Was war Paulus’ Dorn im Fleisch?

Artikel von Dane Ortlund
17. Oktober 2022 — 11 Min Lesedauer

2. Korinther 12,7–10

7 Und damit ich mich wegen der außerordentlichen Offenbarungen nicht überhebe, wurde mir ein Pfahl fürs Fleisch gegeben, ein Engel Satans, dass er mich mit Fäusten schlage, damit ich mich nicht überhebe. 8 Seinetwegen habe ich dreimal den Herrn gebeten, dass er von mir ablassen soll. 9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft wird in der Schwachheit vollkommen! Darum will ich mich am liebsten vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft des Christus bei mir wohne. 10 Darum habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Misshandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um des Christus willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“

Der Dorn verursacht Leid

Paulus spricht hier von einem „Pfahl“ oder „Dorn“ im Fleisch, der ihn im Zuge seiner geistlichen Erfahrungen plagte. Heute stellen wir uns darunter vielleicht den kleinen Dorn einer Rose vor, doch das Wort, das hier gebraucht wird (gr. skolops) kann Objekte beschreiben, die so groß sein können wie ein Pfahl, an dem man aufgespießt werden kann. Der Dorn verursachte mehr als bloße Verärgerung. Er löste Qualen aus, die – sozusagen als negatives Pendant – der Herrlichkeit dessen entsprachen, was Paulus im Himmel gesehen hatte. Obwohl der Dorn (wahrscheinlich) vierzehn Jahre früher in Paulus’ Leben gegeben worden war, zeigen die Verse 8–10 deutlich, dass er noch immer präsent war und daher auch ein längeres, anhaltendes Leiden repräsentiert. Doch was war der Dorn? Spekulationen helfen hier nicht weiter. Wir wissen es nicht. Und das ist auch gut so, damit diejenigen, deren Leiden anderer Natur sind als die des Paulus, sich davon nicht abhalten lassen, seine Lehre auf ihr eigenes Herz anzuwenden. Wahrscheinlich ist Paulus an dieser Stelle absichtlich unspezifisch, um erstens größtmögliches Anwendungspotential zu ermöglichen und um zweitens vorzubeugen, dass sein eigenes Leben mehr ins Licht gerückt wird als nötig. Paulus geht es nicht um den Inhalt des Dorns, sondern um seine Absicht.

Doch was war seine Absicht? Paulus’ Demut: „[D]amit ich mich nicht überhebe“. Das hier verwendete Verb (gr. hyperairomai) bedeutet, erhoben zu werden. Der Zweck des Dorns ist es, sicherzustellen, dass Paulus sich nicht wegen seiner unbeschreiblichen Himmelserfahrung innerlich aufbläst. Bei wem wäre das nicht der Fall, wenn nicht ein Dorn diese Blase, unseren Stolz, zum Platzen bringen würde? Daher setzt der Herr seinem geliebten Apostel auf liebevolle, sanfte, souveräne Art zu. War es tatsächlich der Herr? Schreibt der Text den Dorn nicht Satan oder einem seiner Handlanger zu? Doch. Der Dorn wurde gegeben, damit er Paulus „mit Fäusten schlägt“ – das ist sicherlich das Werk des Teufels. Der Wunsch, Paulus zu belästigen, ist jedoch von dem Ziel umrahmt, Paulus zu demütigen. Dies wird zweimal erwähnt, sowohl am Anfang des Verses als auch am Ende. Satans Ziel ist von Gottes Ziel umschlossen. Gottes Souveränität und das Böse wirken hier auf eine Weise zusammen, die unser Denken übersteigt. Satans Werk ist in Reichweite von Gottes souveränen Absichten. Gott ist nicht der Urheber des Bösen in einer Weise, die ihn moralisch schuldig werden lässt. Er ist unfähig etwas zu tun, das moralisch zweifelhaft ist. Doch selbst die schrecklichsten Vergehen der menschlichen Geschichte waren von Gott bestimmt. Das trifft auch auf weniger Böses zu.

Den Herrn anflehen

Paulus tut also in 2. Korinther 12,8 das, was jeder von uns tun würde: Er bittet darum, dass ihm der Dorn genommen wird. Gleich wie der „dritte“ Himmel (2Kor 12,2) wahrscheinlich auf den Himmel der Himmel hinweist, das Herz des Himmels, so meint „dreimal“ wahrscheinlich, dass Paulus Gott bis zur Erschöpfung anflehte (2Kor 12,8). Es geht hier nicht darum, dass er die Bitte nicht mehr als zweimal und weniger als viermal vor den Herrn brachte. Vielmehr war es ein umfassendes, ausführliches und intensives Bitten. Er bat nicht zaghaft oder flüchtig. Das Verb, das er verwendet, „angerufen“ (gr. parakaleo) – nicht einfach „ich bat“ –, macht dies schon deutlich. Dass Paulus den Herrn anfleht, dass der Dorn von ihm genommen wird, ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Herr derjenige war, der in seiner Vorsehung den Dorn gegeben hatte.

Für Paulus gab es nun zwei Möglichkeiten: Der Herr ist in der Lage (1) den Dorn zu entfernen, sodass Paulus mit seinem Leben und Dienst fortfahren kann, oder (2) den Dorn an Ort und Stelle zu lassen, sodass Paulus im Leben und im Dienst für immer gehindert und verlangsamt würde. Der Herr antwortete mit einer dritten Möglichkeit: den Dorn an Ort und Stelle lassen, aber Paulus Gnade schenken. Für Paulus’ Leben und Dienst würde dies bedeuten, dass er Gottes Kraft in seinem Leben erlebte, wie er sie sonst nie erlebt hätte. Dies ist Gottes geheime Strategie für sein Volk. Dies ist der unerwartete Weg, Kraft von oben zu erhalten.

„Unsere Unzulänglichkeiten und Unfähigkeiten, denen wir natürlicherweise entfliehen wollen und die wir fürchten, sind genau der Ort, wo Gott gerne wohnt.“
 

Gottes „Gnade“ ist hier nicht in erster Linie die objektive, vergebende Gnade (wie z.B. in Röm 3,24). Vielmehr verwendet Paulus „Gnade“ umfassender – als Kurzform für die Gegenwart Gottes – tragend, befähigend, beruhigend, stützend, tröstend, ermutigend, erfüllend. „Meine Gnade genügt dir“ bedeutet „Ich bin genug für dich“. Warum wird dann das Wort „Gnade“ verwendet? Weil der Herr Paulus versichern wollte, dass er sich Gottes Gegenwart weder verdienen noch erarbeiten muss. Sie wird ihm aus Gnade zuteil. Diese Gnade wird durch den folgenden Satzteil weiter verdeutlicht: „[D]enn meine Kraft wird in der Schwachheit vollkommen.“ Es ist eine Gnade, die göttliche Kraft zuteilwerden lässt. Die Gegenwart Gottes wird Paulus stützen; die Kraft Gottes wird ihn stärken. Wir dürfen nicht übersehen, dass es nicht Paulus’ Stärke ist, sondern Gottes. Paulus’ Beitrag ist Schwäche. Aber das ist genau das, was Gott gebrauchen möchte. Dies ist das Geheimnis, das Wunder, die Herrlichkeit des apostolischen christlichen Glaubens: Unsere Schwäche zieht Gottes eigene Stärke an, statt sie abzustoßen. Unsere Unzulänglichkeiten und Unfähigkeiten, denen wir natürlicherweise entfliehen wollen und die wir fürchten, sind genau der Ort, wo Gott gerne wohnt.

Ein erneuertes Verständnis von Schwäche

Paulus’ Bestrebungen werden hier also auf den Kopf gestellt. In 2. Korinther 12,1–6 erhält er zunächst eine Offenbarung des Himmels. In den Versen 7–10 wird ihm dann aber eine Offenbarung davon gegeben, wie der Himmel und gefallene Sünder miteinander kollidieren, nämlich durch die menschliche Schwäche. Die erste Offenbarung gibt ihm ein Gefühl von Erhabenheit, die zweite eins der Tiefe (vielleicht hatte Paulus seine himmlische Vision und seinen Dorn im Fleisch im Kopf, als er in Römer 8,39 schrieb, dass weder „Hohes noch Tiefes [uns] zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“). Diese zweite Offenbarung kehrt die Quelle seiner Prahlerei um. Statt seine Identität auf seinen eigenen Stärken aufzubauen, baut er seine Identität nun genau auf der Schwäche auf, die die Welt und das Fleisch verschmähen. Kompetenz ist nicht der Ort, wo Gottes Kraft zu finden ist. Stattdessen ist es Schwachheit. Gebrechlichkeit. Denn dort wird Gottes Gnade entfacht. Dort wohnt Gott selbst.

„Kompetenz ist nicht der Ort, wo Gottes Kraft zu finden ist. Stattdessen ist es Schwachheit. Gebrechlichkeit. Denn dort wird Gottes Gnade entfacht. Dort wohnt Gott selbst.“
 

Paulus verwendet eine alte Sprache, um von der Kraft Gottes zu sprechen, die auf ihm ruht. Das Verb für „wohnen“ (gr. episkenoo) hat seine Wurzeln in dem Wort, das wir mit „Stiftshütte“ übersetzen. Hier wohnte in vergangenen Zeiten die Gegenwart Gottes unter seinem Volk. Doch während Gottes Kraft früher von allen schwachen und befleckten Sündern abgeschottet war, ist es nun genau die Schwäche der Sünder, die die Kraft Gottes anzieht. Einmal mehr sehen wir, wie Paulus nebenbei aufzeigt, dass in Christus ein neues Zeitalter begonnen hat. Und in diesem neuen Zeitalter handelt Gottes Kraft nicht so, wie wir es erwarten würden.

In 2. Korinther 12,10 kommt Paulus mit seiner Dorn-Erfahrung zu einem glorreichen Schluss. Gleichzeitig ist dies wahrscheinlich der Höhepunkt des gesamten Briefes. Dieser Vers beleuchtet und unterstreicht Paulus’ Hauptargument im 2. Korintherbrief. Da er nun das Geheimnis von Christi Kraft, die in ihm wohnt, gesehen hat, erklärt Paulus, was er mit Vers 9 sagen will: „Darum will ich mich am liebsten vielmehr meiner Schwachheiten rühmen“. Welcher Schwachheiten? Paulus antwortet mit einer Liste von fünf Kategorien, deren Grad an Schwierigkeit immer mehr zunimmt:

  1. Schwächen (gr. astheneiai; vgl. auch 2Kor 11,30; 12,9): die allgemeine, zusammenfassende Kategorie, die alle Unzulänglichkeiten des gefallenen Menschen bezeichnet.
  2. Beschimpfungen (gr. hybreis): Misshandlung durch andere, sei es mit Worten oder Taten.
  3. Beschwernisse (gr. anakai): Erfahrungen, die Paulus bedrängen und ihn an unangenehme Grenzen bringen.
  4. Verfolgung (gr. diogmoi): Bedrängnisse durch Feindeshand.
  5. Nöte (gr. stenochoriai): überwältigende Erfahrungen, verheerende Umstände.

Paulus sagt, er hat „Wohlgefallen“ (gr. eudokeo) an diesen Dingen, doch das griechische Wort ist stärker als das. Es meint „sich über etwas freuen“ und wird beispielsweise für das „Wohlgefallen“ des Vaters am Sohn in Matthäus 3,17 verwendet. Paulus sagt nicht, dass er mit jeder menschlichen Schwachheit, die ihn gebrechlich und scheinbar verwundbar macht, einfach nur „zufrieden“ ist. Er tritt ihr entgegen. Er nimmt sie an. Das ist kein Zeichen von Resignation, sondern ein Zeichen von Eifer. Paulus ist kein Masochist. Er freut sich nicht an den Schwächen selbst. Das wird durch den Zusatz „um des Christus willen“ deutlich. Paulus freut sich an der Schwäche, weil sie ihm die himmlischen Segnungen und Stärke öffnet. Seine geistige Kraft drängt nach vorne.

Fassen wir einmal zusammen: „[W]enn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ Paulus bezieht sich nicht auf einzelne und gelegentliche Erfahrungen der Schwäche, in denen Stärke aufkommt. Das Wort „wenn“ (gr. hotan) deutet darauf hin, dass er einen immerwährenden Zustand der Schwäche und damit einen immerwährenden Zustand des Empfangens göttlicher Kraft vor Augen hat. Paulus sieht nun, dass seine Schwäche kein Hindernis, sondern eine Tür für die Kraft Gottes ist.

Gottes Kraft in uns

Fähig, stark und erfolgreich zu sein fühlt sich sicher an. Doch es ist tödlich, gefährlich und führt zu Hochmut. Unfähig, schwach und unzulänglich zu sein fühlt sich gefährlich an. Allerdings ist dies ein sicherer Grund, der Demut hervorbringt. Darüber hinaus ist unsere geringe physische, psychische, intellektuelle, bildungstechnische und sogar geistliche Schwäche gerade der Auslöser für göttliche Kraft. Kraft wofür? Für Ruhe, Wachstum, Freude und Gemeinschaft mit Gott. Für evangelistischen Eifer, für das Predigen und zum Singen. Kurz gesagt, für ein fruchtbares christliches Leben. Jesus selbst lehrte: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; wenn es aber stirbt, so bringt es viel Frucht“ (Joh 12,24).

„Wenn plötzlich alles drunter und drüber geht und wir die Dinge zu Christus bringen, ist das der Moment, in dem wir endlich Halt und Kraft in unserem christlichen Leben empfangen.“
 

Sehnen wir uns danach, mit unserem Leben etwas für Christus zu bewirken? Wir sollten uns nicht von unserer Niedrigkeit, unseren Schwächen, unserer Vergangenheit und unserem Straucheln entmutigen lassen. Wir können diese Dinge nehmen und sie Gott abgeben. Er kann weitaus mehr damit anfangen als mit unseren Stärken. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir es bewusst vermeiden sollen, unsere Stärken auszubauen (vgl. 1Kor 12,4–11). Es bedeutet, dass wir unsere Stärken und Begabungen trainieren, aber im Bewusstsein unserer geistigen Ohnmacht und in dem Wissen, dass wir aus eigener Kraft oder Geschicklichkeit keine dauerhaften Früchte hervorbringen können.

Mehr noch, es bedeutet, dass wir nicht das Handtuch werfen, wenn unser Leben aus den Fugen gerät oder wenn uns überraschende Schwierigkeiten den Boden unter den Füßen wegziehen. Wir kehren aufs Neue um zu Gott. Wenn plötzlich alles drunter und drüber geht und wir die Dinge zu Christus bringen, ist das der Moment, in dem wir endlich Halt und Kraft in unserem christlichen Leben empfangen. Unsere Schmerzen sind der Ort, an dem Gott selbst lebt.

Was ist dir lieber: ohne Gott auf dem Gipfel des Berges zu stehen, oder gemeinsam mit ihm im Tal zu sein?