Selbst in den dunklen Tiefen der Demenz

Artikel von Cynthia Fischer
21. September 2022
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Als meine Mutter mit bereits mittelschwerer Demenz Anfang des Jahres einen Schlaganfall erlitt, verschwand ihr Wortschatz an Substantiven. Ein kleines Stückchen Plaque setzte sich in ihrem Gehirn fest. Das war alles, was nötig war, um die Namen von Menschen, Orten und Dingen, die sie kannte, zu löschen. In einem einzigen Moment verschwanden alle Geschichten, die sie je erzählt hatte, für immer. Sie wird sie nie wieder erzählen können.

Die Dunkelheit der Demenz

Fast jedes Mal, wenn ich sie nach dem gemeinsamen Abendessen nach Hause gefahren hatte, hatte meine Mutter die Geschichte wiederholt, wie ihr Vater mit seinem Militär-Geländewagen auf derselben Straße (damals ein unbefestigter Feldweg) gefahren war. Das Auto ohne Dach hatte sich auf dieser hügeligen, kurvenreichen Straße nicht gerade präzise nach links und rechts lenken lassen.

Manchmal war ihm das Benzin ausgegangen. Manchmal hatte er Motorprobleme gehabt. Ihr Vater hatte es jedoch immer geschafft, alle Schwierigkeiten zu überwinden, die sein Fahrzeug verursachte. Ich hatte oft mit den Augen gerollt, wenn sie die immer gleiche Geschichte zum Besten gab. Jetzt kommen mir die Tränen und ich fahre einen Umweg.

Mutter kann sich ohne Hilfe nicht mehr an meinen Namen erinnern. Sie weiß nicht mehr, wo sich in ihrem Haus, in dem sie seit 31 Jahren wohnt, das Schlafzimmer befindet. Der Schlaganfall hat ihre Demenz auf die Spitze getrieben. Als sie sagte: „Irgendetwas stimmt nicht. Das ist nicht richtig“, sagte ich ihr, dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte. Sie hob alarmiert den Kopf und riss die Augen weit auf. Ich lernte schnell, dass jede wahrheitsgemäße Aussage über ihren Zustand denselben Alarm auslöst. Also wechselte ich das Thema.

Psalm 139: Mein Gebet

In vielerlei Hinsicht bin ich nicht in der Lage, mit ihr zu kommunizieren. Ich erinnere mich an meinen Lieblingspsalm, Psalm 139, und schreie zu Gott. Ich bitte ihn, in ihr Herz zu sprechen, das nicht viel mehr verarbeiten kann als die Mahlzeiten, ein kurzes Kartenspiel oder einen flüchtigen Besuch bei ihrer Schwester, bevor die Müdigkeit sie wieder überkommt.

Auch bitte ich Gott, sie tief in ihrer Seele zu berühren und ihr seine Zuversicht und seinen Frieden zu geben. Wenn sie wach ist, singe ich mit ihr die unterschiedlichsten Lieder – von albernen Liedern über Krokodile bis hin zu wunderschönen Hymnen über Gottes Treue.

Manchmal höre ich sie mitten in der Nacht „Take Me Out To The Ball Game“ singen oder „Ein feste Burg ist unser Gott“ summen. In diesen Momenten kehrt meine Mama zurück, wenn auch nur kurz – und das ist ein sehr süßes Geschenk für mich.

Ein Blick auf Anfang und Ende

Eines Nachmittags las ich ihr Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle vor. Sie fand es toll, dass sich die Raupe durch alle Früchte fraß. Nachdem die Raupe einen Kokon gebildet hatte, blätterte ich die Seite um, und meine Mutter war erstaunt, dass sie sich in einen Schmetterling verwandelt hatte. Jetzt war ich an der Reihe, meine Augen weit aufzureißen.

„Wer von uns hat schon einmal über das Ende unserer Tage nachgedacht und darüber, dass wir vielleicht nicht mehr laut beten können?“
 

Ich beobachtete, wie sich meine 90-jährige Mutter in ein kleines Kind verwandelte, das voller Staunen über Gottes Schöpfung war (vgl. Mt 18,3). Sie hörte sich diese Geschichten wie ein Kleinkind an – scheinbar zum allerersten Mal. Es war, als sähe ich gleichzeitig den Anfang und das Ende ihres Lebens. Ich erschauderte. Nur Gott kann den Anfang und das Ende des Lebens eines gealterten Menschen sehen, deshalb ließ mich dieser Anblick in Ehrfurcht und Trauer zurück.

Ich begann, Die Gott hat dich lieb Bibel zu lesen, beginnend mit der Schöpfung. „Hast du das schon mal gehört?“, fragte ich. Sie wusste es nicht. Ich blätterte zu den Geschichten über Jesus und fragte sie, ob sie ihn kenne. Wieder war sie sich nicht sicher. „Vielleicht“, war ihre Antwort.

Meine Mutter kann nicht zu Jesus rufen, damit er ihr hilft. Ihr ist nicht mehr klar, wer er ist. Sie kann Gott nicht um Frieden bitten. Sie kann nicht zu ihm beten. Sie kann nicht zu ihm schreien – zumindest nicht auf verbale Weise. Wer von uns hat schon einmal über das Ende unserer Tage nachgedacht und darüber, dass wir vielleicht nicht mehr laut beten können?

Nur eine Sache hat sich geändert

Wenn ich Psalm 139 lese, werde ich daran erinnert, dass Gott der einzige Akteur in diesem Abschnitt ist. Wir sind lediglich die ehrfürchtigen und dankbaren Empfänger seiner Allwissenheit und Allgegenwart. Er weiß absolut alles über meine Mutter. Er weiß, wenn sie liegt, was die meiste Zeit der Fall ist (vgl. Ps 139,2–3). Er weiß um ihre ängstlichen Gedanken und versteht ihre Worte, die wir nicht mehr verstehen (vgl. Ps 139,4). Er ist hinter und vor ihr (vgl. Ps 139,5).

Meine Mutter wohnt sozusagen in den Tiefen des Meeres der Demenz. Und doch, wie der Psalmist verkündet: „Auch dort wird mich deine Hand führen, und deine Rechte wird mich halten“ (Ps 139,10). Die Dunkelheit überwältigt ihr Gedächtnis. Dennoch „wäre auch die Finsternis nicht finster für dich, und die Nacht leuchtete wie der Tag, die Finsternis [wäre für dich] wie das Licht“ (Ps 139,12). Selbst Demenz ist für Gott nicht zu dunkel.

„Gott hat sich nicht verändert.“
 

Wenn ich mein Herz zur Ruhe bringe, weiß ich, dass sich nur das Gedächtnis meiner Mutter verändert hat. Gott hat sich nicht verändert. Unser allgegenwärtiger Gott kann dorthin gehen, wo ich nicht hinkomme. Er kann sich um ihre Seele kümmern, obwohl sie ihn nicht wiedererkennt. Ich schließe mich dem Psalmisten an, der bekennt: „Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar, zu hoch, als dass ich sie fassen könnte!“ (Ps 139,6).

Leite sie auf dem ewigen Weg

Ich finde tiefe Hoffnung und Trost darin, dass ich zwar nicht für das tiefe Bedürfnis meiner Mutter nach Frieden sorgen kann – aber Gott schon. Die Demenz ist nicht zu dunkel für den Gott, der auf diesem dunklen und trüben Weg ganz bei ihr ist.

Der Psalmist bittet Gott abschließend, ihn auf dem ewigen Weg zu leiten (vgl. Ps 139,24). So bitte auch ich Gott, sie zu seiner Zeit sanft in ihre ewige Heimat und in sein herrliches Licht zu führen.