Die Schrift als göttliche Offenbarung
Göttliche Offenbarung ist außergewöhnlich
Als Christen halten wir es oft für selbstverständlich, dass Gott sich offenbart. Aber wenn wir uns vor Augen halten, wer Gott ist, dann ist es sehr erstaunlich, dass er gesprochen hat. Dies gilt aus mehreren Gründen. Zunächst ist er der unendliche, ewige und unbegreifliche Schöpfer. Wir dagegen sind endliche Geschöpfe. Gott ist nicht einfach nur größer – als hätte er zwar größere Ausmaße, befände sich aber immer noch innerhalb unseres geschöpflichen Erfahrungsbereichs. Nein, dieser Gott ist in seinem Sein unergründlich; er ist eine völlig andere Art von Wesen. Diese prinzipielle Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf durchzieht die gesamte biblische Geschichte. Die Propheten wiesen immer wieder darauf hin, dass eben dies Jahwe von den geschaffenen Göttern der umliegenden Völker unterscheidet. Götzendienst ist die Verwechslung des Geschöpfes mit dem Schöpfer. Es besteht also eine unendlich große Distanz zwischen Gott und Mensch, da Gott kein geschaffenes Wesen ist.
Wie unfassbar ist es da, dass sich dieser unbegreifliche Schöpfer herabbeugt, um sich uns vergänglichen Geschöpfen vorzustellen! Wir sollen ihn wahrhaft erkennen, auch wenn das niemals umfassend sein wird. Johannes Calvin erklärte sehr treffend, Gott sei wie eine „Amme“, die mit einem „Kindlein“ „kindlich redet“.[1] Ein solches Entgegenkommen ist übernatürlich, zugleich aber auch passend, war es doch Gottes Entschluss, uns in seinem Ebenbild zu erschaffen.
„Aus diesen Gründen ist Offenbarung ein Geschenk, und ein außergewöhnliches noch dazu.“
Doch es gibt noch einen Grund, warum göttliche Offenbarung etwas Außergewöhnliches ist. Gottes Heiligkeit bedeutet nicht nur, dass er sich als der Unendliche und Transzendente von allem anderen abhebt. Sie bedeutet auch, dass er sich als der Gerechte von allem anderen abhebt. Das bringt jedoch eine Schwierigkeit mit sich. Denn wir sind nicht gerecht, sondern Sünder – wir sind schuldig und verdorben, unsere gesamte Existenz ist von der Sünde befleckt. Es wäre schon erstaunlich genug, wenn der unendliche, ewige Gott Wesen erschafft und mit diesen Geschöpfen spricht. Doch er hörte selbst dann nicht damit auf, als sie in Sünde fielen. Als Adam und Eva rebellierten, hätte er jedes Recht gehabt, sich in Schweigen zu hüllen, und dieses Schweigen hätte zu vollständiger Trennung und Verdammnis geführt. Aber er schwieg nicht; er sprach, und er sprach ein erlösendes Wort. Diese erste Verheißung aus 1. Mose 3,15 fand schließlich seinen Höhepunkt in dem Wort, das Fleisch wurde (vgl. Joh 1,1.14), in der personifizierten Offenbarung Gottes. Dieses Wort war niemand anders als der Herr Jesus Christus persönlich, der ewige Sohn Gottes, der für uns und um unserer Erlösung willen Mensch wurde.
Aus diesen Gründen ist Offenbarung ein Geschenk, und ein außergewöhnliches noch dazu.
Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes: allgemeine Offenbarung
Wir sollten jedoch zwischen zwei Arten von Offenbarung unterscheiden. Da wäre zum einen die allgemeine Offenbarung. Man nennt sie „allgemein“, weil sie (1) jedermann an jedem Ort zuteilwird und (2) in dem, was sie über Gott aussagt, breit und unkonkret ist (aber keineswegs leer). Die allgemeine Offenbarung verrät zum Beispiel nichts über Geheimnisse wie die Dreieinigkeit oder die Person und das Werk Jesu Christi. Doch sie offenbart Gott als den Schöpfer des Kosmos und tut viele seiner göttlichen Eigenschaften kund (seine Transzendenz, Majestät, Macht, Souveränität usw.; vgl. Ps 19,4–5; 29,4; 93,2; 104,24; Apg 14,15–17; 17,24–27; Röm 1,20.32; 2,15–16). Dabei richtet sie sich nicht an ein bestimmtes Volk, sondern an alle Menschen aller Zeiten. Der Grund für ihre universelle Reichweite liegt im Medium selbst.
Durch welches Medium erhält ein Mensch diese allgemeine Offenbarung? Es gibt zwei Wege: (1) durch das Gewissen im Menschen und (2) durch die geschaffene Ordnung (z.B. die Natur). Der Mensch wurde in Gottes Ebenbild erschaffen (vgl. 1Mose 1,27), und das bedeutet, dass ihm ein göttlicher „Stempel“ aufgeprägt ist. Calvin schreibt in seiner Institutio (I,3.2): In den „Menschenherzen“ liegt etwas wie ein „Keim“, aus dem „der Hang zur Religion hervorkommt“, und zwar in solchem Maß, dass den Menschen ein sensus divinatis, ein „Empfinden für die Gottheit“ kennzeichnet. Wie sehr der Mensch es auch versuchen mag, er kann der Moral nicht entfliehen. Sie ist tief in seine DNA als Geschöpf eingepflanzt, welches geschaffen wurde, um seinen Schöpfer widerzuspiegeln (vgl. Röm 1,32; 2,14–16).
Doch auch die Schöpfung bezeugt, dass es einen Schöpfer gibt. Hören wir David in Psalm 19,2–3:
Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, und die Ausdehnung verkündigt das Werk seiner Hände. Es fließt die Rede Tag für Tag, Nacht für Nacht tut sich die Botschaft kund.
Man lese zudem die Psalmen 8, 93 und 104 – sie sagen Ähnliches aus. Wir finden das auch bei Paulus: Gottes „unsichtbares Wesen, nämlich seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit Erschaffung der Welt an den Werken durch Nachdenken wahrgenommen“ (Röm 1,20).
Doch als Sünder haben wir das Problem, dass wir die allgemeine Offenbarung verdrängen. Das bedeutet: Sie genügt zwar, um uns zu verurteilen (vgl. Röm 1,20–21; 2,14–16), aber sie genügt nicht, um uns zu retten. Daher ist eine besondere Offenbarung nötig – eine, die sowohl in ihrem Inhalt konkret ist als auch in ihrer Wirkung allmächtig, sodass sie in einem bestimmten Volk durch den Glauben Wurzeln schlagen kann. Aus der allgemeinen Offenbarung kennen wir Gott als Schöpfer und Richter, aber gäbe es keine besondere Offenbarung, dann würden wir diesen Schöpfer niemals als unseren Retter erkennen.
Vom Schöpfer zum Retter: besondere Offenbarung
Gott hat in seiner Gnade auf vielerlei Weise besondere Offenbarung geschenkt. Ein kurzer Blick darauf, wie Gott sich seinem Volk Israel im Alten Testament offenbarte, zeigt, wie vielfältig Gottes besondere, rettende Offenbarung ist. Sie wird durch eine bunte Mischung von Instrumenten mitgeteilt, einschließlich Theophanien, Träume, Visionen, Engel, direktes Ansprechen, Wunder und schließlich Christus selbst. Tatsächlich weisen alle früheren Offenbarungen auf jene Offenbarung Gottes hin, die nichts weniger als Gottes Sohn höchstpersönlich ist. Jesus kam nicht nur wie einer der alten Propheten, um eine Offenbarung von Gott zu verkünden. Jesus ist selbst Gottes Offenbarung, denn er ist der menschgewordene Gott (vgl. Hebr 1,1; Joh 1,1). Er brachte nicht nur eine Botschaft, er ist die Botschaft.
„Aus der allgemeinen Offenbarung kennen wir Gott als Schöpfer und Richter, aber gäbe es keine besondere Offenbarung, dann würden wir diesen Schöpfer niemals als unseren Retter erkennen.“
Aber so wichtig diese Instrumente auch sein mögen, Gott hat – in seiner weisen Vorsehung – entschieden, dass das bleibende und dauerhafte Zeugnis seiner selbst ein geschriebenes Wort sein soll. Das ist die Heilige Schrift – das, was wir Christen die „Bibel“ nennen. Christus ist zwar nach der Auferstehung in den Himmel aufgefahren, doch wir haben die Schrift als bleibendes, jederzeit zugängliches Geschenk des Geistes an Gottes Volk. Durch dieses Geschenk bringt uns der Geist in die Einheit mit dem auferstandenen und aufgefahrenen Christus, unseren Herrn. Wir kennen Christus allein durch das verschriftlichte Wort von Christus; der Geist lässt uns durch diesen inspirierten Text Christus auf rettende Weise erkennen. Obwohl die Heilige Schrift also nur eine Form der besonderen Offenbarung ist, ist sie diejenige, die dauerhaft bestehen bleibt. Gott möchte, dass sein Volk sie besitzt und glaubend und handelnd durch sie lebt.
Das verschriftlichte Wort: Inspiration
Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass dieses geschriebene Wort unseres dreieinigen Gottes keineswegs eines Tages vom Himmel gefallen ist. Vielmehr wurde es im Lauf der Geschichte und durch Menschenhand nach und nach offenbart. Gottes Heilsplan wurde durch die Schrift offenbart, aber das begann klein wie ein Samenkorn. Später erblühte es, als es Gott gefiel zu offenbaren, wie sein Heilsplan schließlich in Tod und Auferstehung seines Sohnes vollendet wird. Diese Offenbarungen geschahen im Rahmen von Gottes rettenden Bundesschlüssen. Beispielsweise schloss Gott am Sinai einen Bund mit seinem Volk Israel. Die Bestimmungen dieses Bundes – der Vertrag, auf dessen Grundlage Israel leben sollte – wurden Mose ausgehändigt und waren mit dem Finger Gottes auf Steintafeln geschrieben (vgl. 5Mose 9,10).
Im weiteren Verlauf der Geschichte schenkte Gott durch seine Propheten weitere schriftliche Offenbarungen. Die Propheten verkündeten nicht nur dem Volk Gottes das Wort Gottes, zuweilen wurden sie auch beauftragt, es niederzuschreiben. Sie dienten so als Ankläger des Bundes gegen ein Volk, das dem Bund untreu war (siehe z.B. das Buch Jeremia). Später kam der versprochene Messias – der Eine, der in den alttestamentlichen Schriften verheißen und angekündigt worden war. Es ist wenig überraschend, dass dieser Messias seinen Jüngern die gute Nachricht des Evangeliums anvertrauen wollte. Sie sollten als seine Botschafter die gute Nachricht von der Erlösung in Jesus ausbreiten – durch ihre Verkündigung (siehe die Apostelgeschichte), aber auch durch das Schreiben von Briefen. Diese Briefe waren vom Geist inspiriert und dienten der Unterweisung und Auferbauung der Gemeinde.
Um das zu erläutern: Die Schriften, die wir heute als Altes und Neues Testament kennen („Testament“ bedeutet „Bund“), entstanden normalerweise nicht einseitig, als hätten z.B. Sacharja oder Petrus wie Mose den Sinai besteigen müssen, um Gottes schriftliches Wort dort abzuholen. Das Ereignis am Sinai ist tatsächlich die Ausnahme, nicht die Regel. Gott wirkte oft auf ganz gewöhnliche Weise durch gewöhnliche Menschen, die er für sein Inspirationswirken ausgesondert hatte (z.B. David, ehemaliger Hirtenjunge, der zum König geworden war, schrieb Psalmen; ehemalige Fischer, die Jünger geworden waren, schrieben Briefe an Gemeinden).
Der Schlüssel ist hier der Begriff „Inspiration“. Inspiration bedeutet nicht, dass die menschlichen Autoren der Schrift einfach nur ihre religiöse Erfahrung festhielten – etwa in der Art: Sie sahen, was Gott tat, und waren davon so begeistert, dass sie es aufschrieben; und dann kam Gott und adoptierte es für sich. Das mag heute der Standardgebrauch des Wortes „inspiriert“ sein, aber wenn es um die Bibel geht, ist mit dem Begriff etwas anderes gemeint. Denken wir zum Beispiel an das, was Paulus zu Timotheus über die Schrift sagt, wobei es nicht um einzelne Teile, sondern um ihre Gesamtheit geht: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben [θεόπνευστος, wörtl. ‚gottgehaucht‘] …“ (2Tim 3,16, H.d.V.). Mit anderen Worten: Die Schrift hat ihren Ursprung nicht in den menschlichen Autoren, sondern in Gott selbst.
Inspiration als concursus
Wie gab Gott die Schrift ein? Das mag so etwas wie ein Geheimnis sein, aber Petrus gibt uns einen kleinen Einblick in dieses Geheimnis, wenn er schreibt: „Denn niemals wurde eine Weissagung durch menschlichen Willen hervorgebracht, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben die heiligen Menschen Gottes geredet“ (2Petr 1,21). B.B. Warfield nannte dies concursus (dt. „Mitwirkung“). Damit ist ein gleichzeitiges Wirken des menschlichen und des göttlichen Autors gemeint, obwohl der göttliche Autor dabei den Vorrang hat. Dies wird in der Erklärung des Petrus deutlich, dass die alten Propheten vom Geist „getrieben“ wurden. Wie bei einem Schiff auf See, das vom Wind vorangetrieben wird (z.B. Apg 27,15.17), wirkte der Geist auf solche Weise in den und auf die menschlichen Autoren, dass das, was sie sagten, genau das war, was Gott selbst sagte und beabsichtigte.
Petrus steht mit dieser Überzeugung nicht allein. Man kann sie auch in Jesu eigener Lehre erkennen, wenn er einen alttestamentlichen Autor und den Geist im gleichen Atemzug nennt (z.B. Mk 12,36–37). Die Auffassung des gesamten Neuen Testaments ist, dass die Schrift, die Jesus und die Apostel hatten (das Alte Testament), nichts anderes ist als Gottes inspiriertes Wort an sein Volk. Und es wird vertreten, dass die Schrift nicht nur in ihrer Gesamtaussage, sondern in ihrer Gesamtheit inspiriert ist, bis hin zu den einzelnen Wörtern (die Inspiration ist wörtlich und vollständig).
Die Gewissheit der Inspiration: das Evangelium
Es ist Paulus, der das ausdrücklich sagt (vgl. 2Tim 3,16). Doch Jesus und die Autoren der Evangelien weisen in die gleiche Richtung durch die beständige Wiederholung, dass die Schrift in Jesu Person und Werk erfüllt wurde (z.B. Lk 4,21; vgl. auch das Matthäusevangelium, das so oft auf die Erfüllung der Schrift hinweist). Die Bundesverheißungen Gottes aus der Schrift haben sich in Jesus Christus erfüllt, und das ist das größte Zeugnis für ihren göttlichen Ursprung. Wer nach Gewissheit sucht, dass die Schrift göttliche Offenbarung ist, der muss nicht weiter als bis zum Evangelium gehen. Gott ist in seinem Wort gekommen.
Literaturhinweise
- B.B. Warfield, Revelation and Inspiration.
- D.A. Carson (Hrsg.), The Enduring Authority of Christian Scripture.
- E.J. Young, Thy Word Is Truth: Some Thoughts on the Biblical Doctrine of Inspiration.
- Matthew Barrett, God’s Word Alone: The Authority of Scripture. Siehe die Interviews mit dem Autor hier and hier.
- Matthew Barrett, „Twenty-one lectures based on God’s Word Alone“.
- Matthew Barrett, „Ten videos on the doctrine of Scripture“.
- Matthew Barrett, Canon, Covenant, and Christology: Rethinking Jesus and the Scriptures of Israel.
- Peter Williams, „Why is divine authorial intent so important for biblical interpretation?“ (Video-Interview).
[1] Vgl. Institutio I,13.1.