Gemeinde am Brennpunkt

Rezension von Manuel Klem
22. September 2022 — 8 Min Lesedauer

Kürzlich hatte ich einmal ein langes Gespräch mit jemandem, der unter Armen und Bedürftigen arbeitet. Er war rund um die Uhr mit Drogenproblemen, Übergriffen und ähnlichen Herausforderungen konfrontiert und versuchte allen Menschen zu helfen. Auch sagte er, dass man mit vielen Menschen sehr einfach über Gott reden könne. Er selbst war aber völlig ausgelaugt und schaffte es zeitlich nicht, sich um jeden zu kümmern. Sein Vorhaben ist ehrenhaft und ich bewundere ihn dafür, doch kann seine Arbeit gelingen und langfristig Frucht bringen?

Zum Scheitern verurteilt

Die Autoren des Buches Gemeinde am Brennpunkt stellen in ihrem Buch die steile These auf, „dass die Bemühungen, den Armen zu helfen, zum Scheitern verurteilt sind“ (S. 9). Damit meinen sie alle Bemühungen von Organisationen, die Essensausgaben und ähnliches anbieten. Weiterhin behaupten sie, dass es schlicht unmöglich sei, „Armut – welcher Art auch immer – unabhängig von der örtlichen Gemeinde zu bekämpfen.“ Die Verfasser lehnen sich mit diesen Aussagen sehr weit aus dem Fenster, doch machen sie diese Behauptungen nicht unbedacht oder ziehen sie an den Haaren herbei. Wer sind also die beiden Männer, die hinter den gewagten Thesen stehen?

Die Autoren

Mez McConnell und Mike McKinley sprechen aus Erfahrung. McConnell wuchs in Pflegeheimen auf, bis er mit 16 Jahren auf der Straße landete und in Drogen versank. Durch Christen, die ihn im Gefängnis besuchten, rettete Gott ihn. Nun ist er Pastor in Schottland und Gemeindegründer in den ärmsten Gegenden Nordbrasiliens sowie in den armen Sozialsiedlungen in Schottland. Er gründete ein Hilfswerk und betreut durch den Gemeindegründungsdienst seiner Gemeinde mit dem Namen 20schemes weitere Siedlungen.

Mike McKinley ist Pastor einer Baptistengemeinde in Virginia, einem wohlhabenden Vorort von Washington, D. C. (USA). Seine Gemeinde macht eine sehr fruchtbare Arbeit unter Armen, Obdachlosen und illegalen Einwanderern. McKinley hat mehrere Bücher geschrieben und ist Mitglied im Vorstand eines internationalen Netzwerks von Gemeinden, die neue Gemeinden gründen.

„Armut lässt sich nicht durch Symptombehandlungen – wie etwa eine Essensausgabe – vermeiden; das Problem liegt tiefer.“
 

Beide schätzen das Evangelium als gute Nachricht für Arme und Bedürftige. Für sie ist klar, dass die Gemeinde für alle Menschen in allen Wohngegenden ganz unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung da ist. Interessant fand ich auch, dass die Autoren ihren Dienst als eine sehr einfache Arbeit empfinden. Für sie ist es hingegen schwieriger, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen, die schon alles haben. Bei den bedürftigen Menschen trifft man hingegen auf sehr fruchtbaren Boden.

Teil 1: Armut ist komplex

Im ersten der drei Buchteile erörtern die beiden das vielschichtige Problem der Armut. Laut einer Umfrage beschreiben viele Arme ihre Armut mit Worten wie Machtlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnverlust und Scham. Was die Erklärung bzw. Definition von Armut betrifft, geben die Verfasser leider keine ausführliche Antwort. Sie belassen es dabei, die Komplexität der Armut zu erklären, und verweisen lediglich auf die Studienumfrage unter Armen. Die Autoren zeigen jedoch auf, dass Armut sich nicht durch Symptombehandlungen – wie etwa eine Essensausgabe – vermeiden lässt; das Problem liege tiefer. Zustände in Sozialsiedlungen (Kriminalität, Drogen, Alkohol, zerrüttete Familien usw.), sorgen dafür, dass Menschen, die dort wohnen, im Teufelskreis von Armut und Elend gefangen bleiben. Es wird klar: Diese Menschen benötigen nicht einfach nur punktuell materielle Hilfe; sie benötigen eine völlig neue Lebensweise. Hier kann die örtliche Gemeinde etwas bewegen – nämlich durch das Evangelium:

„Das Evangelium ist die Botschaft Gottes an Menschen, die in komplexen Mustern persönlicher Sünde und in systematischen Herausforderungen, u.a. Armut, gefangen sind.“ (S. 26)

Deshalb plädieren die Autoren dafür, dass die eine Sache, die arme Menschen am meisten benötigen, die Botschaft des Evangeliums ist.

Teil 2: Die Ortsgemeinde ist die Lösung

In Teil 2 dreht sich alles um paragemeindliche Organisationen. Damit sind Organisationen gemeint, die sich in der Wohlfahrt und Evangelisation engagieren, ohne mit einer Ortsgemeinde oder einem Gemeindedachverband verbunden zu sein. Die Autoren erläutern, dass Gemeinde oftmals als ein Hinderungsgrund von jungen Leuten gesehen wird, unter Armen und Bedürftigen zu dienen. Der Vorwurf lautet, dass Traditionen, Strukturen und Leitungen nur einschränken. Deshalb arbeiten junge Leute oft in einem Missionswerk unter Bedürftigen, das nicht mit einer Ortsgemeinde in Verbindung steht. Die Autoren reagieren auf die Behauptung, dass man ohne Gemeinde mehr machen könne, mit der Frage, wo denn die langfristige geistliche Frucht nach jahrzehntelanger paragemeindlicher Arbeit sei. Wo sind die Bekehrten und die Ortsgemeinden? Nach Erfahrung der Verfasser ist es sogar so, dass es heute noch weniger Gemeinden in sozial schwachen Gebieten gibt. Deshalb beteuern die Autoren, „dass gesunde evangeliumszentrierte Ortsgemeinden das von Gott verordnete Mittel sind, um an sozialen Brennpunkten zu dienen“ (S. 89). Theologisch rücken die Autoren die Ortsgemeinde in den Vordergrund. Sie soll Jünger machen und sie lehren. Jesus einfach bekannt zu machen reiche nicht aus, denn die örtliche Gemeinde ist der Weg, wie Gott seine Mission in der Welt erfüllen will, und der Ort, an dem Gläubige in der Heiligung wachsen. Deshalb sollten paragemeindliche Organisationen ihre Rolle darin sehen, Gemeinden aufzubauen und der Verbreitung des Evangeliums durch Gemeinden in ihren Wohnvierteln zu dienen.

Teil 3: Bibel statt Kultur

Im dritten und letzten Teil des Buches geben die Autoren aus eigener Erfahrung praktische Hilfestellungen für Menschen weiter, die überlegen, vermehrt in sozial schwachen Gebieten zu arbeiten oder in die dortige Gemeindegründungsarbeit einzusteigen. Zu Beginn liefern sie Tipps, wie man sich persönlich auf den Dienst und wie man die eigentliche Arbeit vorbereitet. Auch betonen sie, dass man vor allem bereit sein muss, sein Denken zu ändern. Man muss seine kulturellen Prägungen ablegen, anstatt sie zum Maßstab aller Dinge zu machen. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit wird sein, dass man die Menschen vor Ort zu Leitern der Gemeinde macht. Dazu muss man bereit sein, Potenzial in denen zu sehen, die nicht gebildet sind und nicht in guten gesellschaftlichen Kreisen verkehren. Arme Menschen sind arm, aber nicht dumm – das stellen die Autoren immer wieder klar. Deshalb sollte man an den biblischen Kriterien festhalten, nicht an den eigenen kulturellen Maßstäben.

Eine herausfordernde Lektüre

Persönlich fand ich das Buch sehr bereichernd. Es hat mich zum Nachdenken angeregt. Die Autoren haben das Buch leicht verständlich und fesselnd geschrieben. Auch geben sie viele Weisheiten und Tipps weiter, die sehr wertvoll für Menschen sind, die mit sozial bedürftigen Menschen arbeiten. Weil jeder Fall letzten Endes individuell ist, legen sie vieles anhand von Prinzipien dar.

Das Buch ist auf der einen Seite herausfordernd für diejenigen, die unabhängig von einer Ortsgemeinde unter Bedürftigen arbeiten. Auf der anderen Seite werden auch Ortsgemeinden wachgerüttelt, die solche Gegenden und Menschen gar nicht im Blick haben oder sogar Mitglieder hindern, ihre Gaben dort einzusetzen. Das Buch ermutigt dazu, auch in schwierigen Gegenden an Gemeinde festzuhalten, Gemeinden zu gründen und zu bauen. Es fordert heraus, über den eigenen Schatten zu springen und neu oder anders über den gewohnten kulturellen Maßstäben zu denken.

„Die Autoren selbst schreiben das Buch in der Hoffnung, dass die Ortsgemeinden besser darin werden, Licht an dunkle und vernachlässigte Orten zu bringen, und mit der Überzeugung, dass Gemeindearbeit an den schwierigen Orten notwendig ist.“
 

Ich denke, das Buch ist für uns in der westlichen Welt (auch in Deutschland) sehr relevant. Zu schnell rechtfertigen wir uns selbst und sehen unsere Verantwortung bei sozial bedürftigen Menschen nicht. Der Staat kümmert sich doch bereits um solche Menschen, und es gibt ja diakonische Werke, die darauf spezialisiert sind, oder? So berauben wir uns selbst eines großen Schatzes und entziehen uns damit unserer Verantwortung, den Armen und Bedürftigen die frohe Botschaft unseres Erretters zu bringen, der sie aus ihrer Sklaverei der Sünde befreien kann und möchte. Wer weiß außerdem, welche Armut uns durch die aktuellen Krisen noch erwarten wird?

Fazit

Gemeinde am Brennpunkt ist ein wertvolles Buch, das die Wichtigkeit der Ortsgemeinde neu vor Augen führt und den Leser herausfordert, seine eigenen kulturellen Prägungen und Vorurteile zu hinterfragen. Natürlich ist das Buch empfehlenswert für alle, die überlegen, unter Armen und Bedürftigen zu dienen – vor allem, wenn sie dies losgelöst von einer Ortsgemeinde tun möchten. Ein gut gemeintes Vorhaben kann letzten Endes fruchtlos ausgehen und jemanden ausbrennen lassen. Daher ist es wichtig, sich von der Bibel her Gedanken zu machen, wie Gott diese Menschen erreichen will. Es ist auch für diejenigen wertvoll, die schon angefangen haben und nicht mehr weiter wissen. Es eignet sich zudem für Älteste und Pastoren, um über die eigene Gemeinde nachzudenken und zu reflektieren. Darüber hinaus richtet es sich an jeden Christen, der sich herausfordern lassen möchte, über seine eigene Berufung nachzudenken und die eigene Bequemlichkeit aufzugeben. Schließlich sind wir alle berufen, unser Leben in das Reich Christi zu investieren. Die Autoren selbst schreiben das Buch in der Hoffnung, dass die Ortsgemeinden besser darin werden, Licht an dunkle und vernachlässigte Orten zu bringen, und mit der Überzeugung, dass Gemeindearbeit an den schwierigen Orten notwendig ist. Dementsprechend fragen sie den Leser am Ende:

„Ist das Reich Gottes an sozialen Brennpunkten nicht eine unendlich kostbare Perle, die es wert ist, dass wir alles verkaufen, um sie kaufen zu können?“ (S. 205)

Buch

Mez McConnell und Mike McKinley, Gemeinde am Brennpunkt: Wie wir als Gemeinde den Bedürftigen und sozial Benachteiligten helfen können, Augustdorf: Betanien, 2022, 210 Seiten, 12,90 Euro.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.