Christus in den fünf Büchern der Psalmen
Lukas 24 beschreibt wohl das größte Bibelstudium aller Zeiten. Jesus erklärt, wie die Propheten von ihm gesprochen haben und wie sich alles, was über ihn in Moses’ Gesetz, in den Propheten und in den Psalmen geschrieben steht, erfüllen muss (vgl. Lk 24,25–27,44). „Die Psalmen“ beziehen sich hier zwar höchstwahrscheinlich auf die Poesie und Weisheitsliteratur der Bibel. Nichtsdestotrotz ist der Punkt in Lukas 24 klar – Jesus ist der Meinung, dass das 150-teilige Buch der Psalmen eindeutig von ihm zeugt.
Aber wir können die Psalmen noch genauer betrachten. In der Psalmenforschung herrscht zunehmend Konsens darüber, dass die Form des Psalters bewusst gewählt wurde – dass die Redakteure und Bearbeiter die einzelnen Psalmen mit einem bestimmten Ziel in der uns vorliegenden Reihenfolge anordneten.
Ich möchte einen Einblick in die fünf Bücher der Psalmen geben und dabei zeigen, wie die Gesamtform die Leser zur Hoffnung auf einen neuen davidischen König ermutigt. Damit tun die Psalmen genau das, was Jesus über sie sagt – sie verkünden ihn.
Erstes Buch: Der Aufstieg des Königs (Ps 1–41)
Der erste Hinweis darauf, dass das Buch der Psalmen in einer bestimmten Form redaktionell bearbeitet bzw. zusammengestellt wurde, ist die zweiteilige Einleitung. Eine Reihe von Gründen spricht dafür, dass die Psalmen 1–2 diese Funktion innehaben und sich vom Rest des ersten Buches abheben:
- Keiner der beiden Psalmen hat einen Titel. Dies steht im starken Kontrast zum Rest des ersten Buches.
- Das Wort „gesegnet“ bildet eine Rahmung (vgl. Ps 1,1; 2,12).
- Beide Psalmen beginnen mit dem Bild einer Gruppe von Menschen, die etwas planen oder über etwas nachsinnen (vgl. Ps 1,2; 2,1).
- Beide Psalmen enden mit der Erwähnung des „Weges“ (vgl. Ps 1,6; 2,12).
Darüber hinaus scheinen beide Psalmen auch ein und dieselbe Person zu beschreiben. In Psalm 1 wird diese als der Gesegnete vorgestellt, der seine Gerechtigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass er Tag und Nacht über Gottes Wort nachdenkt. Es ist wahrscheinlich, dass die gleiche Person in Psalm 2 als der in Zion thronende König bezeichnet wird.
Diese Verbindung wird noch verstärkt, wenn man sich daran erinnert, dass sich Israels Könige dem Wort Gottes widmen sollten (vgl. 5Mose 17,14–20), und dann eine Parallele zwischen Psalm 1 und Josua 1,8 zieht, wo der prototypische König Josua angewiesen wird, Tag und Nacht über Gottes Wort nachzudenken.
Buch Eins stellt eine Verbindung zwischen dem namenlosen König in der Einleitung und David her. Dies wird erreicht, indem praktisch jeder Psalm ihm, dem israelitischen König par excellence, zugeschrieben wird. Es ist durchweg die Stimme des davidischen Königs, die zu hören ist.
Im Zusammenhang mit dem Königtum Davids steht der Kampf zwischen den Gerechten und den Gottlosen. In der zweiteiligen Einleitung wird eine erste Gegenüberstellung zwischen den Gerechten und den Gottlosen vorgenommen (vgl. Ps 1), die anschließend durch den König und die widerspenstigen Völker (vgl. Ps 2) konkretisiert wird. Infolgedessen werden im ersten Buch zwei Erwartungen geweckt: Die Gerechten werden vom Herrn beschützt und der Herr wird seinen König in Zion einsetzen.
In Wirklichkeit gehen diese beiden Erwartungen miteinander einher, wie David bezeugt (vgl. Ps 41,11–12). Von Anfang an blickt das Buch der Psalmen auf die Einsetzung des von Gott Gesalbten in Zion voraus.
Zweites Buch: Der Aufstieg des Königreichs (Ps 42–72)
In vielerlei Hinsicht setzt das zweite Buch die Grundzüge des ersten fort. Es gibt allerdings eine Entwicklung. Unmittelbar ersichtlich ist ein Wechsel in der Autorenschaft, von (vorwiegend) David zu (vorwiegend) den Söhnen Korahs zugeschriebenen Psalmen. Damit erhält das zweite Buch eine levitische Färbung. Es treten auch vermehrt Gemeinschaftspsalmen auf, die von einer Gott anbetenden Gemeinschaft zeugen.
Das Buch hat einen levitischen Höhepunkt: Psalm 68 zeichnet die Reise der Bundeslade vom Berg Sinai nach Jerusalem nach. Gott wohnt bei seinem Volk, er verweilt bei ihnen in ihrer Hauptstadt. Dem entspricht ein königlicher Höhepunkt in Psalm 72. Hier geht das davidische Königtum in eine davidische Dynastie über, da sowohl David als auch Salomo nebeneinander genannt werden. Psalm 72 hat die Form eines Gebets für künftige Könige, die in Zion wohnen.
Das zweite Buch offenbart eine Vision davon, wie Israels Gottesdienst und Königtum eigentlich sein sollen. Doch diese Vision ist weitaus idealer als alles, was in der Geschichte Israels je stattgefunden hat. Daher bleiben die in Buch Eins geweckten Erwartungen in Buch Zwei bestehen.
Drittes Buch: Das Exil (Ps 73–89)
Die Erwartungen der ersten beiden Bücher kommen im dritten Buch zu einem abrupten Ende. Mehrere Merkmale deuten darauf hin, dass diese Unterbrechung die Erschütterungen des Exils markiert:
- Es gibt eine davidische Abwesenheit. Nachdem David bis dahin die dominierende Stimme der Psalmen war, wird ihm hier nur ein einziger Psalm zugeschrieben (vgl. Ps 86).
- Es gibt gemeinsame Klagelieder, die sich eindeutig auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels beziehen (vgl. Ps 74; 79).
- Das Buch wird mit einem Psalm eröffnet, der sich mit der Theodizee befasst (vgl. Ps 73) – wahrscheinlich gab es für Israels Vertrauen in Gott keine größere Herausforderung als das Exil.
- Psalm 89 beklagt die offensichtliche Ablehnung des davidischen Königtums durch Gott (vgl. Ps 89,38–51).
Psalm 89 ist wie eine dunkle Wolke, die über den in den Psalmen zuvor geweckten Erwartungen hängt. Gott wird eine provokante Frage gestellt: „Wo ist deine Treue?“ (Ps 89,49). Das vierte Buch beginnt, diese Frage zu beantworten.
Viertes Buch: Die zukünftige Hoffnung (Ps 90–106)
So wie Mose die Israeliten durch das erste Exil geführt hat, so wird er sie einmal mehr durch diese Wüstenerfahrung führen. Außerhalb des verheißenen Landes wird Gott erneut Israels Zuflucht sein. Die Psalmen 90–92 enthalten eine Vielzahl von Wüstenbildern, wie z.B. die Gefahr im offenen Gelände (vgl. Ps 91,3–5.11–13) und die Beschreibung einer langen Reise (vgl. Ps 90).
Der wiederholte Refrain der folgenden Psalmen lautet: „Der HERR regiert als König“ (vgl. Ps 93,1; 96,10; 97,1; 99,1), und die Bibel bezeugt, dass Gottes Herrschaft durch einen davidischen König erfahrbar wird. Der aufmerksame Leser wird feststellen, dass David im vierten Buch nicht abwesend ist (vgl. Ps 101; 103). Es ist auffallend, dass nach der Klage über die Ablehnung der davidischen Dynastie durch Gott in Psalm 89 David nun wieder Erwähnung findet. Psalm 101 verherrlicht den König sogar als jemanden, der Recht und Gerechtigkeit walten lässt – eine solche Beschreibung entspricht der gerechten, königlichen Person aus Psalm 1–2.
Fünftes Buch: Der neue David (Ps 107–150)
Das fünfte Buch ist der Höhepunkt der Geschichte der Psalmen. Der Leser kann die Bitte um Wiederherstellung nicht überhören – „Rette uns, HERR, unser Gott, und sammle uns aus den Nationen“ (Ps 106,47) –, ebensowenig wie die Bestätigung der Gebetserhörung: „Er hat uns aus der Not errettet und aus den Ländern gesammelt“ (Ps 107,2–3). Das Exil ist nicht mehr das vorherrschende Thema. Stattdessen wird der Leser dazu ermutigt, über die Umstände hinaus auf die Zukunft zu schauen, die Gott verspricht.
Das wichtigste Element der Zukunftshoffnung im fünften Buch ist ein neuer David. Davidische Psalmen finden sich am Anfang (Ps 108–110), in der Mitte (Ps 131; 133) und am Ende (Ps 138–145). Davids Name wird hier in einem zeitlichen Kontext (nach dem Exil) erwähnt, in dem der davidische Königsthron unbesetzt war. Allein diese Tatsache lässt vermuten, dass damit die Hoffnung auf einen neuen David geschürt werden soll.
„Jedes einzelne Buch des Psalters treibt den Leser voran und nährt die Hoffnung auf einen neuen davidischen König.“
Vor allem Psalm 110 spricht über Davids Herrn, einer rätselhaften königlichen Gestalt, die die Feinde besiegt und die Regierung antritt. Dazu passt, dass Psalm 132 die Verheißungen aus 2. Samuel 7 wieder aufgreift und ausdrücklich erwähnt, dass eine davidische Dynastie wieder aufblühen wird (vgl. Ps 132,11–12.17–18). Es gibt Hoffnung auf einen neuen davidischen König!
Neben das davidische Element wird Zion gestellt. Während im dritten Buch die Zerstörung Zions beklagt wurde, wird Zion im fünften Buch erneut als ein Ort des Friedens, des Wohlstands und der Heimat des davidischen Königs dargestellt. Dies wird vor allem dadurch erreicht, dass die Wallfahrtslieder in den Mittelpunkt des fünften Buches gestellt werden (Ps 120–134): Die anbetenden Pilger, ziehen „hinauf nach Zion“.
Das hebräische Wort „Halleluja“ wird mit „Lobt den HERRN“ übersetzt. Es erscheint als Antwort auf die erste davidische Sammlung des fünften Buches (auf Ps 108–110 folgen Halleluja-Motive in Ps 111–118) und die Feier Zions in den Wallfahrtsliedern (auf Ps 120–134 folgt Ps 135). Das gesamte Buch der Psalmen endet mit einem Halleluja-Schluss (Ps 146–150), in dem jeder Psalm mit „Lobt den HERRN“ beginnt und endet. Sichere Hoffnung bewirkt weltweiten Lobpreis.
Das führt uns zu Davids Herrn
So segensreich es auch ist, jeden Psalm als eigenständige Einheit zu lesen, so gibt es doch etwas Größeres in der Struktur der Psalmen zu entdecken. Jedes einzelne Buch des Psalters treibt den Leser voran und nährt die Hoffnung auf einen neuen davidischen König.
Am deutlichsten ist dies wahrscheinlich in Psalm 110 zu sehen, einem Text, den Jesus gegen die Pharisäer gebraucht (vgl. Mt 22,41–45), den Petrus an Pfingsten verkündet (vgl. Apg 2,33–36) und den der Hebräerbrief vertieft (vgl. Hebr 1,3.13; 5,6; 7,17.21; 8,1; 10,12–13; 12,2). Der Hebräerbrief erkennt an, dass Psalm 110 von Gott zu seinem Sohn gesprochen wird (vgl. Hebr 1,5.8.13; 5,5–6), er deutet an, dass David eine prophetische Gabe besaß (vgl. Hebr 1,5–14), und er versteht Psalm 110,1 und 4 als in einer einzigen Person erfüllt (vgl. Hebr 5,5–6).
„Jesus hatte recht – das Buch der Psalmen weist auf ihn hin.“
Der Hebräerbrief behauptet also, dass Jesus der erwartete König-Priester aus Psalm 110 ist. Angesichts der Tatsache, dass sich Psalm 110 im fünften Buch der Psalmen befindet, scheint eine solche Lesart gerechtfertigt.
Du und ich waren bei diesem größten Bibelstudium in Lukas 24 nicht dabei. Aber wenn wir wissen wollen, was Jesus die Jünger gelehrt hat, brauchen wir nur die apostolischen Schriften zu lesen, insbesondere den Hebräerbrief. Jesus hatte recht – das Buch der Psalmen weist auf ihn hin.