zu tun, doch wir ringen wir nicht (nur) mit Fleisch und Blut (Eph 6,12).

Ein Vergleich dieser Theorien mit biblischer Gerechtigkeit

Erstens spricht nur das biblische Konzept der Gerechtigkeit alle Anliegen an, die in den verschiedenen Theorien zu finden sind.[28] Jede der säkularen Gerechtigkeitstheorie geht auf eine oder mehrere der fünf anfangs erwähnten Facetten biblischer Gerechtigkeit ein, aber keine auf alle.

Zweitens widerspricht biblische Gerechtigkeit allen alternativen Ansätzen, aber weder, indem sie diese verwirft, noch indem sie einen Kompromiss mit ihnen eingeht.

  • Gerechtigkeit in der Bibel ist wesentlich besser fundiert. Sie beruht auf Gottes Charakter (einer absoluten Moral), während die anderen Theorien auf den Wechselwinden menschlicher Kultur beruhen.
  • Biblische Gerechtigkeit geht in ihrer Analyse des menschlichen Zustands tiefer und sieht komplexere Ursachen für Ungerechtigkeit als jeder andere Ansatz: soziale, individuelle, ökologische und geistliche.
  • Gerechtigkeit in der Bibel liefert ein einzigartiges Verständnis von Reichtum und Eigentum, das weder in die modernen Kategorien des Kapitalismus noch des Sozialismus passt.

Drittens hat biblische Gerechtigkeit eingebaute Schutzmechanismen gegen Gewaltherrschaft. Wie wir gesehen haben, ist ein schlüssiger Ansatz zu Gerechtigkeit nur möglich, wenn es absolute moralische Maßstäbe gibt, die universell sind und für alle Menschen in allen Kulturen gelten. Ohne Berufung auf eine nicht gesellschaftlich konstruierte Wahrheit und Moral haben wir keine Möglichkeit, Gerechtigkeit zu fördern.[29] Doch die französischen postmodernen Philosophen hatten recht: In den Händen von Menschen neigen Wahrheitsansprüche zum Totalitarismus bzw. dazu, dass sich Herrschaftskräfte ihrer gerne bedienen. Das Christentum bietet jedoch Wahrheitsansprüche, die Gewaltherrschaft untergraben können. Wie geht das?[30]

  • Das Christentum erhebt nicht den Anspruch, die gesamte Wirklichkeit zu erklären. Es gibt eine enorme Vielzahl an Geheimnissen – Dinge, die uns einfach nicht gesagt werden (vgl. 5Mose 29,29). Es gibt keine „Theorie von allem“, die uns alles auf biowissenschaftliche Weise oder in Begriffen der Theorie gesellschaftlicher Kräfte erklären kann. Die Wirklichkeit und die Menschen sind komplex und im Grunde geheimnisvoll.
  • Das Christentum behauptet nicht, dass sich alle Probleme lösen ließen, wenn man nur unserer Agenda folgte. Meta-Erzählungen haben einen „Wir sind die Retter“-Komplex. Christen glauben, dass wir für Gerechtigkeit kämpfen können – in dem Wissen, dass Gott schließlich alles in Ordnung bringen wird. Doch bis dahin können wir nie erwarten, dass wir die Probleme der Welt vollständig beseitigen können. Das Christentum ist nicht utopisch.
  • Schließlich identifiziert sich Gott durch die ganze Bibel hindurch immer wieder mit den Elenden, Machtlosen und Ausgegrenzten. Die zentrale Geschichte des Alten Testaments ist die Befreiung aus der Sklaverei. Immer wieder sind Gottes Befreier in der Bibel gerade ethnische und gesellschaftliche Außenseiter – Menschen, die in den Augen der Machteliten als schwach und verachtet gelten.
„Christen glauben, dass wir für Gerechtigkeit kämpfen können – in dem Wissen, dass Gott schließlich alles in Ordnung bringen wird. Doch bis dahin können wir nie erwarten, dass wir die Probleme der Welt vollständig beseitigen können. Das Christentum ist nicht utopisch.“
 

Viertens: Nur die Gerechtigkeit der Bibel hat ein radikal subversives Verständnis von Macht. Der postmoderne Ansatz kritisiert zu Recht die liberale und andere säkulare Sichtweisen als blind gegenüber den Macht- und Unterdrückungsmechanismen, die im Leben von Menschen und in der Gesellschaft am Werk sind. Liberale kritisieren die Postmodernen zu Recht dafür, dass sie anfällig (und blind) für ihre eigenen Formen des Machtmissbrauchs ist. Im Gegensatz zu den Liberalen gibt uns die Gerechtigkeit der Bibel eine tiefgründige Darstellung von Macht und ihrer Verderbtheit. Im Gegensatz zu den Postmodernen gibt sie uns jedoch auch ein Modell dafür, wie wir den Umgang mit Macht in der Welt verändern können.

Als Gott in Jesus Christus auf die Erde kam, kam er als armer Mann in eine Familie, die am unteren Ende der sozialen Ordnung stand. Er erlebte Folter und Tod durch die Hand religiöser und staatlicher Eliten, die ihre Macht ungerechtfertigt zur Unterdrückung einsetzten. In Jesus sehen wir also, wie Gott sein Privileg und seine Macht – seine „Herrlichkeit“ – ablegt, um sich mit den Schwachen und Hilflosen zu identifizieren (Phil 2,5–8). Darüber hinaus hat er durch das Ertragen von Gewalt und menschlicher Ungerechtigkeit die rechtmäßige Strafe für die Sünde der Menschheit an die göttliche Gerechtigkeit bezahlt (Jes 53,5). Dann wurde er zu noch größerer Ehre erhoben und auch zur Herrschaftsgewalt (Phil 2,5.9–11). Jesus übernimmt die Herrschaft, aber erst, nachdem er sie im Dienst an den Schwachen und Hilflosen verloren hat.

„In Jesus sehen wir also, wie Gott sein Privileg und seine Macht ablegt, um sich mit den Schwachen und Hilflosen zu identifizieren.“
 

Die Bibel geht also nicht vom Verschwinden jeder Macht aus. Autorität und Macht sind nicht per se falsch. Sie sind sogar in jeder Gesellschaft notwendig. Doch das Christentum kehrt das Herrschaftssystem auch nicht einfach um. Es besetzt nicht bloß die obersten Sprossen der Autoritätsleiter mit neuen Parteien, die Macht genauso unterdrückerisch ausüben, wie es in der Welt üblich ist.

Christlicher Glaube ist im Tod und in der Auferstehung Jesu verwurzelt. Deshalb beseitigt er das Gefüge von Herrschern und Beherrschten nicht oder kehrt es einfach um. Er untergräbt es! Weil Jesus uns rettet, indem er seine Macht allein dafür einsetzt, anderen zu dienen, verändert er unsere Einstellung zur Macht und unseren Umgang mit ihr.[31]

„Weil Jesus uns rettet, indem er seine Macht allein dafür einsetzt, anderen zu dienen, verändert er unsere Einstellung zur Macht und unseren Umgang mit ihr.“
 

Es gibt nichts auf der Welt, das mit biblischer Gerechtigkeit vergleichbar wäre! Christen dürfen ihr Erstgeburtsrecht nicht für einen Teller Suppe verkaufen. Vielmehr müssen sie ihr Erstgeburtsrecht annehmen und Gerechtigkeit üben, Barmherzigkeit lieben und demütig vor ihrem Gott wandeln (Mi 6,8).


[1] Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1988. Vgl. auch Alasdair MacIntyre, „Justice as Virtue: Changing Conceptions”, Kap. 17 in After Virtue: A Study in Moral Theory, 3. Aufl., Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2012.

[2] Die Geschichte der Aufklärung ist komplex. Die meisten Historiker sprechen von „Aufklärungen" im Plural. Alle Denker der Aufklärung versuchten, moralische Werte ohne Rückgriff auf die Religion und allein auf Grundlage der Vernunft zu etablieren, um den Menschen zu helfen, trotz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen in einem Land in Frieden zu leben. John Locke war ein bekennender Christ, der an Gott und das „Naturrecht“ glaubte – an moralische Wahrheiten, die im Universum verankert sind. Doch er trug seinen Teil zum Projekt der Aufklärung bei, indem er argumentierte, dass all diese moralischen Wahrheiten von Gott allein durch die Vernunft erschlossen werden können. John Locke kann also als einer der Urheber unseres modernen westlichen Individualismus gesehen werden, aber er steht nicht in direkter Verbindung mit unserem Säkularismus. Für weitere Informationen über die Auswirkungen des Individualismus, den Locke uns vermacht hat, vgl. Robert Bellah et al., Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life (With a New Preface), Berkeley: University of California Press, 2008.

[3] Hume war selbst kein moralischer Relativist, im Sinne von: „Du hast deine Wahrheit und Moral, und ich habe meine!“ Er glaubte, dass moralische Wahrheiten zwar nicht unabhängig von unseren Gefühlen und Intuitionen objektiv wahr seien, aber dennoch eine Art von Stabilität hätten. Darauf kam er, weil er davon ausging, dass die Gefühle der Menschen über Richtig und Falsch fast vollständig übereinstimmen. Und weil wir uns so weitgehend einig sind, dass z.B. Mord falsch ist, können wir sagen, dass es falsch ist – auch wenn ein bestimmtes Individuum vielleicht anders empfindet. Die Probleme mit Humes Ansicht sind jedoch enorm. Erstens: Wenn die einzige Grundlage für Moral darin besteht, dass unsere gemeinsamen moralischen Gefühle und Intuitionen übereinstimmen; was passiert dann, wenn sie es nicht tun? Nach Hume gibt es kein Zurück zum common sense – weder über das Prinzip des Eigennutzes noch durch Ableitung aus dem Naturrecht. Zweitens: Wenn die einzige Grundlage für Moral das Gefühl der Mehrheit ist, wie kann man dann jemals eine Mehrheit für Ungerechtigkeit gegenüber einer Minderheit zur Rechenschaft ziehen? Wenn die Sklaverei für das moralische Empfinden der meisten Menschen akzeptabel war (und das war sie für Tausende von Jahren), dann könnte es (nach Hume) nichts objektiv Falsches daran gegeben haben. Auf welcher Grundlage könnte jemand zur Mehrheit sagen: „Das ist falsch und muss aufhören“? Wenn Hume recht hat, dann gibt es keine Grundlage für eine solche Bewegung der Gerechtigkeit. Letztendlich wird die Moral unter Humes Prämissen tatsächlich relativ.

[4] Zum Thema Aufklärung und Moral: In unserer Zeit bemühen sich einige säkulare Philosophen um eine Grundlage für Moral, die nicht in Religion wurzelt, aber dennoch nicht in purem, allein auf Gefühlen basierendem Relativismus endet. Das Projekt, eine wissenschaftliche, empirische Basis für Moral zu finden, ist leider keineswegs gelungen, vgl. James Davison Hunter, Paul Nedelisky, Science and the Good: The Tragic Quest for the Foundations of Morality, New Haven: Yale University Press, 2018, und Christian Smith, Atheist Overreach: What Atheism Can't Deliver, New York: Oxford University Press, 2018. Ein Überblick findet sich auch bei Philip Gorski, „Where Do Morals Come From?“, 15.02.2016, online unter: https://www.publicbooks.org/where-do-morals-come-from/ (Stand: 19.04.2022)

[5] MacIntyre, After Virtue, S. 57–59.

[6] Eine ausführlichere biblisch-theologische Darstellung der Gerechtigkeit ist in meinem Artikel „Justice in the Bible“ zu finden.

[7] Bruce K. Waltke, The Book of Proverbs: Chapters 1–15, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2004, S. 97.

[8] Das Jubeljahr (3Mose 25), die Nachlesegesetze und die Definition von saddiq („gerecht sein“) „sind eine scharfe Kritik [sowohl] an 1) einem Etatismus, der den kostbaren Schatz der persönlichen Verwurzelung missachtet, als auch 2) einem ungehemmten Individualismus, der den Einzelnen auf Kosten der Gemeinschaft absichert“. Craig Blomberg, Neither Poverty Nor Riches, Nottingham: Apollos, 1999, S. 46.

[9] Vgl. Abrahams verhängnisvolle Bevorzugung eines Sohnes, die sich sowohl bei Isaak als auch bei Jakob mit schrecklichen Folgen wiederholt (1Mose 12–50).

[10] Sprüche 13,23: „Der Neubruch [d.i. der aus dem verwilderten Brachland durch tiefes Pflügen neu gewonnene Acker, Anm. aus der Fußnote der Schlachter-Übersetzung] der Armen gibt viel Speise, aber der Ertrag mancher Leute wird weggerafft durch Ungerechtigkeit.“ „Neubruch“ ist enorm ertragreiches Land. „Viel Speise“ heißt, dass der Arme hart arbeitet, um es abzuernten. Warum sind sie dann arm? Weil ihr Ertrag „durch Ungerechtigkeit [Hebräisch: lo mishpat] weggerafft wird“. Wir sehen also drei mögliche Ursachen für Armut: umweltbedingt, persönlich oder gesellschaftlich. Nach dem Sprüchebuch entsteht Armut manchmal durch mangelnde Mittel oder persönliche Verantwortungslosigkeit. Aber hier sehen wir, dass Armut auch durch schiere Ungerechtigkeit verursacht werden kann, ohne dass den Armen irgendeine Schuld trifft. (Vgl. Waltke, S. 549–550.)

[11] John B. Taylor, Ezekiel: An Introduction and Commentary, Downer's Grove, IL: Intervarsity Press, 1969, S. 147.

[12] Jahrhundertelang haben Bibelwissenschaftler mit dem Gleichgewicht zwischen kollektiver und individueller Verantwortung in der Bibel gerungen. Mehrere Jahrzehnte lang herrschte die Ansicht, dass Gott mit Israel nur kollektiv und nie individuell umging und dass Hesekiel 18,1–32 eine Neuerung sei. (Mehr dazu bei Gordon Matties, Ezekiel 18 and the Rhetoric of Moral Discourse, Atlanta, GA: Society of Biblical Literature, 1990.) Diese Ansicht wird heute weitgehend als zu vereinfachend verworfen (vgl. Daniel Isaac Block, The Book of Ezekiel, Chapters 1–24, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1997, S. 556). Zunächst einmal forderten schon frühere Texte wie 5. Mose 24,16, dass Richter die Menschen nicht für die Sünden ihrer Eltern oder Kinder verantwortlich machen. Daher sind sich heute die meisten Bibelwissenschaftler einig, dass es in der Bibel sowohl eine kollektive als auch eine individuelle Verantwortung für Sünden gibt. Trotz dieser langen Auslegungsgeschichte bestehen auch heute noch manche darauf, dass jeder Bibellehrer, der von kollektiver Sünde und Verantwortung spricht, moderne liberale oder marxistische Ideen in die Bibel hineinliest. Manchmal räumen sie ein, dass Israel oft kollektiv gerichtet wurde, aber heute sei dies anders. Damit wird ignoriert, dass Gott auch andere Völker für die Sünden ihrer Vorfahren verantwortlich macht (5Mose 23,3–4; Am 1,1–2,5). Wir können also nicht zu dem Schluss kommen, dass jeder Bibellehrer, der von systemischer Ungerechtigkeit oder kollektiver Sünde spricht, dem Text zwangsläufig weltliche Vorstellungen aufzwingt.

[13] Wir sollten auch bedenken, dass Gerechtigkeitstheorien nicht unbedingt politische Kategorien sind. Sowohl politisch Konservative als auch politisch Liberale können zum Beispiel einer der ersten drei Kategorien angehören.

[14] Ich folge im Wesentlichen Michael Sandel, der in seinem Justice: What's the Right Thing to Do?, New York: Farrar, Straus and Giroux, 2009) vier Theorien von Gerechtigkeit aufführt: Libertarismus (Robert Nozick), Utilitarismus (John Stuart Mill), Liberalismus (Kant/John Rawls) und Tugendethik (Aristoteles/MacIntyre). Ich habe die Tugendethik und ihre Gerechtigkeitstheorie ausgelassen, weil sie zwar bei einigen Intellektuellen Anklang findet, aber derzeit keinen kulturellen Einfluss hat. An ihre Stelle habe ich die Identitätspolitik gesetzt, die auf der postmodernen Kritischen Theorie basiert. Sie ist ein höchst einflussreicher neuer Akteur auf diesem Gebiet, die noch nicht so prominent war, als Sandel schrieb. Meine vier Begriffe sind also: libertär, liberal, utilitaristisch und postmodern.

[15] Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.

[16] Lockes Naturrechte sind das Recht auf Leben, Freiheit und Privateigentum. In seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung vertrat John Locke die These, dass Menschen ein Recht darauf haben, dass ihr physisches Leben geschützt und erhalten wird, dass sie frei entscheiden können, wie sie leben wollen, sofern sie die Freiheit anderer nicht beeinträchtigen, und dass sie ein Recht auf Eigentum haben. Dazu zählte er nicht nur das Privateigentum, sondern dass jeder Mensch sich selbst gehört. Manche argumentieren, dass es sich hierbei um „negative Rechte“ handelt, weil sie v.a. beinhalten, was uns nicht passieren soll (z. B. Mord, Gefängnis ohne Gerichtsverfahren, Diebstahl, Überregulierung des Verhaltens).

[17] Nach Sandel baut Rawls’ Ansicht auf Immanuel Kants Konzept von Rechten auf, das sehr viel weiter geht als bei Locke. (Sandel, Justice, S. 140.) Kants „kategorischer Imperativ“ besteht darauf, dass jede Einzelperson aufgrund ihrer Eigenschaft als vernunftbegabtes Wesen „nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck“ zu behandeln ist. Viele haben darin eine Version der christlichen Lehre vom Ebenbild Gottes gesehen, doch das trifft nicht zu. Jedes Konzept von Rechten, das sich auf bestimmte Fähigkeiten stützt (wie Rationalität oder die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen), eröffnet die Möglichkeit, dass manchen Menschen (alte Menschen, Kleinkinder, Behinderte), denen diese Fähigkeit fehlt, die Rechte abgesprochen werden. Vgl. Nicholas Wolterstorff, „Is a Secular Grounding of Human Rights Possible?“, in Justice: Rights and Wrongs, Princeton, NJ: Princeton University Press, 2010, S. 223–241.

[18] Ein Beispiel für die Auseinandersetzung um „ökonomische und soziale Rechte“ ist die jüngste Kontroverse um die von Außenminister Mike Pompeo eingesetzte Kommission für unveräußerliche Rechte. Die Kommission gab den „Lockeschen“ Rechten (Redefreiheit, Religionsfreiheit und Recht auf Eigentum) Vorrang vor den sozialen und ökonomischen Rechten. Die Mainstream-Presse reagierte schockiert. Doch die Kontroverse ist nichts anderes als die neueste Auflage der alten Debatte zwischen Robert Nozick und John Rawls darüber, was als „Recht“ gilt. Ohne den ideologischen und historischen Hintergrund zu verstehen, konnten die Journalisten nicht begreifen, was vor sich ging. Vgl. Pranshu Verma, „Pompeo Says Human Rights Policy must Prioritize Property Rights and Religion“ in: New York Times, 16.07.2020, online unter: https://www.nytimes.com/2020/07/16/us/politics/pompeo-human-rights-policy.html(Stand: 19.04.2022).

[19] Vgl. z.B. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, und Larry Siedentop, Inventing the Individual: The Origins of Western Liberalism, Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press, 2014. In den letzten Jahren haben diese beiden Forscher und Wissenschaftler wie Philip Gorski aus Yale, Eric Nelson aus Harvard und viele andere argumentiert, dass der christliche Glaube der Ursprung der westlich-liberalen Werte ist, nämlich der Menschenrechte und der Fürsorge für die Armen. In neuester Zeit hat Tom Holland den Forschungsstand in seinem langen, aber allgemein verständlichen Buch Dominion: How the Christian Revolution Remade the World, New York: Basic Books, 2019, zusammengefasst. Natürlich war es Friedrich Nietzsche, der als Erster argumentierte, dass es ohne den Glauben an den christlichen Gott keine Grundlage für den Glauben an gleiche Menschenrechte und Menschenwürde gibt, und dass alle Liberalen, die solche Werte vertreten, in Wirklichkeit immer noch christlich sind (zumindest in diesem Teil ihres Denkens), ohne es zuzugeben.

[20] Vgl. v.a. Robert Bellah et al., Habits of the Heart.

[21] Sandel, Justice, S. 103.

[22] In ihrer Entstehungsgeschichte verschmelzen mehrere wichtige Strömungen oder Denkschulen: Historisch machen die Lehren von Karl Marx den Anfang, wonach die gesamte Wirklichkeit von gesellschaftlichen Kräften bestimmt ist, weshalb nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Überzeugungen zu Wahrheit und Moral von unserem Klassenbewusstsein bestimmt werden. Doch Marx nutzte diesen radikalen Grundgedanken fast ausschließlich zur Kritik an Wirtschaftssystemen und gesellschaftlichem Klassenbewusstsein. Im 20. Jahrhundert begannen Architekten der „modernen kritischen Theorie“ wie Adorno und Marcuse, mit dieser marxistischen Analyse die Kultur in all ihren Formen zu kritisieren. Ihr Ziel war es, die verborgenen Machtspiele offenzulegen, mit denen die Oberschicht das Proletariat unterdrückt hielt – nicht so sehr durch die Macht des Gesetzes, sondern durch die Macht von Kultur, Kunst und Geschichte. Französische Postmoderne wie Derrida, Foucault und Lyotard gingen dann noch weiter, indem sie ausführlich über die Instabilität von Sprache nachdachten und zu dem Schluss kamen, dass jeder Wahrheitsanspruch ein Machtakt sei. Von der Wirklichkeit blieb nichts mehr übrig, außer Macht. Diese frühen, französischen Denker der Postmoderne waren jedoch äußerst skeptisch gegenüber sozialen Reformen und gingen davon aus, dass jede Gerechtigkeitstheorie selbst zu einem Unterdrückungsinstrument werden würde. (Deshalb lehnten sie den klassischen Marxismus ab.) Ein Grund für ihre tiefe Skepsis war die Konsequenz ihres Denkens: Wenn alle Wahrheitsansprüche und großen Visionen dazu dienen, Menschen zu unterdrücken, dann kann niemand, der Thesen zu Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufstellt, dieser Unterdrückung entgehen – ganz gleich, wie gut er es meint. Wer kann überhaupt sagen, was Wahrheit und Gerechtigkeit ist? Alles, was wir tun und sagen, übt Macht über Menschen aus. Das Beste ist also, sich selbst und anderen ein Stück Freiheit zu verschaffen, indem man alle großen Visionen dekonstruiert, sich selbst persönlich definiert und sich von allen Strömungen fernhält. Ab den späten 1980er-Jahren griffen besonders an amerikanischen Universitäten Leute wie Derrick Bell, Kimberlé Crenshaw, Judith Butler u.v.a. auf, was die französischen postmodernen Philosophen über Macht und Wahrheit sagten, ohne es (wie ihre Vordenker) auch auf sich selbst zu beziehen. Stattdessen verbanden sie eine positivere Sichtweise des Sozialismus mit der Postmoderne. Diese „postmoderne kritische Theorie“ ist eine Strategie für radikalen sozialen Wandel, die nicht nur traditionelle und religiöse Ansichten umstürzen will, sondern auch den säkularen, individualistischen Liberalismus.

[23] Mehr zur Entwicklung aktueller Denkschulen aus früheren Strömungen: Charles Taylor zeigt in Ein säkulares Zeitalter, wie sich der moderne Säkularismus aus der Aufklärung und anderen älteren Bewegungen entwickelt hat. Dies geschah nicht in direkter Linie, sondern im „Zickzack“, mit Ironie und unbeabsichtigten Folgen. So ist der Marxismus weder mit der neomarxistischen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule identisch noch mit den französischen Poststrukturalisten oder den postmodernen Kritischen Theoretikern nach 1989. Jede Gruppe stand den anderen sehr kritisch gegenüber. Marxisten wie Terry Eagleton sehen Poststrukturalisten wie Foucault und Derrida sehr kritisch (vgl. Terry Eagleton, The Illusions of Postmodernism, Oxford: Blackwell Publishers, 1996) und Derrida lehnt den klassischen Marxismus ab (vgl. Jacques Derrida, Specters of Marx: The State of Debt, the Work of Mourning and the New International, 1993). Doch die Verbindungen zwischen diesen Bewegungen sind weithin anerkannt. Derrida schreibt in Specters of Marx sogar, dass „die Dekonstruktion auch in der Tradition eines bestimmten Marxismus, in einem bestimmten Geist des Marxismus steht“ und „man das Erbe des Marxismus annehmen muss“. Taylor hat also recht mit den Zickzacklinien. Ein weiteres Beispiel: Taylor zeigt, wie der Poststrukturalismus (bzw. das, was er „die immanente Gegenaufklärung“ nennt) genauso, wenn nicht sogar mehr, von Nietzsche herrührt wie von Marx, obwohl Nietzsche den Marxismus verachtete. Mehr darüber, wie der Poststrukturalismus von der späteren Kritischen Theorie aufgegriffen wurde – in mancher Hinsicht verworfen, in anderer Hinsicht übernommen –, findet sich bei Walter Truett Anderson, The Truth About the Truth: de-confusing and re-constructing the postmodern world, New York: Putnam, 1995, später in gekürzter Form als The Fontana Post-modernism Reader, London: Fontana Press, 1996 veröffentlicht.

[24] Ein interessantes Beispiel für die Ideologie, dass alle Ungleichheiten auf die Gesellschaft zurückzuführen sind, ist Ibram X. Kendi, „Stop Blaming Young Voters for Not Turning Out for Sanders“ in The Atlantic, 17.03.2020, online unter https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/03/stop-blaming-young-voters-not-turning-out-sanders/608137/ (Stand: 19.04.2022). Kendi spricht das Dauerproblem an, dass viel mehr ältere Menschen zur Wahl gehen als jüngere. Dies ist seit vielen Generationen so. Die meisten Beobachter haben das auf eher innere Faktoren zurückgeführt: Jüngere Erwachsene sind mobiler und tendenziell weniger an einem bestimmten Ort verwurzelt und verbunden; die „Jugendkultur“ legt weniger Wert darauf usw. Kendi lehnt es ab, persönlichen oder kulturellen Faktoren überhaupt einen Einfluss zuzuschreiben. Alle Unterschiede im Ergebnis müssen mit „strukturellen“ Faktoren oder der Gesellschaftspolitik zu tun haben. Er schreibt: „Es gibt nur zwei Ursachen für die historischen und anhaltenden Unterschiede im Wahlverhalten zwischen jüngeren und älteren Amerikanern. Entweder stimmt etwas mit den jungen Amerikanern als Gruppe nicht oder mit unserer Wahlpolitik. Entweder sind andere Wechselwähler unzuverlässig oder unser Wahlsystem. Entweder stimmt etwas nicht mit den Menschen oder mit der Politik.“

[25] Ein Beispiel: „Obwohl ich glaube, dass Werte eher sozial konstruiert als gottgegeben sind ..., glaube ich nicht, dass die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vertretbarer ist als die Ungleichheit zwischen den Rassen, trotz wiederholter Versuche, sie als kulturspezifische ‚Gewohnheit‘ und nicht als Ungerechtigkeit darzustellen.“ Mari Ruti, The Call of Character: Living a Life Worth Living, New York: Columbia University Press, 2014, S. 36. Im selben Satz sagt sie, dass alle Werte sozial konstruiert sind, aber ihre Ansichten zur Ungerechtigkeit nicht. Dieser sich selbst rechtfertigende, in sich widersprüchliche Ansatz zur Gerechtigkeit ist typisch für unsere Zeit.

[26] Zu den enormen Schwierigkeiten, die Marxismus, Postmoderne und verschiedene Formen der Kritischen Theorie damit haben, moralische Aussagen über Wert oder Wahrheit zu machen, vgl. das wichtige Werk von Steven Lukes, Marxism and Morality, Oxford: Oxford University Press, 1985, und Christopher Butler, Postmodernism: A Very Short Introduction, Oxford: Oxford University Press, 2002. Lukes, der, soweit ich weiß, selbst Marxist ist, schreibt über das „Paradox“ oder die Widersprüchlichkeit des Marxismus: „[Der Marxismus behauptet] einerseits, dass Moral eine Form von Ideologie ist und somit einen gesellschaftlichen Ursprung hat, in ihrem Inhalt illusorisch ist und im Dienste von Klasseninteressen steht; dass jede gegebene Moral ... auf eine bestimmte Produktionsweise und bestimmte Klasseninteressen bezogen ist; dass es keine objektiven Wahrheiten oder ewigen moralischen Prinzipien gibt und dass die Form von Moral und allgemeine Ideen wie Freiheit und Gerechtigkeit voller bürgerlicher Vorurteile sind, hinter denen ebenso viele bürgerliche Interessen lauern.“ (Lukes lässt hier Marx und Engels zu Wort kommen.) „Andererseits“, so Lukes weiter, „kann niemand übersehen, dass die Schriften von Marx und anderen Marxisten voller moralischer Urteilen sind, implizit und explizit.“ (Lukes, Marxism and Morality, S. 3.) Spätere Poststrukturalisten und Kritische Theoretiker beteiligen sich an demselben Widerspruch, wenn sie von Moral als „gesellschaftlich konstruiert“ sprechen und dennoch weiterhin implizite moralische Thesen aufstellen, die sie nicht als relativ und konstruiert behandeln. Mehr dazu, dass alle Formen des modernen Säkularismus „unzureichende moralische Quellen haben, um ihre hohen moralischen Ideale zu stützen“, findest du bei Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Kapitel 15: „Der immanente Rahmen“, Kap. 16: „Gegenläufiger Druck“, Kap. 17: „Dilemmata“ und Kap. 19: „Unruhige Fronten der Moderne“, S. 899–1204.

[27] Miroslav Volf, The Spacious Heart: Essays on Identity and Belonging, Valley Forge, PA: Trinity Press International, 1997, S. 57.

[28] Auch wenn ich nicht möchte, dass Christen sich einer dieser säkularen Ansätze von Gerechtigkeit vollständig verschreiben, will ich nicht den Eindruck erwecken, dass die vier Ansichten alle im gleichen Maße gültig oder mangelhaft sind. Ich plädiere nicht für die moralische Gleichwertigkeit dieser vier Ansichten, obwohl mein Artikel so gelesen werden könnte. Ich habe sicherlich meine Favoriten und sehe einige näher an der biblischen Gerechtigkeit und andere weiter davon entfernt. Die Frage zu beantworten, mit welchem Ansatz Christen am besten arbeiten können, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

[29] MacIntyre zeigt in seinem Kapitel, in dem er den libertären Ansatz (Nozick) mit dem liberalen vergleicht, dass die Argumente letztlich auf die beiden Aussagen „Ich verdiene das!“ oder „Die Armen verdienen das!“ hinauslaufen. Doch wie er zeigt, kann eine säkulare Sichtweise keine dieser Aussagen treffen, weil sie eine solche Sprache und derartige Argumente freiwillig aufgegeben haben. In einem Universum, in dem wir einfach grundlos aufgetaucht sind, durch einen im Grunde gewaltsamen Prozess, können wir nicht davon sprechen, dass irgendetwas „verdient“ oder richtig oder falsch ist. Säkulare Denker könnten eigentlich nur vorbringen, dass die Ermordung von Menschen oder das Aushungern der Armen aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse für ein vereinbartes Ziel unpraktisch ist. Doch wie MacIntyre betont, kann keiner der Vertreter dieser Positionen solche Begriffe vermeiden. Sie „schmuggeln“ unweigerlich eine Sprache der Moral und Tugend ein, die ihr eigenes Weltbild nicht unterstützen kann. Das sollte ihnen zu denken geben. Vgl. Kapitel 17 in MacIntyre, After Virtue.

[30] Zu den Grundgedanken dieses Absatzes vgl. Richard Bauckham, „Reading Scripture as a Coherent Story“, in: Richard B. Hays und Ellen F. Davis (Hrsg.), The Art of Reading Scripture, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2003, S. 45–55. Diese Gedanken erläutere ich in Kapitel 10: „Gerechtigkeit ohne neue Unterdrücker“ in Glaube wozu? Religion im Zeitalter der Skepsis, Gießen: Brunnen Verlag, 2019, S. 248–272.

[31] Den Grundgedanken in diesem Schlussabsatz zu Christsein und Macht verdanke ich Christopher Watkin; vgl. sein Buch Michel Foucault, Phillipsburg, NJ: Presbyterian and Reformed Publishing, 2018.