Das Zeugnis des Lukasevangeliums

Artikel von Robert Rothwell
5. Juli 2022 — 10 Min Lesedauer

Stell dir für einen Augenblick vor, du wärst Bürger des römischen Reichs im 1. Jahrhundert. Du lebst in einer Zeit des Friedens und Wohlstands unter der Herrschaft von Caesar, den viele als „Herrn“ bezeichnen. Du hast die Werte und Moralvorstellungen des Judentums schon immer bewundert, auch wenn du Praktiken wie die Beschneidung ablehnst. Vielleicht bist du sogar gottesfürchtig – ein Heide, der dem jüdischen Monotheismus gegenüber aufgeschlossen ist, auch wenn er sein Leben nicht nach dem Mosaischen Gesetz ausrichtet.

Und jetzt stell dir vor, du hättest gerade von einem Mann namens Paulus das Evangelium gehört. Von diesem Apostel hast du erfahren, jegliche Herrschaft gehöre allein Jesus Christus, dem Sohn Gottes – auch wenn man die weltliche Regierung trotzdem respektieren sollte. Außerdem seien alle, die sich diesem Jesus unterordnen, Erben der Verheißung für das Volk Israel, ohne dafür jüdische Feste, Speisegesetze oder die Beschneidung beachten zu müssen. Du hörst die gute Nachricht, folgst daraufhin Jesus nach und bist damit Teil der Sekte, die Außenstehende verächtlich „christlich“ nennen.

Da sie von griechischer Philosophie beeinflusst sind, lachen viele Heiden über deinen Glauben, Gott habe in Jesus von Nazareth die menschliche Natur angenommen und sei von den Toten auferstanden. Zu deiner Enttäuschung beten die wenigsten deiner jüdischen Freunde Jesus an. Manche sind verwundert, dass du als Heide denkst, der Gott Israels habe dich als Kind Abrahams angenommen, ohne das Gesetz erfüllen zu müssen. Zu allem Übel hast du nun von Paulus und seinen Freunden Petrus und Johannes erfahren, dass manche, die sich als Christen ausgeben eigentlich gar keine Nachfolger Jesu sind. Menschen, die behaupten Apostel zu sein, verbreiten Irrlehren über Jesu Leben und Dienst.

Was machst du jetzt? Woher weißt du, dass Gott wirklich Mensch wurde und Jesus auferstanden ist? Gibt es Beweise dafür, dass du, ein Heide, Teil der Geschichte Israels werden kannst? Wirst du unterscheiden können zwischen den Lügen, die über Jesus verbreitet werden und der Wahrheit?

All diese Fragen sollten uns dazu bringen, über den Sinn der Evangelien nachzudenken – besonders in Bezug auf das Lukasevangelium. Da die meisten von uns schon immer Zugang zum kompletten Neuen Testament haben, denken wir vielleicht, alle Evangelien hätten das gleiche Ziel und den gleichen Schwerpunkt. Ja, die vier Evangelien sprechen alle Menschen an und zeigen, wer Jesus ist, damit sie ihm als Herrn und Erlöser folgen mögen. Aber keiner der Evangelisten schwebte im luftleeren Raum. Jeder von ihnen hatte ein bestimmtes Publikum mit bestimmten Bedürfnissen im Kopf, das sie beim Schreiben beeinflusste. Das half ihnen zu entscheiden, welche Ereignisse sie besonders hervorheben wollten. Wenn wir die unterschiedlichen Schwerpunkte der Evangelien verstehen, erhalten wir einen tieferen Einblick in die Person und in das Werk Christi, als hätten wir nur ein Evangelium.

Glücklicherweise nennt Lukas direkt zu Beginn des Evangeliums seine Absicht – er möchte einem Mann namens Theophilus ein sorgfältig aufgeschriebenes Zeugnis und damit Gewissheit über das Leben Christi geben (vgl. 1,1–4). Scheinbar machten zu der Zeit verschiedene Geschichten über Jesus die Runde – wahrscheinlich Berichte über einzelne Begebenheiten seines Lebens – und Lukas wollte Theophilus und anderen Lesern eine vollständige Darstellung liefern. Mithilfe dieser noch unvollständigen Aufzeichnungen, den anderen Evangelien, der Befragung von Augenzeugen usw. setzte Lukas sich hin, um inspiriert durch den Heiligen Geist ein Dokument zu verfassen, das auf Theophilus’ Anliegen eingeht.

Natürlich war dabei unser himmlischer Vater derjenige, der Lukas in seiner Vorsehung auf einzigartige Weise half, einen korrekten Bericht über das Leben und das Werk unseres Erlösers zu verfassen. Als Paulus’ treuster Reisebegleiter wird Lukas eine ganze Menge Informationen über Jesus erhalten haben – sowohl von Paulus selbst als auch von den Aposteln, mit denen er in Kontakt stand. Wir wissen außerdem, dass Lukas Arzt war – seine Ausbildung wird eine große Bereicherung für die Recherche und das Schreiben des Evangeliums gewesen sein. Und Gott gab Lukas einen Freund, Theophilus, dessen Zweifel über Jesus angesprochen werden mussten. Dieser Umstand gab Lukas die nötige Motivation, einen Bericht zu schreiben, der sich mit Theophilus’ Fragen auseinandersetzt und uns Einblicke in die Wege Gottes gibt, die wir sonst vielleicht nicht erhalten hätten.

„Der Gott Israels, Jahwe, ist auch der Gott der Heiden und nimmt sich ihrer an.“
 

Zum Beispiel macht Lukas deutlich: Der Gott Israels, Jahwe, ist auch der Gott der Heiden und nimmt sich ihrer an. Matthäus, Markus und Johannes zeigen das zwar auch, aber im Lukasevangelium kommt es besonders zur Geltung. Lukas’ Griechisch ist präzise und von hoher sprachlicher Qualität, wie man es von jemandem aus heidnischer Abstammung erwarten würde – wobei es sein kann, dass Lukas Jude wurde, bevor er von Christus hörte. Gott hätte kaum auf schönere Weise seine Liebe zu den Heiden verdeutlichen können, als darin, durch einen von ihnen das Leben seines Sohnes aufzuschreiben! Lukas macht Gottes Fürsorge für alle Nationen auch im Stammbaum Jesu deutlich. Er verfolgt Jesus Abstammung dem Fleische nach bis zu Adam zurück und zeigt damit: Der jüdische Messias stammt auch von Heiden ab, da die Linie zwischen Adam und Abraham heidnisch ist.

Außerdem betont Lukas die Liebe des Vaters für alle Nationen durch seinen Fokus auf die Geschichte. Natürlich sind alle Evangelien, so wie die ganze Schrift, historisch korrekt und befassen sich mit Gottes Wirken in der Welt. Aber die geschichtliche Einordnung des Lukasevangeliums ermöglicht uns einen einzigartigen Einblick in die Absicht unseres Schöpfers, Menschen aus allen Nationen zu erlösen. Lukas’ Berichte, zusammengesetzt aus seinem Evangelium und der Apostelgeschichte, bilden in ihrer Struktur eine dreischrittige Steigerung des Werkes Gottes in der Menschheitsgeschichte. Lukas 1,1–3,22 betont das Wirken Gottes im Volk Israel. Der erste Abschnitt beinhaltet also die Zeit der jüdischen Nation, in der Gott ein Volk auf die Geburt des Erlösers vorbereitet. Der zweite Abschnitt, Lukas 3,23–Apostelgeschichte 1,26, handelt von Jesu irdischem Dienst, in der er die Macht der Sünde, des Todes und des Teufels besiegt und Gottes Herrlichkeit bezeugt – vor den Juden und vor Heiden wie Pontius Pilatus. Apostelgeschichte 2–28 und die ganze Kirchengeschichte bis Jesu Wiederkunft (vgl. Apg 28,28) ist die Zeit für die Erlösung aller Menschen. Gott erreicht sie durch die Kirche, die durch den Heiligen Geist befähigt ist. In diesem dritten Abschnitt der Menschheitsgeschichte verbreitet sich das Evangelium von Jerusalem bis an das Ende der Welt, indem der Heilige Geist die Kirche dazu bewegt, Gottes Gnade in Christus allen Nationen zu verkünden. Ein Schlüsselereignis dieser Zeit ist die Bekehrung des Kornelius – ein Zeichen dafür, dass das Evangelium sowie der Heilige Geist auch den Heiden nicht vorbehalten sind und auch Nichtjuden umkehren und neues Leben erhalten können (vgl. Apg 10,1–11,18).

„Wenn sogar Ausgestoßene gerettet werden können, gibt es echte Hoffnung für die gefallene Schöpfung.“
 

Lukas’ Fokus auf historischen Ereignissen gibt seinen Lesern außerdem Gewissheit über den Wahrheitsgehalt des christlichen Glaubens. Nur in wenigen anderen Büchern der Bibel wird so häufig Bezug auf historische Personen und Ereignisse genommen. Wir erfahren z.B., dass Jesus geboren wurde als Augustus Kaiser und Quirinius Statthalter in Syrien war (vgl. Lk 2,1–7). Damit bettet er Jesu Menschwerdung in die Geschichte ein und widerlegt die Idee, sie sei nur ein Mythos oder Wunschdenken jenseits der Realität. In Apostelgeschichte 11,27–30 lesen wir von einer Hungersnot, die unter dem Kaiser Klaudius geschah, wodurch das Handeln Gottes wieder in einen historischen Kontext gesetzt wird. Darin sehen wir, dass Gott sich nicht zu schade ist, innerhalb von Raum und Zeit zu wirken. Für Griechen, die die materielle Welt als böse und der göttlichen Zuwendung unwürdig empfanden, ist das Verorten des Handelns Gottes in Raum und Zeit radikal und zeigt: Der Herr möchte nicht nur die geistliche Welt erlösen, sondern auch die materielle.

Die Fürsorge Gottes für Griechen und andere Heiden, die wir in Lukas’ Berichten wiederfinden, ist eine wahrlich gute Nachricht für alle, die nicht Teil von Gottes Bündnissen mit Israel und ohne Hoffnung in der Welt waren. Wenn sogar Ausgestoßene gerettet werden können, gibt es echte Hoffnung für die gefallene Schöpfung. Lukas zeigt uns in seinem Evangelium aber nicht nur auf, wie Gottes Liebe den Heiden zugutekommt, sondern auch Außenseitern innerhalb des Volkes Israel. Im ersten Jahrhundert wurden jüdische Frauen als minderwertig angesehen und Christus zeigte ihnen Respekt, indem er bereit war auch sie zu unterrichten (vgl. Lk 10,38–42). Das war unerhört, da die meisten Rabbis keine weiblichen Jünger annahmen. Lukas berichtet uns, mehrere wohlhabende Frauen unterstützten Jesu Dienst finanziell (vgl. 8,1–3) und wie auch die anderen Evangelisten zeigt er auf, dass sie treu waren und Jesus in seiner dunkelsten Stunde beistanden, wo sich seine männlichen Jünger beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten aus dem Staub machten (vgl. 23,44–24,10; Mt 27,45–28,10; Mk 15,33–16,8; Joh 19,25–27; 20,1–3).

Lukas widmet auch den Armen besondere Aufmerksamkeit. Sie wurden in der jüdischen Gesellschaft des ersten Jahrhunderts oftmals ausgestoßen, da man davon ausging, Gottgefälligkeit und Reichtum hingen zusammen. Lukas zeigt uns, dass Gott sich besonders um die Armen kümmert. Maria und Joseph z.B. waren in den Augen der Welt arm, da sie im Tempel nur Tauben als Opfer darbringen konnten (vgl. Lk 2,22–24; 3 Mose 5,1–13,12). Ironischerweise wurde diesem Paar aber der größte Schatz anvertraut: das Großziehen des Messias. Auch durch das Aufschreiben Jesu Lehre, den Armen, die auf ihn vertrauen, gehöre das Reich Gottes, macht Lukas deutlich, dass Jesus sich um die Armen kümmert (6,20–21; 12,13–21; 16,19–31). Natürlich wird damit nicht gesagt, Arme wären von Natur aus gottgefällig oder hätten ein Recht auf Gottes Liebe. Es geht darum, dass wir an der Fürsorge unseres Schöpfers erkennen: Er wird sich derer annehmen, die von der Gesellschaft ausgestoßen oder vergessen werden. Sein Reich ist nicht für die Großen und Starken, sondern für die Demütigen und Schwachen. Da Arme sich nicht auf materielle Güter verlassen können, gehören sie oftmals zu denen, die sich ihrer Schwachheit am meisten bewusst sind. Arm im Geist zu sein ist die Voraussetzung, gerettet zu werden, egal ob man materiell reich ist oder nicht.

Menschlich gesehen hätte Lukas diese Aspekte des Lebens und Wirkens Jesu nicht aufschreiben müssen. Er hätte andere Ereignisse überliefern können, da er wie die anderen Evangelisten genügend Material hatte, aus dem er auswählen konnte (vgl. Joh 21,25). Geleitet vom Heiligen Geist schrieb Lukas aber ein Evangelium, das die historische Echtheit des Christentums aufzeigt und Gottes Fürsorge für die Heiden und andere Außenseiter betont. Wir können dankbar für diesen Schwerpunkt sein, da er allen, die aufgrund ihrer Sünde aus Gottes Reich ausgestoßen wurden, egal ob Jude oder Heide, echte Hoffnung gibt. Gott hat in die Menschheitsgeschichte eingegriffen und wird diejenigen nicht verstoßen, die an seinen Sohn glauben.