Ohne Gesang keine Nachfolge

Artikel von Rudi Tissen
24. Oktober 2022 — 8 Min Lesedauer

Singen war schon immer Teil meines Lebens. Ich wurde von einer Mutter großgezogen, die selbst viel gesungen und musiziert hat, und uns Kinder immer wieder dazu motivierte, gemeinsam als Familie zu singen. Singen war deshalb fester Bestandteil unseres Familienlebens und eine lange Zeit auch Teil unserer „Routine“ am Sonntag. Ich hörte meine Mutter unter der Woche immer wieder singen. Es war für sie ein wichtiger Weg, ihren Glauben an Christus zum Ausdruck zu bringen. Gesang war für sie aber auch immer ein Mittel, um ihre Beziehung zu ihrem König zu stärken.

Singen sollte nicht nur ein zentraler Teil unserer Gottesdienste sein. Es sollte auch zu unserer persönlichen Nachfolge als Jünger Jesu gehören. Denn Singen – davon bin ich überzeugt – ist ein Mittel, das der Geist Gottes gebrauchen will, um uns in der Nachfolge zu motivieren und unseren Glauben zu stärken. Deshalb finden wir in der Bibel auch immer wieder Einzelpersonen, die singen (z.B. Mose, David, Deborah, Jeremia, Maria).

Warum ist Singen so wichtig für deine persönliche Nachfolge und Heiligung? Warum ist es gut, wenn du singst (vgl. Ps 92,2)?
Ich will acht Gründe nennen:

Singen hilft uns, uns unsere Identität bewusst zu machen

Wenn man sich die Psalmen anschaut, fällt auf, dass die Psalmisten ständig eine Verbindung schaffen zwischen dem Lobpreis Gottes und der Erinnerung an unsere Identität als Volk Gottes. Hier zwei Beispiele:

„Kommt, lasst uns anbeten und uns beugen, lasst uns niederfallen vor dem HERRN, unserem Schöpfer! Denn er ist unser Gott, und wir sind das Volk seiner Weide und die Schafe seiner Hand.“ (Ps 95,6–7)
„Jauchzt dem HERRN, alle Welt! Dient dem HERRN mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Jubel! Erkennt, dass der HERR Gott ist! Er hat uns gemacht, und nicht wir selbst, zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.“ (Ps 100,1–3)

Das Singen von Liedern, die im Wort Gott verankert sind, bewahrt uns vor dem Vergessen. Wir erinnern uns daran, wer Gott ist und wer wir sind. Er ist unser Gott und wir sind Teil der neuen Schöpfung, die jetzt schon in uns angebrochen ist. Ein Zeichen dieser neuen Schöpfung ist, dass sie singt. Sing also, um dir bewusst zu machen, wer du bist: Gottes Kind und Teil seiner neuen Schöpfung. Sing, um dich auszurichten auf den Tag, wenn wieder alles singt!

Singen hilft uns zu beten

Viele unserer christlichen Lieder beinhalten nicht nur Aussagen über Gott, sondern sind an unseren Gott gerichtet. Wir singen nicht nur über Gott, sondern zu ihm. Vom Kirchenvater Augustinus soll der Satz stammen: „Wer singt, betet zweimal.“ Singen ist eine Form des Betens. Viele Psalmen sind Gebete, die gesungen wurden. Wenn das Neue Testament uns also auffordert, die Psalmen zu singen, lädt es uns ein, singend zu beten.

Gerade in Zeiten, in denen wir nicht wissen, wie und was wir beten sollen, kann es enorm hilfreich sein zu singen. So machen wir die Worte und Gebete anderer Christen, die auch durch tiefe Täler und Herausforderungen gehen mussten, zu unserem Gebet.

Singen hilft uns zu glauben

Es ist nicht nur so, dass das, was wir glauben, unser Gebet und unseren Gesang prägt. Es geht auch in die entgegengesetzte Richtung: Das, was wir singen, prägt unseren Glauben. Unsere Glaubensgeschwister aus der frühen Kirche waren sich dessen bewusst und gebrauchten dafür den lateinischen Ausdruck lex orandi, lex credendi (dt. „Das Gesetz des Gebets ist das Gesetz des Glaubens“). Sie gingen davon aus, dass unsere (Glaubens-)Gewohnheiten, zu denen sie auch das Gebet und den Gesang zählten, unser Denken und unsere Herzen formen werden.

„Singen ist nicht nur dazu da, um unserem Glauben Ausdruck zu verleihen. Es ist ein Gnadenmittel, durch das unsere Herzen geformt und unser Glaube gestärkt wird.“
 

Singen hilft uns zu glauben – und was wir singen, prägt unseren Glauben. Singen ist nicht nur dazu da, um unserem Glauben Ausdruck zu verleihen. Es ist ein Gnadenmittel, durch das unsere Herzen geformt und unser Glaube gestärkt wird. Dieser Gedanke wird z.B. auch in Kolosser 3,16 deutlich, wo Paulus uns klarmacht, dass der Gesang ein wichtiges Mittel ist, um Gottes Wahrheit in unseren Herzen wohnen zu lassen. Umso wichtiger ist deshalb, dass wir Lieder singen, die mit der Wahrheit übereinstimmen, die Gott uns in seinem Wort offenbart.

Singen hilft uns, unsere Emotionen in Bezug auf Gott wachzuhalten und sichtbar werden zu lassen

Anbetung bedeutet, Gott dadurch zu ehren, dass wir ihn mehr als alles andere lieben und wertschätzen. Deswegen ist der Psalter voller Emotionen. So lesen wir z.B. in Psalm 95,1–2: „Kommt, lasst uns dem HERRN zujubeln und jauchzen dem Fels unsres Heils! Lasst uns ihm begegnen mit Lobgesang und mit Psalmen ihm zujauchzen!“ Der Psalmist gebraucht emotionale Begriffe. Sie stehen für große Freude und Begeisterung.

John Piper hat diesen Zusammenhang treffend zusammengefasst:

„Gott hat seinem Volk das Singen gegeben als einen der wertvollsten und kraftvollsten Ausdrücke unserer Freude an seiner Schönheit. … Christliches Singen ist der Gebrauch der Stimme, um Wahrheiten zu bekennen, die im Einklang mit Gottes Wort sind, und um Gefühle auszudrücken, die im Einklang mit seinem Wert sind.“[1]

Singen hilft uns, unserer Freude an Gott Ausdruck zu verleihen. Es hilft uns, unsere Emotionen mit den wunderbaren Wahrheiten des Evangeliums zu verbinden. Unsere Herzen neigen ununterbrochen dazu, irgendwelche anderen Dinge (neben Gott) anzubeten und diese zu „besingen“. Singen hilft uns, die Freude unseres Herzens auf Gott zu lenken und diese Freude und Leidenschaft wachzuhalten.

Singen hilft uns, Gott mit unserem ganzen Sein anzubeten

Beim Singen sind wir als ganzer Mensch aktiv – unser Körper, unsere Stimme, unser Denken und unsere Emotionen. Singen vereint auf geheimnisvolle Weise Körper und Herz. Dieser Gedanke wird z.B. in Psalm 71,23 deutlich: „Meine Lippen sollen jubeln, wenn ich dir lobsinge, und meine Seele, die du erlöst hast.“

Es ist gut, wenn wir Gott in unserem Herzen loben und ihn tief in unserem Inneren anbeten, aber beim Singen passiert mehr. Es führt dazu, dass wir uns als ganzer Mensch in die Anbetung begeben. Singen verbindet den Körper – die Zunge, den Kehlkopf, die Stimmbänder, den Brustkorb, die Lungen, die Hände – mit unserem Herzen und mit der Freude, die wir in unserem Herzen haben. Dadurch wird die Freude verstärkt. Ist es nicht genial, dass Gott uns als Menschen so geschaffen hat, dass beim Singen z.B. Endorphine ausgeschüttet werden? Wird das nicht auch in Psalm 84,2 zum Ausdruck gebracht, wenn der Psalmist ausruft, dass sein Herz und sein Leib dem lebendigen Gott entgegenjauchzen?

Die Wichtigkeit des menschlichen Körpers ist zentraler Teil der christlichen Weltanschauung. Wir sind berufen, Gott mit unserem Körper zu verherrlichen, der der Tempel des Heiligen Geistes ist (vgl. 1Kor 6,19). Singen hilft uns, dieser Berufung treu zu sein.

Singen hilft uns, uns zu erinnern

Es ist kein Geheimnis, dass wir uns Lieder oftmals viel besser merken können als gesprochene Texte. Das liegt daran, dass beim Singen ein „doppelter Strang“ aus Text und Melodie geschaffen wird, der uns dabei hilft, uns an die Worte zu erinnern. Vielleicht ist es etwas demütigend für Prediger und Pastoren, aber es ist wahr: Die Menschen in unseren Gemeinden werden sich noch an Lieder erinnern, wenn sie unsere Predigten vielleicht schon längst vergessen haben.

Paulus spricht in der schon erwähnten Stelle aus Kolosser 3,16 davon, dass Gesang ein Mittel ist, um Gottes Wort in unseren Herzen wohnen zu lassen. Auch die Psalmisten schaffen immer wieder die Verbindung zwischen Singen und dem Nicht-Vergessen:

„Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! Der dir alle deine Sünden vergibt und heilt alle deine Gebrechen; der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit.“ (Ps 103,2–4)

Singen hilft uns, gegen Sünde und Entmutigung zu kämpfen

Für Martin Luther war Gesang ein wichtiger Bestandteil des Glaubenskampfes. Die „Wittenberger Nachtigall“ sang, um gegen Entmutigung, Angst und Sorge zu kämpfen. So schreibt Luther an einer Stelle:

„Die Musik ist eine Gabe und Geschenk Gottes, nicht ein Menschen-Geschenk. Mit ihr vertreibt man viel Anfechtung und böse Gedanken. Der Teufel erträgt sie nicht. Sie macht die Menschen fröhlich, man vergisst dabei allen Zorn und alle Laster. Ich gebe nach der Theologie der Musik die höchste Ehre.“
„Singen hilft uns, gegen Sünde zu kämpfen, in Anfechtung zu bestehen und in der Entmutigung neuen Mut zu fassen.“
 

Ich glaube, dass es wichtig ist, Gesang als Teil unserer persönlichen Waffenrüstung zu sehen. Das Singen von Gottes Wahrheit ist nichts anderes, als nach dem Schwert des Geistes zu greifen. Die Wahrheiten des Evangeliums zu singen, bedeutet nichts anderes, als seine Lenden mit der Wahrheit zu umgürten und den Schild des Glaubens in die Hand zu nehmen, um die Pfeile des Bösen abzuwehren (vgl. Eph 6,10–18). Singen hilft uns, gegen Sünde zu kämpfen, in Anfechtung zu bestehen und in der Entmutigung neuen Mut zu fassen.

Singen hilft uns, Gottes Kraft und Gegenwart zu erfahren

Paulus spricht in Epheser 5 davon, dass wir mit dem Heiligen Geist erfüllt werden, indem wir zueinander in Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern reden und dem Herrn mit unserem Herzen singen und spielen (vgl. Eph 5,19). Es ist interessant, dass Paulus an dieser Stelle sowohl die gemeinschaftliche („zueinander“) als auch die individuelle Ebene („mit unserem Herzen“) anschneidet. Erneut macht der Apostel damit die Funktion des Singens als bedeutsames Gnadenmittel deutlich. Wenn wir seine Wahrheit singen (und anderen zuhören, wenn sie diese Wahrheit singen), lassen wir sein Wort in uns wohnen. Und wo sein Wort wohnt, wohnt auch sein Geist mit seiner Kraft.

Deshalb: Fang an zu singen!


[1] John Piper, „We win the world with singing“, Desring God, online unter: https://www.desiringgod.org/messages/we-win-the-world-with-singing.