Liebe in den Johannesbriefen

Artikel von Andreas J. Köstenberger
8. November 2022 — 9 Min Lesedauer

In seinem Evangelium stellt Johannes seinen Lesern „das Wort“ vor, nämlich Jesus Christus, das im Anfang bei Gott war und Fleisch wurde und unter uns wohnte (vgl. Joh 1,1.14).

Nun, in seinem ersten Brief, kann der Apostel seine Begeisterung kaum zurückhalten, wenn er schreibt:

„Was von Anfang war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir angeschaut und was unsere Hände betastet haben vom Wort des Lebens … was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch“. (1Joh 1,1.3)

Johannes, der Sohn des Zebedäus, legt als einer der engsten Vertrauten Jesu während dessen Dienstes auf der Erde (siehe Joh 13,23) aus erster Hand Zeugnis für Jesus ab.

Sein Evangelium hat er als Darstellung von Jesus, „der Christus, der Sohn Gottes“ (Joh 20,31), für ein allgemeines Publikum verfasst. Seinen ersten Brief hingegen schreibt er, weil manche nach der Veröffentlichung des Evangeliums anscheinend die Bedeutung seiner Worte verdreht und die Mitglieder der Gemeinden des Johannes verunsichert haben. Kurz vor der Niederschrift des ersten Johannesbriefes sind diese falschen Lehrer offenbar aus der Gemeinde ausgetreten (vgl. 1Joh 2,19) und haben Gläubige zurückgelassen, die weiterhin die Unterweisung und Zusicherung des Apostels brauchen. Wenn wir den ersten Brief des Johannes in diesem Licht lesen, können wir aus den positiven Betonungen des Apostels einige der falschen Lehren ableiten.

Erstens: Die falschen Lehrer scheinen behauptet zu haben, dass es möglich sei, das Leben als Christ in moralischer „Freiheit“ (= Unmoral) zu führen, und dass solch ein „freier“ Lebensstil ihrer Geistlichkeit keinen Abbruch täte. Johannes begegnet dieser Behauptung, indem er klar macht, dass Gott Licht ist (vgl. 1Joh 1,5), sodass jeder, der behauptet, Gemeinschaft mit Gott zu haben, auch im Licht leben muss (d.h. er muss Heiligkeit und Reinheit anstreben; vgl. 1Joh 1, 6–7). Es ist schlicht unmöglich, Glauben an Gott zu bekennen und trotzdem ein unmoralisches Leben zu führen.

Zweitens: Die falschen Lehrer scheinen auch ihre Sündhaftigkeit geleugnet zu haben. In ähnlicher Weise glauben oder handeln auch heutzutage manche Christen so, als müssten sie nun, da sie in Christus eine persönliche Beziehung mit Gott begonnen haben, ihre Sünden nicht mehr bekennen. Diese Vorstellung ist jedoch völlig unbiblisch, weil Johannes ganz offen anmerkt: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1Joh 1,8). Stattdessen müssen wir unsere Sünden bekennen, um von Gott Reinigung und Vergebung zu bekommen (vgl. 1Joh 1,9).

Drittens: Die falschen Lehrer scheinen geleugnet zu haben, dass sie Christi Sühnung für Sünde brauchen. Das folgt aus ihrer Fehldeutung von Gnade als Lizenz für Unmoral und aus ihrer Leugnung der menschlichen Sündhaftigkeit. Bevor Menschen spüren, wie dringend sie einen Retter brauchen, müssen sie von ihrer Sündhaftigkeit und der Notwendigkeit von Vergebung überzeugt sein. Für solche Menschen gibt es eine gute Nachricht. Denn, so schreibt Johannes, „Jesus Christus, de[r] Gerechte … ist das Sühneopfer für unsere Sünden“ (1Joh 2,1–2), das Gottes Zorn abwendet.

Hinzu kommt: Wer wirklich verstanden hat, dass er sündig ist und einen Retter braucht, verspottet nicht Gottes Gnade als billig, indem er ein unmoralisches Leben führt. Solche Menschen sind zutiefst dankbar für das, was Gott in Christus Jesus für sie getan hat, und führen ihr Leben in demütiger Abhängigkeit von Christus und im treuen Dienst an anderen.

„Wer wirklich verstanden hat, dass er sündig ist und einen Retter braucht, verspottet nicht Gottes Gnade als billig, indem er ein unmoralisches Leben führt.“
 

Schließlich stellt Johannes deswegen mit Nachdruck fest, dass die Christlichkeit eines Menschen nicht eine Frage des bloßen Bekenntnisses ist, sondern durch sein reales Handeln unter Beweis gestellt wird: Führst du ein sündhaftes, unmoralisches Leben? Oder gehorchst du Gottes Wort (vgl. 1Joh 2,5) und liebst deinen Bruder (also deinen Mitgläubigen, vgl. 1Joh 2,10)? Kurz gesagt: „Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der muss dann auch so sein Leben führen, wie Jesus gelebt hat“ (1Joh 2,6, DBU). Dieser Test ist sowohl gnadenlos realistisch als auch hochgradig praktisch. Er demaskiert die intellektuelle Zustimmung zum Christentum ohne treuen, christlichen Gehorsam als eine hohle Farce und fordert uns heraus, über bloße Kirchenbesuche und Bibelstudium hinauszugehen und uns in der Sache Christi in unserer Welt aktiv zu engagieren. Einer der mächtigsten Beiträge von Johannes in all seinen Schriften, einschließlich seines ersten Briefes, ist seine Betonung des geistlichen Kampfes und des kosmischen Konflikts, in den wir alle verwickelt sind, ob wir es nun merken oder nicht. Entgegen der Behauptung, dass wir unser Leben bloß auf einer horizontalen, menschlichen Ebene führen, betont Johannes die wesentliche vertikale Dimension. Die Welt ist unter der Kontrolle des Teufels – des „Fürst[en] dieser Welt“ (vgl. Joh 12,31; 14,30; 16,11). Die falschen Lehrer sind mit dem Geist des Antichristen erfüllt, was in ihrer Leugnung der Tatsache sichtbar wird, dass Jesus der Messias ist (vgl. 1Joh 2,18.22; 4,2–3). Gläubige werden ermahnt, die Geister zu prüfen (vgl. 1Joh 4,1). Jesus kam, um die Werke des Teufels zu zerstören (vgl. 1Joh 3,8), und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet (vgl. 1Joh 5,4).

In diesem kosmischen Konflikt kann niemand neutral bleiben. Hast du deine Sünde bereut und dich Christus anvertraut? Wenn ja, dann bist du geistlich neu geboren worden, „aus Gott geboren“ (vgl. 1Joh 2,29; 3,9; siehe auch Joh 1,12–13; 3,3.5), und Johannes ruft dich auf so zu leben, wie Jesus gelebt hat – Sünde zu meiden und andere zu lieben. Wenn nicht, dann bist du immer noch in deinen Sünden und gehörst zu den „Kinder[n] des Teufels“, weil du von ihm beherrscht und in deinen Sünden gefangen bist (vgl. 1Joh 3,8.10). Johannes preist als Widerhall der Betonung in seinem Evangelium die Liebe als höchste Tugend im Leben als Christ. Das ist so, weil Gott selbst Liebe ist (vgl. 1Joh 4,16) und Gott in seiner Liebe seinen Sohn als Sühnopfer für die Sünden gesandt hat (vgl. 1Joh 4,10; siehe auch Joh 3,16). Indem Jesus sein Leben für andere hingibt, bietet er nicht nur Versöhnung für Sünde, sondern zeigt uns auch, wie wir andere lieben sollen (vgl. 1Joh 3,16). Daher müssen alle, die so leben wollen wie Jesus, ein Leben führen, das vor allen Dingen von Liebe gekennzeichnet ist.

„Indem Jesus sein Leben für andere hingibt, bietet er nicht nur Versöhnung für Sünde, sondern zeigt uns auch, wie wir andere lieben sollen.“
 

Würden Menschen, die dich kennen (besonders diejenigen, die dich am besten kennen), sagen, dass du ein Mann oder eine Frau der Liebe bist? Oder würden sie sagen, dass dein Lehrverständnis untadelig ist, aber du in deinen Handlungen anderen gegenüber oft hart und kalt rüberkommst? Wenn Letzteres der Fall ist, dann bitte Gott dir zu helfen, wahre, von Herzen kommende Liebe zu pflegen, die daraus resultiert, dass du eine Sache erkannt hast: Dass du selbst ein Mensch bist, den Gott innig liebt, ein Mensch, für den Christus gestorben ist, und dass dasselbe auch für andere Menschen gilt.

Für Johannes kann somit die Verpflichtung der Christen mittels zwei grundsätzlicher Dinge beschrieben werden: Sie müssen an Jesus Christus, Gottes Sohn, glauben. Und sie müssen andere lieben, ganz besonders andere Gläubige (vgl. 1Joh 3,23).

Der Hauptzweck des zweiten Johannesbriefes besteht darin, die Gläubigen anzuweisen, falschen Wanderpredigern keine Gastfreundschaft und Unterstützung zukommen zu lassen (vgl. 2Joh 9–11). Als solche, die „die Wahrheit erkannt haben“ (2Joh 1), müssen sie diese aktiv vor denen schützen, welche sie falsch darstellen, und Sorge tragen, nicht unwissentlich die Verkündigung von Irrlehre zu unterstützen. Das bedeutet, dass wir uns als Christen in der christlichen Lehre auskennen müssen. Wir müssen die Wahrheit gut genug kennen, um jegliche Abweichung von ihr zu erkennen.

In dieser Hinsicht ist die Wortwahl des Johannes in Vers 9 besonders aufschlussreich, wo er von einem Menschen spricht, der „abweicht [oder: weitergeht] und nicht in der Lehre des Christus bleibt“. Man könnte solche Menschen „Progressive“ oder „Liberale“ nennen, die sich die Freiheit nehmen, über die Lehre der Bibel hinauszugehen und sich neuartigen, innovativen Lehren zuzuwenden, die nicht von der Schrift gestützt werden. Johannes besteht zu Recht darauf, dass im Kern eines solchen Fehlens an Rechtgläubigkeit normalerweise eine mangelhafte Sicht von Christus liegt. In ähnlicher Weise leugnen Liberale aus der Vergangenheit und der Gegenwart oft die volle Göttlichkeit und/oder Menschlichkeit Christi oder die Realität seiner Auferstehung. Wenn du dir hinsichtlich des Glaubens eines Menschen unsicher bist, dann stell ihm oder ihr diese Frage: Was glaubst du über Jesus Christus? Und dann unterstütze in Übereinstimmung mit dem Zweck des zweiten Johannesbriefs nur die Menschen, Organisationen und Anliegen, welche das biblische, authentische Evangelium der Rettung verkündigen, das nur im Herrn Jesus Christus zu finden ist.

Der dritte Brief des Johannes ähnelt dem zweiten Brief. Es geht um Gastfreundschaft gegenüber Wanderpredigern (vgl. 3Joh 7–8). Zusätzlich weist Johannes eine gewisse Person namens Diotrephes scharf zurecht, „der … der Erste sein möchte“, jener „nimmt uns nicht an“ (3Joh 9). Das ist uns eine Warnung vor diktatorischen Tendenzen unter Kirchenleitern, die über jene „herrschen“, für die sie verantwortlich sind (siehe auch 1Petr 5,3), und denen ein angemessener Geist der Demut fehlt.

Auf der sicheren Grundlage des Johannesevangeliums sind seine drei Briefe somit Zeugen der Tatsache, dass die Wahrheit immer herausgefordert werden wird und dass es ständig nötig ist, dass sie von denen verteidigt wird, die an der Lehre der Apostel festhalten. Mögen wir ein Leben der Liebe führen, und mögen wir mutig zur Verteidigung der Wahrheit des Evangeliums in unserer Welt aufstehen, die ebenso wie zur Zeit des Johannes voller Götzen ist (vgl. 1Joh 5,21).