Allenthalben Barmherzigkeit

Calvins missverstandene Erwählungslehre

Artikel von David Gibson
1. Juni 2022 — 39 Min Lesedauer
„Alles, was wir über Johannes Calvin wissen, ist, dass er ein Schotte aus dem achtzehnten Jahrhundert war, ein prüder Obskurant mit einer Schnalle am Hut, vielleicht ein Hexenverbrenner, auf jeden Fall die wahre Seele des Kapitalismus.“[1]

Johannes Calvins Erwählungs- und Prädestinationslehre wird häufig angeprangert, missverstanden und nur selten vernünftig erklärt. Der letzte Punkt mag erstaunen. Ist denn Calvin nicht gerade für seine Lehre von der Erwählung und Prädestination so berühmt wie berüchtigt?

Es ist einige Zeit her, da untersuchte ich drei Jahre lang Calvins biblische Exegese der Erwählung und parallel dazu die des schweizerisch-deutschen Theologen Karl Barth (1886–1968). Der Schatten von Calvins Erwählungslehre lag schwer auf Barth, und ich ging davon aus, dass sie in der wissenschaftlichen Literatur den entsprechenden Widerhall gefunden haben muss. Zu meinem Erstaunen stellte ich jedoch fest, dass es zu dieser Zeit nur eine einzige veröffentlichte englische Monographie gab, die sich ausschließlich Calvins Lehre von Erwählung und Prädestination widmete.[2] Angesichts einer Lehre, die so gern mit Calvin und den modernen Formen jener christlichen Tradition, die man unglücklicherweise als „Calvinismus“ kennt, in Verbindung gebracht wird, ist es erstaunlich, dass seinen Ansichten in diesem Bereich so wenig Beachtung geschenkt wurde. Nun ist es freilich nicht so, dass nichts geschrieben wurde. Es gibt in englischer Sprache Zeitschriftenartikel, Dissertationen und Buchkapitel zu diesem Thema. Aber die Überraschung bleibt, wenn man bedenkt, wie viele andere Aspekte von Calvins Denken in den letzten Jahren in eigenständigen Büchern behandelt wurden, während seine berüchtigten Ansichten über Erwählung und Prädestination unbeachtet blieben.

Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, warum Calvins Theologie der Erwählung und Prädestination so sehr übersehen wurde. Schön wäre es, wenn sich als einer der Gründe herausstellen würde (wie Richard Muller und andere uns in Erinnerung gerufen haben), dass es so etwas wie „Calvins Lehre von der Erwählung“ in Wirklichkeit gar nicht gibt – wenn wir damit also etwas meinen, das ausschließlich Calvin eigen ist. Denn eines der großen Anliegen von Calvins theologischen Schriften war, zu zeigen, dass er weder im Hinblick auf die Bibel noch innerhalb der Tradition etwas Neues erfand.

Doch ich denke nicht, dass diese wissenschaftliche Erkenntnis bisher großen Einfluss auf die landläufige und noch nicht einmal auf die akademische Meinung über Calvin hatte. Viel wahrscheinlicher ist, dass so wenig über Calvin und die Erwählung geschrieben wurde, weil so viel als gegeben vorausgesetzt wurde. Das eingangs zitierte Epigramm ist zwar herrlich ironisch, aber leider liest nicht jeder Calvin so wohlwollend wie Marilynne Robinson. Wenn es um seine Lehre von der Erwählung geht, reicht das Spektrum der Meinungen von der weit verbreiteten Auffassung, Calvins Ansichten ließen sich auf die doppelte Prädestination verkürzen, ohne dass es noch viel mehr zu sagen gäbe, über ein leichtes Unbehagen (selbst bei seinen Anhängern) angesichts einiger schärferer Elemente in seiner Darstellung bis hin zu akademischer Zurückhaltung oder gar völliger Ablehnung. Die letztgenannten Positionen haben zweifellos viele Ursachen, aber in einigen Kreisen sind sie sicherlich auf Karl Barths bahnbrechende Neubearbeitung der Lehre von der Erwählung in seiner Kirchlichen Dogmatik zurückzuführen. Gerade weil Barth so ernsthaft mit Calvins Ansatz rang, mit dem Ziel ihn zu überwinden, neigen diejenigen, die in Barths Fußstapfen treten, dazu, Calvin historisch interessant, aber theologisch veraltet zu finden.

In dieser kurzen Abhandlung möchte ich mich von all diesen Ansichten distanzieren, indem ich einen Überblick darüber gebe, wie und was Calvin über die Lehre von der Erwählung dachte. Meine These ist, dass Calvins „Was“ durch sein „Wie“ erheblich erhellt wird, und ich hoffe, dass ich ihn uns damit als Vorbild für ein ehrfürchtiges theologisches Denken vor Augen stellen kann, das uns auf viel mehr Ebenen als nur in der Frage der Erwählung etwas zu sagen hat.[3]

Ich werde in zwei Schritten vorgehen: Zunächst werden wir uns ansehen, was wir aus der Institutio darüber lernen können, wie Calvin zufolge die Lehre von der Erwählung in der Bibel zu verstehen ist; zweitens werden wir prüfen, welche Formen die Erwählung für Calvin jeweils annahm, wenn wir sie aus fünf hermeneutischen Perspektiven betrachten, die seinen Blick auf diese Lehre prägten.

Die Institutio als Wegweiser zur Bibel

Am auffälligsten an Calvins Erwählungslehre in der Institutio ist vielleicht der Umfang, in welchem er sich diesem Thema widmet. Seine Behandlung der Erwählung beginnt gegen Ende von Buch III nach etwa zwanzig Kapiteln, in denen er bereits diskutiert hat, wie wir die Gnade Christi empfangen. In Anbetracht dessen, dass die Institutio zu Calvins Lebzeiten mehrere zunehmend erweiterte Ausgaben erfuhr, und in Anbetracht dessen, dass Calvin in der letzten Ausgabe von 1559 seine Abhandlungen über die Vorsehung und über die Prädestination voneinander trennte (wobei er die Vorsehung in seine Abhandlung über die Erkenntnis Gottes, des Schöpfers, in Buch I aufnahm, die Prädestination aber mehr oder weniger dort beließ, wo sie seit 1539 immer gestanden hatte), scheint es gerechtfertigt, zu sagen, dass Calvin sehr gute Gründe dafür hatte, die Erwählung dort zu platzieren, wo er es tat. Welche Gründe könnten das sein?

Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, die Zielsetzung von Calvins Institutio zu verstehen. Betrachten wir sein Geleitwort:

„Weiterhin habe ich bei dieser Arbeit die Absicht verfolgt, die Kandidaten der heiligen Theologie so zum Lesen des göttlichen Wortes vorzubereiten und anzuleiten, dass sie einen leichten Zugang zu ihm haben und sich in ihm mit ungehindertem Schritt vorwärtsbewegen können. Denn ich meine, die Summe der Religion in allen Abschnitten so zusammengefasst und in einer solchen Anordnung dargestellt zu haben, dass es jedem, der sich richtig daran hält, nicht schwer fallen dürfte zu entscheiden, was er insbesondere in der Schrift suchen und auf welches Ziel er alles in ihr Enthaltene ausrichten soll. Wenn ich, nachdem so gleichsam der Weg gebahnt ist, künftig Auslegungen der Schrift herausgeben werde, dann werde ich diese immer auf eine knappe Darlegung beschränken, da es entbehrlich ist, über die Lehrinhalte lange Auseinandersetzungen zu führen und sich über die Hauptbegriffe auszubreiten. Durch dieses Vorgehen wird der fromme Leser von großem Verdruss und Erschöpfung entlastet – vorausgesetzt, er nähert sich dem Inhalt, indem er über die Kenntnis des vorliegenden Werkes als einer unverzichtbaren Voraussetzung verfügt.“[4]

Diese Worte stellen nicht nur klar, dass Calvin seine Institutio nie als die Summe seines theologischen Denkens verstanden wissen wollte, sondern sie verdeutlichen auch sein Anliegen, dass dieser Text zusammen mit allen nachfolgenden Kommentaren gelesen werden sollte. Die Calvin-Forschung hat die symbiotische, sich ergänzende Beziehung nachgewiesen, die zwischen der sich entwickelnden Form der Institutio einerseits und Calvins Kommentaren, Predigten und weiteren exegetischen Werken andererseits besteht, so dass die aufeinanderfolgenden Ausgaben der ersteren durch Calvins umfangreiche Veröffentlichungen der letzteren verfeinert, ergänzt und geprägt wurden.[5]

„Aus der Bibel geschöpft und von der Bibel geformt, versteht sich die Institutio als eine Landkarte zur Bibel.“
 

Man beachte aber auch die angestrebte Wirkung dieser Vorrede auf die Leser der Heiligen Schrift: Calvin sagt nicht, dass er die Kandidaten in der Theologie unterweisen, sondern vielmehr, dass er sie „zum Lesen des göttlichen Wortes“ anleiten wolle. Calvins Zielsetzung ist folgende: Wenn jemand seine Gliederung der christlichen Lehre in diesem Text richtig versteht, dann wird er sowohl wissen, wonach er im biblischen Text suchen muss, als auch in der Lage sein, die einzelnen Teile teleologisch zu lesen. Es besteht ein klarer, fortlaufender Übergang von der Lehrdiskussion zum biblischen Text. Calvin will jenen, die seinen Lehrtext lesen, helfen die Bibel zu lesen.

Aufschlussreich sind die hermeneutischen Metaphern, die er verwendet. Die Institutio ist wie ein Schlüssel – sie will einen „leichten Zugang“ zur Schrift gewähren; wie eine Fackel oder ein Wegweiser – sie soll es möglich machen, „in ihr ohne Stolpern vorwärts zu kommen“; wie eine Landkarte – die einzelnen Teile werden so angeordnet, dass der Weg „geebnet“ ist; wie eine Waffe – der gottesfürchtige Leser soll die Schrift „bewaffnet“ und mit dem „Werkzeug“ der Institutio angehen. Calvins Absicht ist klar. Aus der Bibel geschöpft und von der Bibel geformt, versteht sich die Institutio als eine Landkarte zur Bibel; als Produkt der Exegese soll sie ein leuchtender Wegweiser für die weitere Exegese sein. Calvin lehrt in der Institutio nicht nur hermeneutische Grundlagen; die Institutio ist selbst als Hermeneutik gedacht.

Das Wesen des rettenden Glaubens

Das zeigt: Calvin möchte uns durch das, was wir in seiner Institutio über Erwählung erfahren, zu einem besseren Verständnis dessen verhelfen, was wir in der Bibel über Erwählung lesen. Doch während in der Vorrede diese Absicht formuliert ist – die Summe der Religion in all ihren Teilen so zu ordnen, dass sie uns hilft, die Bibel richtig zu lesen –, taucht in Buch III ein sehr seltsames Element auf. Denn dort beginnt Calvin bei der Einheit mit Christus und geht dann von der Heiligung über die Rechtfertigung weiter zur Prädestination, wobei er diese drei Themen in umgekehrter Reihenfolge dessen behandelt, was er als ihre logische Beziehung ansieht. Ist das nicht widersinnig? Wie soll uns eine solche Anordnung in einem Lehrtext zu guten Auslegern der Schrift machen? Darauf antworte ich: Calvin hat die Lehre von der Erwählung in eine größere Argumentationskette über das Wesen des rettenden Glaubens eingebettet, die nach seinem Verständnis die Bedeutung der Erwählung erhellt und uns somit hilft, die Schrift bestmöglich auszulegen. Buch III trägt den Titel „Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden“, und hier stellt Calvin die Einheit mit Christus durch den Geist als das Herzstück seiner Soteriologie dar. „Da muss man zunächst festhalten: Solange Christus außerhalb von uns bleibt und wir von ihm getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit erlitten und getan hat, für uns ohne Nutzen und gar ohne jeden Belang!“[6] Allein der Glaube an Christus ist der Weg, auf dem wir seine Wohltaten erfahren.

Gleichzeitig ist Calvins Lehre vom Glauben angesichts der Tatsache, dass „nicht alle unterschiedslos die Gemeinschaft mit Christus ergreifen, die uns im Evangelium angeboten wird“, an die „verborgene Wirksamkeit des Heiligen Geistes“ gebunden.[7] Die Einleitung seines Hauptthemas enthält hier Hinweise auf die Frage nach dem Ursprung des Glaubens, die Calvin in seiner Lehre von der Erwählung noch ausdrücklich behandeln wird. Bevor er jedoch in III,21 auf die Erwählung eingeht, erläutert Calvin zunächst den Glauben (wobei er seine Definition der römisch-katholischen Auffassung entgegenstellt), dann die Heiligung, dann die Rechtfertigung, dann die christliche Freiheit und das Gebet, bevor er sich schließlich der Erwählung zuwendet. Was sagt uns das? Eine der aufschlussreichsten Abhandlungen über Calvins Anordnung stammt von Richard B. Gaffin. Gaffin stellt zu Recht die Bedeutung des polemischen Materials in Buch III fest und weist darauf hin, dass „die ständig widerhallende Anklage aus Rom zu dieser Zeit … lautete, dass die protestantische Rechtfertigungslehre, die von einer allein durch den Glauben empfangenen, gnädig zugerechneten Gerechtigkeit ausgeht, geistiger Trägheit und einem Desinteresse an einem heiligen Leben Vorschub leistet“.[8] Calvins Antwort auf diese Vorwürfe besteht nicht in erster Linie darin, auf der protestantischen Definition von Rechtfertigung zu beharren, sondern Glauben so zu definieren, dass der Streit mit Rom im Kern angesprochen wird. In Gaffins Worten: „Calvin entkräftet den Vorwurf Roms, indem er zeigt, dass nach protestantischem Verständnis der Glaube eine Bereitschaft zur Heiligkeit ohne besonderen Bezug zur Rechtfertigung beinhaltet, ein Streben nach Frömmigkeit, das nicht nur als eine Folge der Rechtfertigung zu verstehen ist.“[9]

Calvin kann die Heiligung vor der Rechtfertigung, und wiederum beide vor der Prädestination behandeln, weil er darauf abzielt, dass das Wesen des Glaubens an sich Aufschluss über den jeweiligen Inhalt dieser lehrmäßigen Themen gibt. Sie sind jeweils Beispiele dafür, wie „unser Heil allein aus Gottes purer Freigiebigkeit“ und in keiner Weise aus unseren Werken erwächst. Calvin lehrt, dass das Wesen des Glaubens untrennbar mit dem Bewusstsein unserer Not und mit unserem Bedürfnis nach einem barmherzigen Gott verbunden ist. In diesem Kontext bietet Calvin seine Definition des Glaubens an: „Jetzt sind wir so weit, dass wir eine richtige Beschreibung vom Wesen des Glaubens geben können; wir müssen sagen: er ist die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird.“[10]

Durch die Einbettung seiner Definition in einen trinitarischen Rahmen bietet Calvin eine rein monergistische Darstellung der Aktivitäten des Glaubens: Der Glaube ist eine Erkenntnis der Barmherzigkeit und Gunst Gottes, er gründet sich auf eine in Christus frei gegebene Verheißung, und er wird allein durch das Wirken des Geistes geoffenbart und besiegelt. Damit wird die Axt an die Wurzel jeglicher Glaubenskonzepte gelegt, die einen menschlichen Beitrag zu seiner Entstehung einschließen. Mit dem ausschließlichen Fokus auf Christus und das, was er uns erworben hat, zerstört Calvin Schritt für Schritt alle im Menschen liegenden Gründe für Selbstvertrauen und Rühmen im Hinblick auf sein Heil. „Wenn ich also behaupte, dass der Glaube sich auf diese Verheißung Gottes stützen muss, die aus freier Gnade ergeht ... so möchte ich die Verheißung des Erbarmens Gottes für den eigentlichen Richtpunkt des Glaubens erklären.“[11] Und weiter: „Ich will nur zweierlei aufzeigen: erstens kommt der Glaube niemals zu festem Bestand, solange er nicht zu jener aus Gnaden geschehenden Verheißung durchgedrungen ist, und zweitens kann er uns nur dadurch mit Gott versöhnen, dass er uns mit Christus vereint.“[12]

Nicht durch Werke

Liest man die vier Kapitel über die ewige Erwählung in Calvins Institutio (III,21–24), ohne ihren Platz in dieser sich entfaltenden Argumentationskette im Blick zu haben, dann wird man Calvins scheinbar schroffe These als forsch und verwegen empfinden: „Wir werden nie und nimmer so klar, wie es sein sollte, zu der Überzeugung gelangen, dass unser Heil aus dem Brunnquell der unverdienten Barmherzigkeit Gottes herfließt, ehe uns nicht Gottes ewige Erwählung kundgeworden ist; denn diese verherrlicht Gottes Gnade durch die Ungleichheit, dass er ja nicht unterschiedslos alle Menschen zur Hoffnung auf die Seligkeit als Kinder annimmt, sondern den einen schenkt, was er den anderen verweigert.“[13] Kurz darauf fügt er seine Definition des ewigen Ratschlusses Gottes in der Prädestination hinzu: „Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tode ‚vorbestimmt‘.“[14] Liest man dies jedoch als Teil seiner Beweisführung, so wird deutlich, dass Calvins berüchtigte Lehre von der Erwählung nur als weiterer Baustein in seiner Argumentation für eine Heilslehre gedacht ist, die sich gegen jede Form von Synergismus wendet, denn sie schreibt seine Lehre vom Glauben ohne jeden menschlichen Beitrag weiter.

Gleich im ersten Abschnitt seiner Abhandlung stellt Calvin fest, dass Gott in seiner souveränen Erwählung „unter Beiseitelassen jeder Rücksicht auf die Werke die Menschen erwählt, die er bei sich zu erwählen beschlossen hat“.[15] Die Formulierung „unter Beiseitelassen jeder Rücksicht auf die Werke“ ist keine Nebensächlichkeit, sondern vielmehr das eigentliche Ziel von Calvins Argumentation: Nur durch dieses Beiseitelassen kann Gott seinen eigenen Ruhm wahren und „echte Demut“ in uns fördern. Zu diesen beiden Vorzügen seiner monergistischen Darstellung fügt Calvin noch einen dritten hinzu: Nur auf dieser Grundlage können wir wissen, dass die Gnade Gottes frei ist.[16]

Zu Beginn seiner Zusammenfassung der biblischen Aussagen über Erwählung betont Calvin, dass diese Aspekte der göttlichen Wahl bei der Erwählung Israels im Vordergrund stehen. „Denn sie [die Israeliten] schreiben hier alle Gaben, mit denen sie Gott geziert hatte, seiner unverdienten Liebe zu – nicht nur, weil sie wussten, dass sie sie durch keinerlei Verdienste erworben hatten, sondern auch, weil sie erkannt hatten: nicht einmal der heilige Erzvater war mit solcher Tugend ausgerüstet, dass er damit sich und seinen Nachkommen ein solches Ehrenvorrecht erworben hätte!“ Calvin fordert jene, die anderer Meinung sind, heraus: „Es sollen doch einmal die vortreten, die Gottes Erwählung an die Würdigkeit der Menschen oder an die Verdienste der Werke binden wollen! Sie sehen doch, dass hier ein einziges Volk allen anderen vorgezogen wird… Wollen sie nun mit ihm hadern, weil er einen solchen Beweis seiner Barmherzigkeit hat liefern wollen?“[17]

Das nächste Kapitel (III,22) ist ganz der Frage gewidmet, ob die Erwählung von einem vorhergesehenen Verdienst der Erwählten abhängt oder nicht. Hier behandelt Calvin biblische Stellen einschließlich der Lehre Jesu selbst, sowie das Zeugnis der Kirchenväter. Die Summe der Argumente weist immer nur in eine Richtung: „Wahrlich, Gottes Gnade würde es nicht verdienen, angesichts unserer Erwählung allein gepriesen zu werden, wenn diese nicht eben rein aus Gnaden geschähe! Sie geschieht aber nun nicht aus Gnaden, wenn Gott selbst bei der Erwählung der Seinen darauf achtet, wie nun in Zukunft die Werke jedes einzelnen aussehen werden!“[18]

In seinem abschließenden Kapitel über die Erwählung (III,24) wendet Calvin dieses Verständnis der Erwählung auf eine Reihe verschiedener Fragen an, die in der Summe seine Auffassung des Zusammenhangs zwischen Erwählung und Gewissheit umreißen. Das Ergebnis ist ein Verständnis von Heilsgewissheit, das mit der Vernichtung des menschlichen Vertrauens in eigene Verdienste einhergeht. Zunächst befasst er sich mit der universalen Verkündigung des Evangeliums, die Gott sowohl den Auserwählten als auch den Verworfenen anbietet, die aber nur für die Auserwählten eine wirksame Berufung bedeutet. Hier folgt Calvin Augustinus’ Darlegung des johanneischen Themas, dass diejenigen, die auf den Vater hören, auch jene sind, die zu Christus kommen (Joh 6,44–46).

Zu seinen Kindern bestimmt er also die, welche er erwählt hat, und nur ihnen gibt er sich selbst zum Vater! Indem er sie dann beruft, nimmt er sie in seine Hausgenossenschaft auf und eint sich selbst mit ihnen, so dass sie miteinander eins sind. Wenn aber nun die Berufung an die Erwählung geknüpft ist, so gibt die Schrift auf diese Weise genugsam zu verstehen, dass in ihr nichts zu finden ist als Gottes gnädiges Erbarmen. Denn wenn wir fragen, welche Menschen er beruft und aus welchem Grunde er das tut, so antwortet sie: er beruft die, welche er erwählt hat! Kommt man aber auf die Erwählung, so wird dabei allenthalben allein Barmherzigkeit sichtbar.[19]

„Die Erwählung ist für Calvin also unausweichlich mit der Heilslehre verknüpft und mit ihrem seelsorgerlichen Trost im Leben des Gläubigen.“
 

Auch hier zielt Calvin darauf ab, Gewissheit in einer ausdrücklich monergistischen Darstellung der Heilsursachen zu begründen. Die Analyse von G.C. Berkouwer ist treffend: „Für Calvin ist Erwählung unauflöslich mit der Ablehnung jeglicher Werkgerechtigkeit verbunden. Deshalb ist Erwählung untrennbar mit dem Bekenntnis der Heilsgewissheit verbunden.“[20]

Die Erwählung ist für Calvin also unausweichlich mit der Heilslehre verknüpft und mit ihrem seelsorgerlichen Trost im Leben des Gläubigen, gerade weil sie der Höhepunkt seiner Argumentation für eine Erlösung ist, die ihre Grundlage völlig außerhalb von uns selbst hat. Wie ein roter Faden zieht sich eine Definition des Glaubens durch alle Phasen von Calvins Argumentation, die dem menschlichen Akteur keinerlei Einfluss auf den Ursprung des Glaubens selbst zubilligt. Auf diese Weise ist die Lehre von der Erwählung der Höhepunkt des einen, immer wiederkehrenden Arguments von Buch III, dass die Quelle unseres Heils allein in Gott liegt, mit einer entsprechenden Ablehnung jeglicher „Werksgerechtigkeit“.

Fünf hermeneutische Perspektiven auf die Erwählung in der Bibel

Es lohnt sich, einen Blick auf die Methode zu werfen, mit der Calvin die Lehre von der Erwählung darlegt. Denn ihre Einbindung in die einleitenden Aussagen über die Erwählung in III,21 und ihre feste Verankerung im Zentrum seines Gesamtarguments lassen uns wichtige Gründe erkennen, warum Calvin sowohl an die „Nützlichkeit“ dieser Lehre als auch an „ihre süße Frucht“[21] glaubte. Mit dieser Vorgehensweise eröffnet Calvin uns fünf Perspektiven auf seine biblische Hermeneutik der Erwählung. Zusammen betrachtet offenbaren diese fünf Blickwinkel auf die Erwählung, wie Calvin die Bibel liest, nämlich indem er den Fokus auf die Größe Gottes legt, welche sich in seiner Güte uns gegenüber zeigt, dass er seinen Sohn als unseren Retter sandte.

1. Gottes Gnade ist frei

Calvin war der Ansicht, dass der rettende Glaube schon von seinem Wesen her ein Beweis dafür ist, dass Gott nicht auf irgendetwas in uns reagiert, sondern uns eine Verheißung des Lebens in Aussicht stellt, die er nicht anbieten musste. Zu Beginn von Buch III und eingangs zu seiner Erwählungslehre stellt sich Calvin offen der Tatsache, dass nicht alle, die das Evangelium hören, daran glauben und zu Christus kommen. Alle sind gleichermaßen tot in der Sünde. Wenn also einige glauben, kann das nicht daran liegen, dass sie etwas in sich tragen, das sie für den Glauben oder für Gottes Gunst tauglich macht. Nein, es liegt in der Natur der Gnade, wenn sie wirklich Gnade sein soll, dass sie auch mit Recht hätte vorenthalten werden können. Gott hätte uns nicht retten müssen.

Im Zentrum von Calvins Verständnis der göttlichen Barmherzigkeit in der Erwählung steht der überaus schöne Gedanke, dass der Sohn, wenn er von seinem Vater geliebt wird, „nicht nur für sich oder zu seinem eigenen Vorteil geliebt wird, sondern damit er uns gemeinsam mit sich selbst in die Gemeinschaft des Vaters aufnehmen kann“.[22] Das Maß der Barmherzigkeit Gottes besteht darin, dass er Sünder liebt, so „wie“ er seinen eigenen Sohn liebt, und weil er seinen Sohn als das Haupt seines Leibes, der Gemeinde, liebt, liebt er auch diejenigen, die er als seinen Leib mit dem Sohn verbindet. Calvin sagt zu Johannes 17,24: „Der Titel ‚Geliebter‘ gebührt Christus allein. Doch, daraus folgend, hat der himmlische Vater dieselbe Liebe wie für das Haupt auch für alle Glieder, so dass er niemanden liebt, es sei denn in Christus.“[23]

Calvin verstand den Herrn Jesus Christus als den Mittler zwischen Gott und den Menschen, und er glaubte, dass Christus den Ratschluss der Erwählung vermittelt, indem er sowohl derjenige ist, in dem das Volk Gottes erwählt ist, als auch derjenige, der das aus der Erwählung fließende Heil erwirkt.[24] Doch auf jeden Fall ist die Tatsache, dass diese Auswahl vor der Erschaffung der Welt „in Christus“ stattfand, für Calvin eine Bestätigung der absoluten Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit der Erwählung. In seinen Predigten zum Epheserbrief spricht er immer wieder in aller Klarheit von der Freiheit Gottes bei der Erwählung und davon, dass aufgrund der uns innewohnenden Verderbtheit kein Verdienst des Menschen vorhergesehen wurde:

„Schaute Gott also auf uns, als er sich bereit erklärte, uns zu lieben? Nein! Nein! Denn dann hätte er uns zutiefst verabscheut. Zwar hatte er angesichts unseres Elends Mitleid und Erbarmen mit uns und wollte uns helfen, aber das geschah, weil er uns bereits in unserem Herrn Jesus Christus geliebt hatte. Gott muss also ihn als Abbild und Spiegel vor sich gehabt haben, in welchem er uns sah, d.h. er muss zuerst unseren Herrn Jesus Christus angeschaut haben, bevor er uns erwählen und berufen konnte.“[25]

2. Gottes Herrlichkeit ist entscheidend

Für Calvin ist die Barmherzigkeit Gottes nicht die einzige göttliche Eigenschaft, die in der Lehre von der Erwählung zur Geltung kommt. Der Ausschluss aller Gründe für menschliches Rühmen in der Erwählung hat eine Kehrseite: Er begründet Gottes Handeln in seiner freien Wahl und ermöglicht es uns somit, Gott allein die ganze Ehre für unsere Errettung zu geben.

Am besten lässt sich dieser Schwerpunkt von Calvins Erwählungslehre in seinem Kommentar zum Römerbrief und dort seiner ausführlichen Exegese der Kapitel 9–11 erkennen. Es entspricht schlicht nicht der Wahrheit, dass Calvin eine abstrakte Lehre von der doppelten Prädestination hat, die ihn (durch vorgefasste binäre Vorstellungen über ewige Schicksale) zwingt, die Art und Weise, wie sich Erwählung in der Bibel in der Heilsgeschichte vollzieht, falsch zu verstehen. Häufig ist die Rede von „Calvins rein individualistischer Exegese“ und „seiner Unterbewertung des Bundesbegriffs in seiner Auslegung von Texten wie Römer 9,18.22.”[26] Ich kann nur mutmaßen, dass solche Ansichten die Institutio als ein abgeschlossenes Nachschlagewerk und nicht als hermeneutischen Leitfaden für die exegetischen Aspekte von Calvins Denken betrachten. Tatsächlich ist der Bundesgedanke in Calvins Römerbrief-Kommentar das wohl wichtigste hermeneutische Konzept in seiner Betrachtung von Römer 9–11 (er erwähnt den Bund 39-mal).

In diesen Kapiteln erkennt Calvin eine umfassende Theologie des Bundes Gottes mit Israel, die es ihm ermöglicht, den Ursprung des Bundes in der allgemeinen Erwählung des ganzen Volkes, den Grund für die Bundestreue Gottes aber in der besonderen Erwählung einzelner Personen innerhalb des Volkes zu verorten. Deshalb beginnt Calvin seine Ausführungen über die Erwählung in der Institutio mit einer Schlussfolgerung, zu der er durch seine Exegese von Römer 9–11 gelangt ist: „Also gehet es auch jetzt zu dieser Zeit mit diesen, die übriggeblieben sind nach der Wahl der Gnade. Ist’s aber aus Gnaden, so ist’s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein“ (Röm 11,5–6). Um zu beweisen, dass das Heil „allein aus Gottes purer Freigebigkeit“ kommt, muss der Theologe bis zu den Ursprüngen der Erwählung zurückgehen, und dort, so glaubt Calvin, „bezeugt Paulus deutlich: Wenn die Errettung eines Überrestes des Volkes auf die Gnadenwahl zurückgeführt wird, dann wird damit nur bestätigt, dass Gott nach seinem bloßen Wohlgefallen bewahrt, wen er will, und dass er überdies keinen Lohn zahlt, da er keinen schuldig sein kann“.[27] Dieses Verständnis, dass Gott in seinen Entscheidungen frei von menschlicher Kontingenz und somit der einzige ist, der den Ruhm für das Heil verdient, ergibt sich Zeile für Zeile aus Calvins Auseinandersetzung mit Paulus über die Rechtfertigung Gottes in der Erwählung (Röm 9,14).

3. Unsere Demut ist wichtig

Calvins Hermeneutik für die Erwählung in der Bibel ergibt sich konsequent aus den einleitenden Worten der Institutio: „All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfasst im Grunde eigentlich zweierlei: die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis.“[28] Für Calvin sind die Erkenntnis Gottes und die Erkenntnis unserer selbst „unmittelbar wechselwirkend“, so dass wir, wenn wir das eine erkennen, unmittelbar dazu gebracht werden, das andere zu erkennen.[29] Meiner Meinung nach werden wir im Umgang mit Calvins Ausführungen zur Erwählung auf Abwege geraten, wenn wir seinen Ansatz nicht verstehen: dass wir nämlich in der Auseinandersetzung mit der Erwählung in der Bibel scheitern werden, wenn wir nicht zuvor erkannt haben, wie wir vor Gott dastehen. Die Erkenntnis, dass in der Erwählung Gott allein verherrlicht wird, weil wir nichts zu unserer Erlösung beitragen, soll unter anderem in unseren Herzen tiefe Demut bewirken. Wenn es stimmt, dass Calvins Lehre von der Erwählung darauf abzielt, Gott in seiner Majestät zu erheben, dann ist es ebenso wahr, dass sie bestrebt ist, uns richtig zu verorten, nicht nur als gefallene Sünder, die ohne Verdienst oder Maß geliebt werden, sondern auch als Geschöpfe.

Liest man die Institutio aufmerksam von vorne bis hinten, so gewinnt man den Eindruck, dass Calvin Gott im Wesentlichen als unseren liebenden himmlischen Vater und uns als seine abhängigen Kinder sieht. Es ist ein Bild von überwältigender Wärme und Schönheit. Dem Menschen wird jeglicher Beitrag zu seiner Errettung versagt – nicht, um uns unsere Würde als Geschöpfe zu nehmen, sondern vielmehr, um deutlich zu machen, dass wir in unserer Not dennoch tiefer geliebt werden, als wir es uns je hätten vorstellen können, und dass unser Lobpreis Gottes für seine Rettung geschmälert würde, wenn wir ihn mit unserem Rühmen dessen, was wir hinzugefügt haben, vermischen würden.

Daraus ergibt sich unmittelbar eine weitere Perspektive auf die Erwählung in der Bibel.

4. Der menschlichen Neugier wird ein Riegel vorgeschoben

Die Erwählung kommt aus den „Höhenlagen“ des göttlichen Willens und wird von „verbotenen Nebenwegen“ unergründlicher göttlicher Weisheit begleitet. Calvin glaubte, dass dieses Wissen über Gott und uns selbst uns vor der Begierde bewahren sollte, „Gott jedes Geheimnis zu entreißen“. Als gefallene Männer und Frauen wollen wir nicht nur alles haben, sondern auch alles wissen. Aber wer nicht bereit ist anzuerkennen, dass „das Geheimnis des Herrn, unseres Gottes ist“ (5Mose 29,29), „dringt mit seinem Forschen nach der Vorbestimmung in die heiligen Geheimnisse der göttlichen Weisheit ein; wer nun hier ohne Scheu und vermessen einbricht, der erlangt nichts, womit er seinen Vorwitz befriedigen könnte, und er tritt in einen Irrgarten, aus dem er keinen Ausgang finden wird!“[30] Es ist wichtig, den Zusammenhang zwischen diesem Verständnis der Erwählung und Calvins Erkenntnistheorie und Anthropologie zu sehen, wie er sich aus seiner Schriftauslegung ergibt und diese wiederum prägt. Zu Römer 9,18 sagt Calvin: „Wir sollten besonders diese Worte beachten: ‚welches er will, und … welchen er will‘. Paulus gestattet uns nicht, darüber hinaus zu gehen.“[31]

In diesem Punkt werden Calvins Lehren von der Erwählung und Prädestination oft am schärfsten kritisiert, nicht zuletzt von Karl Barth, der sich in seiner Kirchlichen Dogmatik mit Calvin und der reformierten Lehre auseinandersetzt. Der Konflikt zwischen Calvin und Barth über die Erwählung ist in vieler Hinsicht aufschlussreich, und zwar auch, wenn es um die Frage geht, worauf genau wir die Anweisung der Bibel beziehen, in ehrfurchtsvoller Unkenntnis seiner Wege zu bleiben. Barth ist der Ansicht, Calvins Lehre enthalte einen „absoluten Ratschluss“, einige zu retten und andere zu verwerfen, so dass Christus in der Zeit in Erscheinung trete, um dem erwählenden Willen Gottes zu dienen, wobei jedoch hinter ihm eine geheime Erwählung durch den Vater stehe. Unkenntnis darüber, warum der Gott, der sich uns im Herrn Jesus offenbart hat, die einen auserwählt und die anderen verwirft, beeinträchtigt die Fülle der Offenbarung dieses Gottes: Wir können ihn aus diesem Grund nicht vollständig kennen. Aber in der Lehre Barths – wenn wir denn seine Verneinung des Universalismus für bare Münze nehmen – dringt der Agnostizismus einfach an einer anderen Stelle in das Denksystem ein, und zwar in der Eschatologie. Für Barth ist die Freiheit Gottes so groß, dass wir nicht mit Sicherheit sagen können, was Gott am Ende aller Dinge tun oder nicht tun wird. Hier scheint der „unbekannte Gott“ aus dem vorzeitlichen Ratschluss in das Eschaton verlagert worden zu sein.[32]

„Beim Thema Erwählung und Prädestination geht es Calvin nicht darum, die Lehre den Ungläubigen schmackhaft zu machen, da er stets davon ausgeht, dass die Erwählung eine Lehre ist, die der Kirche zu ihrem Trost gegeben wurde.“
 

Paul Helm zeigt auf, dass der ausdrückliche Fokus am Anfang der Institutio auf Weisheit – Religion als sapientia – die Ablehnung einer anderen Art von Wissen in der Theologie, scientia, impliziert, die mit theoretischem Begreifen und Gewissheit zu tun hat. Calvin selbst mied den Begriff Theologie und sah darin vor allem ein Schimpfwort für spekulative Denker; er zog stattdessen den Begriff religio vor, „der von der Bindung des Selbst an Gott spricht“.[33] Obwohl Calvin ausführliche Widerlegungen von Einwänden gegen seine Erwählungslehre liefert, ist die Institutio „weder ein Werk der Apologetik … noch ein Lehrbuch der Theologie … In der Krise der Reformation versucht Calvin, jenen, die sich bereits zu Christus bekennen, das Wesen der christlichen Religion darzulegen“.[34] Das bedeutet: Beim Thema Erwählung und Prädestination geht es Calvin nicht darum, die Lehre den Ungläubigen schmackhaft zu machen, da er stets davon ausgeht, dass die Erwählung eine Lehre ist, die der Kirche zu ihrem Trost gegeben wurde. Mehr noch, es ist ihm den Gläubigen gegenüber ein besonderes Anliegen, die Grenzen der Erkenntnis mit den in der Schrift geoffenbarten Grenzen in Einklang zu bringen, denen wir uns mit Ehrfurcht und kindlichem Vertrauen nähern sollten.

Dies führt schließlich zu einer weiteren Perspektive, aus der uns Calvin anweist, Erwählung in der Bibel zu betrachten. Besonders in diesem Punkt ist das, was er uns hinterlassen hat, meines Erachtens auch heute noch von unschätzbarem Wert.

5. Ängstliches Schweigen kann uns ärmer machen

Ebenso, wie wir möglicherweise zu viel über die Erwählung sagen wollen und dabei die Grenzen dessen überschreiten, was nur Gott bekannt ist, können wir auch zu wenig über die Erwählung sagen und sie wie eine Klippe umschiffen, sie sozusagen auf dem Grund unserer theologischen Ozeane begraben.[35] Es liegt auf der Hand, dass wir, wenn wir nicht über die Erwählung lehren oder predigen, uns eines tiefen Blicks in Gottes Heilshandeln und auf uns selbst als gnadenbedürftige Menschen berauben würden. Doch Calvin glaubt auch, dass gerade die Lehre von der Erwählung, wie sie uns der Herr Jesus selbst gelehrt hat, uns die Gewissheit dieses Heils und die gewisse Hoffnung der Herrlichkeit gibt. „So lehrt es Christus selber: Um uns mitten in so viel Gefahren, so viel Nachstellungen und tödlichen Kämpfen von aller Furcht zu befreien und unbesieglich zu machen, verheißt er, dass alles, was er von seinem Vater in Obhut empfangen hat, unversehrt bleiben soll. Daraus schließen wir: Wer nicht weiß, dass er Gottes besonderes Eigentum ist, der muss jämmerlich daran sein und aus dem Zittern nicht herauskommen.“[36]

Calvin hat einiges darüber zu sagen, wohin wir nicht schauen dürfen, um die Erwählung zu verstehen, doch eigentlich geht es in seiner Lehre von der Erwählung gerade darum, wohin wir schauen können, um die Erwählung zu verstehen. Anstatt die Gedanken Gottes ergründen zu wollen, sollten wir auf Christus schauen. In seinem Kommentar zu Johannes 6,39 sagt Calvin: „Jesus bekundet nun, dass es die Absicht des Vaters ist, dass die Gläubigen das Heil in Christus verbürgt wissen.“ Der Weg, auf dem wir diese Gewissheit erlangen, ist der Glaube an Jesus, und Calvin sagt ausdrücklich, dass der Glaube eine ausreichende Grundlage für die Erkenntnis der Erwählung ist: „Wenn es Gottes Wille ist, dass diejenigen, die er erwählt hat, durch den Glauben errettet werden, und wenn er seinen ewigen Ratschluss auf diese Weise bekräftigt und ausführt, dann begehrt derjenige, der sich nicht mit Christus zufrieden gibt, sondern neugierig nach der ewigen Prädestination fragt, soweit es in ihm liegt, entgegen dem göttlichen Ratschluss errettet zu werden.“[37] Es besteht also ein Zusammenhang zwischen dem göttlichen Willen und dem menschlichen Glauben, so dass letzterer aus ersterem hervorgeht. Die Erwählung ist nicht das Einzige, was Gott für sein Volk bestimmt. In einem beeindruckenden Absatz erklärt Calvin:

„Deshalb sind diejenigen verrückt, die ihr eigenes Heil oder das der anderen im Labyrinth der Prädestination suchen und sich nicht an den vorgezeichneten Weg des Glaubens halten. Ja, sie versuchen durch diese irrigen Spekulationen, die Kraft und die Wirkung der Prädestination auszuhebeln; denn wenn Gott uns zu dem Zweck erwählt hat, dass wir glauben, so ist die Erwählung unvollkommen, wenn man den Glauben wegnimmt. Doch es ist falsch, die ununterbrochene und festgelegte Reihenfolge vom Anfang und vom Ende in Gottes Ratschluss zu brechen.“[38]

Für Calvin bilden also die Erwählung und der Glaube, der aus Gottes Berufung der Erwählten zu Christus hervorgeht, eine untrennbare Einheit. Gerade weil die Erwählung mit dem Glauben einhergeht, ist der Glaube an Christus eine sichere Grundlage für die Gewissheit der Erwählung. Wenn wir in unserer Verkündigung und Lehre über die Erwählung schweigen, verschweigen wir laut Calvin ein wunderbares Mittel der Heilsgewissheit. Diese Gewissheit ergibt sich nicht daraus, dass wir in erster Linie den Fokus auf die Erwählung setzen, sondern vielmehr daraus, dass wir den Menschen Christus als den Mittelpunkt unseres Glaubens und damit unserer Erwählung vor Augen führen. In seiner dritten Predigt über den Epheserbrief gibt Calvin auf die Frage, wie die Gläubigen ihre Erwählung erkennen können, eine einfache Antwort:

„Indem wir an Jesus Christus glauben. Wie gesagt, der Glaube geht aus der Erwählung hervor und ist ihre Frucht; das zeigt, dass die Wurzel in ihr verborgen ist. Wer also glaubt, hat die Gewissheit, dass Gott in ihm gewirkt hat, und der Glaube ist gleichsam die Kopie, die Gott uns von dem Original unserer Erwählung überreicht. Gott hat seinen ewigen Ratschluss, und er behält sich immer das Haupt- und Erstprotokoll vor, von dem er uns durch den Glauben eine Kopie gibt.”[39]
„Wenn wir in unserer Verkündigung und Lehre über die Erwählung schweigen, verschweigen wir laut Calvin ein wunderbares Mittel der Heilsgewissheit.“
 

Beachten wir hier den Schwerpunkt, der auf der Gewissheit liegt. In dem schönen Bild von unserem Glauben als einer Kopie, von der Gott das Original besitzt, genügt der Glaube an Jesus als Retter wahrhaftig, um uns die Gewissheit zu geben, dass wir zu Gott gehören. Wir können sehen, wie all dies zu Calvins Glaubenslehre gehört, wie sie in der Institutio dargelegt ist. Unser Glaube an Jesus hat seinen Ursprung nicht in uns, als wäre er ein Werk, das wir vollbringen, sondern er ist ein Zeichen dafür, dass wir nichts zu unserer Erlösung beitragen. In seiner gesamten Schrift kleidet Calvin Christus in Metaphern, die sein Verhältnis zur Erwählungslehre beschreiben: Christus ist ein „Buch“, in das alle Auserwählten „geschrieben“ sind; Christus ist ein „Spiegel“, in den wir „schauen“, um unsere Erwählung zu sehen, und in den auch der Vater „geschaut“ hat, um uns zu erwählen; Christus ist ein Wächter, der die uns vom Vater geschenkte Erwählung schützt; und Christus ist ein Unterpfand, das unsere Erwählung verbürgt. Der Sinn dieser Metaphern sollte nicht übersehen werden, denn sie befassen sich auf unterschiedliche Weise mit dem, was wir wirklich sehen und wissen können, und vermitteln die Art von Gewissheit, die uns Sicherheit gibt.

Das bedeutet: Wenn wir in der Bibel von der Erwählung lesen, würde Calvin nicht wollen, dass diese Lehre Verzweiflung oder Selbstbespiegelung auslöst. Er will lediglich, dass unser eigenes Unvermögen, uns selbst zu retten, uns zu der völligen Hinlänglichkeit Christi als Erlöser führt und dass wir dadurch Gott als unseren Vater erkennen: „Bei Calvin hat die Erwählung mit der Überraschung zu tun, dass man bei Gott geborgen und endgültig sicher ist. Das ist das Herzstück der Lehre.“[40]


[1] Marilynne Robinson, The Death of Adam: Essays on Modern Thought, New York: Picador, 2005, S. 206.

[2] Fred H. Klooster, Calvin’s Doctrine of Predestination. Calvin Theological Seminary Monograph Series 3, Grand Rapids: Calvin Theological Seminary, 1961.

[3] Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des Materials aus meinem Buch Reading the Decree: Exegesis, Election and Christology in Calvin and Barth (London und New York: T&T Clark, 2009); und außerdem: „A Mirror for God and for Us: Christology and Exegesis in Calvin’s Doctrine of Election“ in: International Journal of Systematic Theology 11, Nr. 4, Oktober 2009, S. 448–465.

[4] Johannes Calvin, „Vorrede zur Institutio Christianae Religionis von 1559“ in: Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2008, S. 19–20.

[5] Siehe beispielsweise Stephen Edmondson, „The Biblical Historical Structure of Calvin’s Institutes“ in: Scottish Journal of Theology 59, Nr. 1, 2006, S. 1–13; Richard A. Muller, The Unaccommodated Calvin: Studies in the  Foundation of a Theological Tradition, New York: Oxford University Press, 2000.

[6] Calvin, Institutio, III,1.1.

[7] Calvin, Institutio, III,1.1.

[8] R.B. Gaffin Jr., „Biblical Theology and the Westminster Standards“, S. 165–179, in: Westminster Theological Journal 65, 2003, S. 176.

[9] Gaffin, „Biblical Theology“, S. 176–177.

[10] Calvin, Institutio, III,2.7.

[11] Calvin, Institutio, III,2.29.

[12] Calvin, Institutio, III,2.30.

[13] Calvin, Institutio, III,21.1.

[14] Calvin, Institutio, III,21.5.

[15] Calvin, Institutio, III,21.1.

[16] Calvin, Institutio, III,21.1.

[17] Calvin, Institutio, III,21.5.

[18] Calvin, Institutio, III,22.3.

[19] Calvin, Institutio, III,24.1.

[20] G.C. Berkouwer, The Triumph of Grace in the Theology of Karl Barth, Übers. H.R. Boer, Grand Rapids: Eerdmans, 1956, S. 284.

[21] Calvin, Institutio, III,21.1.

[22] Calvin, „The Gospel according to John, 11–21, and the First Epistle of John“, in: D.W. Torrance, T.F. Torrance (Hrsg.), Übers. T.H.L. Parker, Calvin’s New Testament Commentaries, Bd. 5, Grand Rapids: Eerdmans, 1994, S. 97.

[23] Calvin, The Gospel according to St. John, 11–21, S. 149.

[24] Für eine detailliertere Beschreibung siehe David Gibson, „A Mirror for God and for Us“.

[25] Calvin, Sermons on the Epistle to the Ephesians, Edinburgh: Banner of Truth, 1973, S. 33.

[26] C. van der Kooi, As in a Mirror: John Calvin and Karl Barth on Knowing God, Leiden: Brill, 2005, S. 164.

[27] Calvin, Institutio, III,21.1. Calvins Verständnis der Erwählung Israels und der Gemeinde erweist sich in seiner Exegese von Römer 9–11 als wesentlich komplexer und vielschichtiger, als oft angenommen wird. Die Erwählung Israels ist sowohl allgemein als auch besonders, und Calvin bewegt sich frei zwischen diesen beiden Formen, wenn er über Israel als Gottes erwähltes Volk spricht. Ebenso kann der Begriff „Gemeinde“ auf Israel in beiden Formen der Erwählung angewandt werden, sodass eine Beschreibung der Gemeinde als Ersatz oder Aufhebung Israels in Calvins Theologie viel zu zweideutig wäre, um wirklich nützlich zu sein.

[28] Calvin, Institutio, III,1.1.

[29] Siehe die ausgezeichnete Abhandlung „The Knowledge of God and of Ourselves“ in: Paul Helm, Calvin at the Centre, Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 8.

[30] Calvin, Institutio III,21.1.

[31] Calvin, „The Epistles of the Apostle Paul to the Romans and to the Thessalonians“ in: D.W. Torrance und T.F. Torrance (Hrsg.), Übers. Ross ­MacKenzie, Calvin’s New Testament Commentaries, Bd. 8, Grand Rapids: Eerdmans, 1995, S. 207.

[32] Siehe David Gibson, „Barth on Divine Election“, in:  George Hunsinger, Keith L. Johnson (Hrsg.), The Wiley Blackwell Companion to Karl Barth, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons Ltd., 2020, S. 47–58.

[33] Helm, Calvin at the Center, S. 5–6.

[34] Helm, Calvin at the Center, S. 8.

[35] Calvin, Institutio, III,21.3.

[36] Calvin, Institutio, III,21.1.

[37] Calvin, „The Gospel according to St. John, 1–10“, in: D.W. Torrance, T.F. Torrance (Hrsg.), Übers. T.H.L. Parker, Calvin’s New Testament Commentaries, Bd. 4, Grand Rapids: Eerdmans, 1995, S. 162.

[38] Calvin, The Gospel according to St. John, 1–10, S. 162 (Hervorhebung d. Verf.).

[39] Calvin, Sermons on Ephesians, S. 47.

[40] Van der Kooi, As in a Mirror, S. 165.