Größer als Johannes der Täufer
Mal angenommen, ich würde mich mit einem der großen biblischen Propheten (wie Jesaja) vergleichen und zu dem Schluss kommen, dass ich größer bin als er. Das wäre dumm, um nicht zu sagen arrogant. Der Apostel Paulus warnt uns davor, dass es uns an Weisheit fehlt, wenn wir uns mit anderen vergleichen (vgl. 2Kor 10,12).
Aber was wäre, wenn es Jesus wäre, der den Vergleich anstellt? Und was wäre, wenn du und ich bei seinem Vergleich besser abschneiden würden als bei meinem? Tatsächlich bleibt es nicht bei einem „was wäre, wenn“ – Jesus macht genau diesen Vergleich in Matthäus 11,11: „Wahrlich, ich sage euch: Unter denen, die von Frauen geboren sind, ist kein Größerer aufgetreten als Johannes der Täufer; doch der Kleinste im Reich der Himmel ist größer als er.“
Als Christen könnten wir uns heute immer noch darüber streiten, wer von uns der Größte im Himmelreich sein wird (und wir wären nicht die Ersten; vgl. Mk 9,34). Aber laut Jesus wären wir selbst als die Geringsten immer noch größer als Johannes. Was bedeutet das? Im Folgenden ein Versuch, die Frage im größeren Zusammenhang von Matthäus 11,1-19 zu beantworten (vgl. Lk 7,18–35).
Was machte Johannes so besonders?
Wie Jesus über Johannes spricht, ist schon erstaunlich. Hätte man mich gefragt, wer meiner Meinung nach bis zu jenem Zeitpunkt der größte Mensch war, der jemals geboren wurde, hätte ich vielleicht auf Mose getippt. Hatte der Verfasser von 5. Mose am Ende des Buches nicht festgestellt, dass „…. aber in Israel kein Prophet mehr auf[stand] wie Mose, den der Herr kannte von Angesicht zu Angesicht“? (5Mose 34,10).
Und doch war laut Jesus jemand gekommen, der größer war als Mose; jemand, der „mehr ist als ein Prophet“ (Mt 11,9).
„Kurz gesagt, Johannes war aufgrund seiner Nähe und Beziehung zu Jesus der Größte, der jemals von einer Frau geboren wurde.“
Wieso stufte Jesus Johannes so hoch ein? Die Antwort lautet: Weil Johannes eine der wenigen historischen Persönlichkeiten neben Jesus war, die im Alten Testament vorhergesagt wurden (vgl. Mt 11,10; Mal 3,1; Jes 40,3–5; Mal 4,5–6). Darüber hinaus war er der Prophet, der für die Aufgabe ausgewählt wurde den Messias anzukündigen. Nicht Mose durfte den Sohn Gottes taufen, sondern Johannes (vgl. Mt 3,13–17). Von allen Propheten sah nur Johannes den Messias aus nächster Nähe und war Teil der Einführung von Gottes Reich. Kurz gesagt, Johannes war aufgrund seiner Nähe und Beziehung zu Jesus der Größte, der jemals von einer Frau geboren wurde.
Warum wurde Johannes so herabgestuft?
Wie kann Johannes dann niedriger eingestuft werden als der Geringste im Reich Gottes? Was fehlte ihm, das uns gegeben wurde?
Ein Hinweis darauf findet sich im unmittelbaren Kontext. Einige Verse zuvor hatte Johannes, der sich zu dieser Zeit im Gefängnis befand, seine Jünger ausgesandt, um Jesus folgende Frage zu stellen: „Bist du derjenige, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Diese Frage schockiert. Man sollte meinen, Johannes wäre der Letzte, der eine solche Frage stellen würde!
Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Johannes trotz seiner großen Privilegien im wahrsten Sinne des Wortes immer noch ein alttestamentlicher Prophet war. Er stand zwar an der Schwelle zum Reich Gottes, kündigte dessen Ankunft an und sah es deutlicher als jeder Prophet vor ihm (vgl. Mt 3,1). Aber zumindest in dieser Situation hat er immer noch „… nachgeforscht, auf welche und was für eine Zeit der Geist des Christus in [ihm] hindeutete, der die für Christus bestimmten Leiden und die darauf folgenden Herrlichkeiten zuvor bezeugte“ (1Petr 1,11).
Wir erinnern uns daran, dass Johannes davon gesprochen hatte, dass der Messias seinen Weizen in die Scheune sammelt und die Spreu mit unauslöschlichem Feuer verbrennt (vgl. Mt 3,12). Vielleicht hatte er erwartet, dass dieses Gericht früher kommen würde und war verwirrt, als er es nicht kommen sah. Doch wir sollten ihn nicht zu hart verurteilen. J.C. Ryle merkt an:
„Wir wissen kaum, wie viele gesegnete Wahrheiten des Evangeliums wir einst durch ein dunkles Glas gesehen haben, die uns jetzt klar wie der Tag erscheinen. Gerade weil wir mit dem Evangelium vertraut sind, sind wir blind für das Ausmaß unserer Privilegien.“
Das wirft die Frage auf: welche Privilegien?
Warum ist der geringste Christ größer als Johannes?
Johannes dem Täufer den Rang abzulaufen, sollte uns nicht prahlerisch und stolz, sondern dankbar und demütig machen. Viele Propheten und Könige sehnten sich danach die Dinge zu sehen, die wir sehen. Sie wünschten sich zu erhalten, was wir erhalten haben (vgl. Mt 13,16; Hebr 11,39). Wenn wir einen größeren Segen als Johannes erhalten haben, dann nur aus reiner Gnade. Haben wir etwas dazu beigetragen, im Zeitalter der Erfüllung geboren zu werden, in dem Jesus Leben und Unsterblichkeit zu uns gebracht hat (vgl. 2Tim 1,10)?
„Aber selbst der Geringste unter den Teilhabenden des Neuen Bundes ist mit dem verheißenen Heiligen Geist erfüllt und lebt unter der Königsherrschaft, die Jesus in der Himmelfahrt bereits angetreten hat.“
Johannes prophezeite denjenigen, der Gottes Volk mit dem Heiligen Geist taufen würde (vgl. Mt 3,11). Und obwohl Johannes tatsächlich mit dem Geist erfüllt wurde (vgl. Lk 1,15), erlebte er die Ausgießung am Pfingstfest, die er vorausgesagt hatte, nicht mehr (vgl. Apg 2). Aber selbst der Geringste unter den Teilhabenden des Neuen Bundes ist mit dem verheißenen Heiligen Geist erfüllt und lebt unter der Königsherrschaft, die Jesus in der Himmelfahrt bereits angetreten hat (vgl. Joel 3,1–3; Röm 8,9; Apg 2,33).
Schließlich muss sich auch der Geringste im Reich Gottes nicht mehr fragen, ob Jesus derjenige ist, auf den Gottes Volk gewartet hat, oder ob wir auf einen anderen warten sollten. Selbst der Geringste unter uns kann die grundlegenden und gnadenreichen Dinge bekennen, die für Johannes noch in der Zukunft lagen und nicht greifbar waren: dass Jesus bis in den Tod gehorsam war, dass Gott ihn erhoben hat und dass es eine Zeit der Verzögerung geben wird, bevor er wiederkommt, um den Weizen zu sammeln und die Spreu zu verbrennen (vgl. Phil 2,8–9; Lk 19,11–12). Ryle hat recht:
„Das Kind, das die Geschichte des Kreuzes kennt, besitzt einen Schlüssel zu religiösem Wissen, den die Patriarchen und Propheten nie hatten.“
Nicht einmal Johannes der Täufer.