Leiten

Rezension von Andreas Dück
8. September 2022 — 8 Min Lesedauer

Es ist unbestritten, dass Gemeindeleiter einen immensen Einfluss auf den Werdegang einer Gemeinde haben. Durch ihr Amt, ihre Präsenz und ihren Dienst prägen sie die Gemeinde mit großem Gewicht. In diesem Zusammenhang stellen Leiter verständlicherweise Fragen, wie die nach einer guten, biblischen Struktur, nach wirksamen Mitteln der Verkündigung und Leitung sowie nach hilfreichen Strategien und Tools, die dabei helfen können. Um diese Dinge geht es im Buch von Paul David Tripp jedoch nicht, auch wenn der Titel dies zunächst nahelegt. Die Zielgruppe sind nicht Gemeindeleiter, die wissen wollen, wie sie gut leiten können, sondern solche, die es bereits tun. Im Fokus stehen Pastoren erfolgreicher Gemeinden, die sich hervorragend entwickelt haben und gleichzeitig äußerst gefährdet sind.

„Wie ist es möglich, dass in Leitungskreisen eine Kultur entsteht, in der die Realität der Sünde und die Kraft des Evangeliums keinen Raum mehr haben?“
 

Als Initialzündung für das Buch beschreibt Tripp ein erschütterndes Telefonat über die Situation eines Pastors inmitten einer dynamischen Gemeindeentwicklung. Es handelt sich um eine Gemeinde mit effektiven Strukturen und kraftvollen Predigten. Sie ist perfekt organisiert und hat ein funktionierendes Lead-Pastor-Prinzip. Es gibt eine klare Vision mit einer wirkungsvollen Strategie, und auch die Planung der nächsten Monate steht. Doch in einer Sitzung kündigt der Pastor ohne jede Vorankündigung seinen Dienst, bricht jeden Kontakt ab, lässt sich scheiden und verschwindet von der Bildfläche. Die nichts ahnenden anderen Leiter bleiben schockiert zurück. Diese erschütternde Erfahrung bewegt Tripp, dieses Buch zu schreiben.

Seine Hauptthese lässt sich so zusammenfassen: Das Versagen des Pastors ist nicht das eines Einzelgängers. Nein, es ist das Versagen des gesamten Leitungsteams. Es ist undenkbar, dass der Zusammenbruch so plötzlich gekommen ist. Den Pastor müssen in der Vergangenheit doch Anfechtungen und Zweifel geplagt haben. Warum hat sie niemand mitbekommen? Wie kommt es, dass Jünger Jesu eng miteinander arbeiten, ohne einander in den täglichen Anfechtungen zu helfen? Wie kann es sein, dass Leiter, anderen das Evangelium verkündigen sowie Buße und das Bekennen von Sünden predigen und es selbst nicht tun? Wie ist es möglich, dass in Leitungskreisen eine Kultur entsteht, in der die Realität der Sünde und die Kraft des Evangeliums keinen Raum mehr haben?

Die Rolle des Teams für den Leiter

Tripp macht mehrfach deutlich: Leiter sind füreinander verantwortlich. Es ist wohltuend und ernüchternd zugleich, wie er als Seelsorger zunächst einmal die elementaren Bibelstellen zum Umgang miteinander auf die Leiter anwendet. Es stimmt: Eigentlich sind Leiter ja auch „einfach Christen“! Dennoch ist es ungewohnt, dass er beispielsweise Stellen wie Hebräer 10,19, Jakobus 5,7 und Epheser 4,29–32 konkret auf Leitungsteams anwendet. Ja, nicht nur die Jungen im Glauben müssen lernen, jemanden zu konfrontieren, sondern auch die „Alten“. Nicht nur die Streithähne der Gemeinde müssen einander vergeben, sondern auch die Leiter. Nicht nur Mitarbeiter sollen Geduld miteinander haben, sondern erst recht die Leiter. Ganz schnell geht es bei den Ältestentreffen nämlich um die große Leitungskunst, wobei die einfachen biblischen Wahrheiten für den Umgang miteinander vergessen werden. Es gibt jedoch keine Integralrechnungen ohne das 1×1.

Dass Pastoren sich ernsthaft um ihr Glaubensleben kümmern und das Evangelium täglich für sich anwenden sollen, ist kein neuer Gedanke. Neu ist hingegen die Rolle des Leitungskreises, die Tripp im Füreinander sieht. Die persönlichen Schwächen, Versuchungen und konkreten Sünden des Pastors sind kein Thema für einen persönlichen Seelsorger (allein), sondern müssen ihren Platz inmitten des Leitungsteams finden. Er schreibt:

„Aufgrund dessen, was Gott in der Person und dem Werk Jesu Christi für uns getan hat, sind wir als Leitungskreis frei geworden, die ehrlichste Gemeinschaft auf dieser Erde zu sein.“ (S. 42)

Mit dieser Hauptaussage wird Tripp sicher nicht auf breite Zustimmung stoßen. Ich vermute nämlich, dass die meisten Pastoren (wenn überhaupt!) nur in höchst privater Seelsorge ein bis zwei Menschen gegenüber ihre Schwierigkeiten zugeben – und diese sind wohl nicht Teil des Leitungskreises. Ich merke, dass dieser Ansatz mich ordentlich herausfordert.

Folgenschwere Veränderungen

Uns ist bewusst, dass Pastoren Versuchungen haben und diesen auch erliegen können. Wahrscheinlich nehmen sie jedoch seltener Hilfe für sich in Anspruch und werden seltener angesprochen. Gerade bei erfolgreichen Gemeinden entdeckt Tripp eine langsame Veränderung im Umgang mit dem Pastor. Während man am Anfang seines Dienstes noch sehr auf den Charakter achtet und Ermutigung und Rechenschaft häufiger stattfinden, lässt all dies mit dem zunehmenden sichtbaren Erfolg nach. Die anderen Leiter verschließen ihre Augen und Ohren vor der unanständigen Bemerkung hier oder dem kleinen Zornausbruch dort. Die Schwächen des Pastors werden wegerklärt, statt angesprochen. Tripp:

„[D]er Grund dafür, dass wir angesichts beunruhigender Anzeichen bezüglich der Einstellungen und Handlungen eines Leiters oft viel zu passiv sind, liegt darin, dass die Leistung allzu oft den Charakter aussticht … Und so akzeptiert ein Leitungskreis, was er nicht akzeptieren sollte, schweigt dort, wo er reden sollte und bleibt passiv, wenn er handeln sollte … Nicht nur der Leiter hat sich verändert, sondern der gesamte Leitungskreis.“ (S. 123–124)

Eigentlich muss der Leitungskreis im Sinne des Evangeliums aber korrigierend eingreifen:

„Mit dem Ziel, ihn zu schützen, müssen wir uns ihm in den Weg stellen und uns weigern, etwas zu befürworten oder zu unterstützen, dass entweder geistliche Gefahren birgt oder ein Beleg dafür ist, dass der Feind bereits einen Sieg im Herzen dieses Menschen errungen hat. Solche Gespräche und Maßnahmen sind schwer … Aber man kann sich nicht wirklich als Leitungskreis bezeichnen, der von der Liebe des Evangeliums angetrieben wird, wenn man solche Gespräche vermeidet.“ (S. 139)

Es kommt zu einer zunehmenden Entfremdung des Pastors von Jesus. Tripp spricht hier treffend von einer wachsenden Diskrepanz zwischen Funktionaltheologie und Formaltheologie. Während man alle Aspekte des Evangeliums bejaht und sie auch weiterhin predigt fehlen sie vermehrt in der persönlichen Praxis. Aufgrund einer fehlenden Ehrlichkeit wird der Glaube im Herzen des Pastors immer mehr ausgehöhlt bis er unweigerlich zusammenbricht. Ein großer Antreiber ist dabei die Angst, vor den anderen Leitern sein Gesicht zu verlieren. Dazu schreibt Tripp:

„Wenn wir Angst davor haben, unsere Sünde vor den Menschen zu bekennen, die eigentlich zur geistlich reifsten Gruppe der Gemeinde zählen sollte, dann leben wir leider in einem Zustand funktionaler Evangeliumsamnesie, ganz gleich, wie solide unser theologisches Verständnis des Evangeliums auch sein mag.“ (S. 63)

Mit der Anwendung des Evangeliums meint Tripp die gesamte Bandbreite von der Konfrontation bis zur Wiederherstellung. Diese hat bei ihm einen hohen Stellenwert. Eine der stärksten Überschriften dazu lautet: „Jeder glaubt an Gnade, bis ein Leiter sie braucht“ (S. 202). Das sitzt. Zum Thema Wiederherstellung will Tripp aber ein weiteres Buch schreiben.

Zu Inhalt, Aufmachung und Übersetzung

Nachdem Tripp seine Hauptanliegen benannt hat vertieft er in jedem Kapitel einen besonderen Aspekt. Dadurch wirkt einiges redundant. Manchmal hatte er mich dabei verloren, doch bringt er dadurch einige Dinge wiederholt sehr eindrücklich auf den Punkt. Es gab einige Seiten, auf denen ich jeden Satz hätte unterstreichen können, so dicht wirkte der Gedankengang. Zur Reflexion und Vertiefung gibt es am Ende mancher Kapitel Fragen zum Nachdenken oder Merksätze, die zwar etwas vorhersehbar, aber gut gelungen sind.

Die Aufmachung finde ich sehr ansprechend und das Buch ist auch optisch angenehmen zum Lesen. Das Cover ist eine Übernahme des amerikanischen Originals und wirkt mit den Symbolen inspirierend, wobei ich den Titel eher irreführend finde. „Leiten“ klingt eben sehr umfassend und weckt Erwartungen, die mit dem „Wie“ assoziiert werden. Der Titel auf der Rückseite „Hirten brauchen das Evangelium“ gibt das Anliegen des Buches hingegen treffender wieder.

„Mit Sicherheit möchten wir vermeiden, dass ein äußerlich wirkungsvoller Dienst durch zunehmend ausgehöhlte Menschen verrichtet wird, nur um irgendwann mit einem großen Knall in sich zusammenzufallen.“
 

Die Übersetzung liest sich sehr flüssig. Allein der Begriff „Gemeindehirte“ irritiert mich. Der Verlag will den Begriff „Pastor“ aufgrund theologischer Überzeugungen vermeiden und wählt dafür den Ausdruck „Gemeindehirte“. Aus meiner Sicht ist das eher hinderlich, denn die angesprochenen Leser werden wohl sehr gut mit dem Begriff „Pastor“ umgehen können, auch wenn sie ihn für sich nicht verwenden. Im Lesefluss wirkt der Ersatzbegriff unnötig künstlich.

Fazit

Leiten ist kein Buch darüber, wie man eine Gemeinde leitet, sondern ein Buch für diejenigen, die es bereits mit Erfolg und Erfahrung tun. Einige der Leser werden bei der Thematik vielleicht die Skandalgeschichten von Pastoren in bedenklichen Gemeinden vor Augen haben, doch Tripp hat gerade Pastoren im Blick, die ein eng an die Bibel angelehntes Gemeindeverständnis vertreten. Als Pastor, der in Seelsorgegesprächen immer wieder in die Abgründe seiner eigenen Seele schaut, weiß ich nur zu gut, wie fragil die Wirklichkeit hinter der Fassade tatsächlich ist. Wenn wir als Leiter an einem vom Evangelium geprägten Gemeindebau interessiert sind, sollte die Frage, wie das Evangelium in unserem Leitungskreis vollumfänglich angewendet wird, von höchster Priorität sein. Wie immer wir das Anliegen am Ende umsetzen: Mit Sicherheit möchten wir vermeiden, dass ein äußerlich wirkungsvoller Dienst durch zunehmend ausgehöhlte Menschen verrichtet wird, nur um irgendwann mit einem großen Knall in sich zusammenzufallen. Es ist ein wichtiges Buch für Leitungskreise (und nicht nur Pastoren!), die an einer nachhaltigen Gemeindearbeit interessiert sind, die das Evangelium verkörpert.

Buch

Paul David Tripp, Leiten: 12 Prinzipien des Evangeliums für Leiterschaft in der Gemeinde, Berlin: EBTC, 2022, 256 Seiten.